#Absicherung

Digitalisierung der Wirtschaft: Raus aus der pragmatischen Starre

von , 1.3.15

Die Welt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert und sie wird es weiterhin tun. Vor allem die Digitalisierung – insbesondere die Industrie 4.0, die die industrielle Produktion komplett verändern wird – erzeugt einen gewaltigen Umbruch. Diese Entwicklung wird kommen – so oder so.

Dabei können zwei Strukturmerkmale für die globalisierte Welt ausgemacht werden, die für heute und die nahe Zukunft kennzeichnend sind:

Erstens: Die Welt wird schneller. Zweitens: Die Welt wird komplexer und unübersichtlicher.

Die deutsche Reaktion auf diese Strukturelemente der globalisierten Welt im 21. Jahrhundert ist zurzeit eine zunehmend pragmatische und situationsbezogene Politik. Auch bei Unternehmen lässt sich ein Management auf Sicht beobachten und ein Rückgang von großen langfristigen Strategien.

Diese Reaktion gilt für die meisten OECD-Länder im Allgemeinen. Für Deutschland aber gilt sie im Besonderen. Deutschland war zwar immer schon ein strukturkonservatives Land, in dem man Veränderungen oft kritisch gegenüber stand. Zurzeit lässt sich jedoch eine neue, verstärkte Beharrungs- und Bewahrungsmentalität beobachten, die sich zugleich als Pessimismus auszeichnet, oder sich zumindest als Misstrauenshaltung gegenüber Veränderungen darstellt. Empirisch lässt sich diese These zwar nicht eindeutig belegen, aber die geringe Investitionsquote in Deutschland ist dafür ein Anzeichen.

Ein anderer Beleg für diesen neuen Pessimismus kann in einer Sehnsucht nach völliger Sicherheit gesehen werden. Die Studentenstudie 2014 der Beratungsgesellschaft EY hat genau dies gezeigt. Danach wünschen sich viele Studenten, für den Staat arbeiten zu können. Solche Studenten würden sodann aber auch keine Firma gründen. An dem Verlangen nach Sicherheit wäre nichts falsch, würde dieses nicht zeitgleich eine Lähmung von Kreativität und Risikobereitschaft bedeuten. Doch viel spricht dafür, dass Deutschland gerade eine Mentalitätsentwicklung erlebt, die zu einer weitgehenden Erstarrung wirtschaftlicher Dynamik führen kann. Das Gefühl der Unsicherheit hemmt.

Man mag nun dem entgegen sagen, dass die Stimmung in Deutschland noch nie so gut war wie zurzeit, weil auch die Erwerbstätigenzahlen noch nie so hoch waren. Auch der Ifo-Geschäftsklimaindex vom Februar zeichnet ein positives Bild – die Monate zuvor waren sogar noch besser. Deutschland geht es gut, so könnte die Schlussfolgerung lauten. Und deswegen gehe es in Deutschland gerade eher optimistisch zu, statt pessimistisch.

Auch der Ausblick für 2015 scheint rosig und könnte für die Optimismusthese sprechen. Geopolitische Unsicherheiten, Euro-Krise, die Sorge über die Entwicklungen in Griechenland und eine Deflationsangst dämpfen die Stimmung in der Wirtschaft nur wenig. Vor allem der geringe Ölpreis, die niedrigen Zinsen und der schwächelnde Euro könnten 2015 wie eine Konjunkturspritze wirken. Vor allem die Exportwirtschaft ist guter Laune.

Aber diese Momentaufnahme der Zufriedenheit täuscht. Viele Unternehmen wissen nicht mehr, wohin mit ihrem Geld, weil sie immer weniger einzuschätzen glauben, welche Investitionen sich lohnen und welche nicht. Und viele Firmen – vor allem Mittelständler – haben noch kaum eine Vorstellung davon, was Industrie 4.0 eigentlich ist oder haben Befürchtungen die neue digitale Produktion einzuführen beziehungsweise digitale Produkte zu entwickeln – etwa aufgrund fehlender IT-Sicherheit. Oder es fehlt ihnen schlicht an den richtigen Fachkräften. So bleiben die Investitionen in die digitale Modernisierung der Industrie aus. Auch die Software wird eher in den USA als in Deutschland entworfen.

In Deutschland gibt es zurzeit mehr Misstrauen als Vertrauen in die Zukunft. Man tastet sich vorsichtig voran und stellt dieses Prinzip nicht in Frage: Schließlich geht es Deutschland gut. Vor allem Unternehmen der Realwirtschaft warten erst einmal ab und horten daher ihre liquiden Mittel. Oder sie investieren lieber im Ausland, vor allem in den Schwellenländern, weil es dort höhere Renditen gibt – oder sofern sie börsennotiert sind, erhöhen sie ihre Dividenden. Darunter leiden somit die Privatinvestitionen in Deutschland. Und weil wenig investiert wird, bleibt das grundsätzliche Vertrauen der deutschen Wirtschaftsakteure in den Standort Deutschland eher gering – trotz aller positiven Momentaufnahmen. Deutschland lebt daher gerade mehr von der Substanz. Es läuft gut – ohne Zweifel – aber die Frage ist: Wie lange noch? Und hat Deutschland das wirklich auf dem Schirm?

Hier ist Skepsis angebracht.

Die deutsche Reaktion auf die heutige Schnelllebigkeit, die Unübersichtlichkeit und Komplexität besteht zurzeit in einem rigorosen Pragmatismus und in einer neuen Misstrauenshaltung. Und das ist ein großer Fehler.

Denn die „schöpferische Zerstörung“, die der Soziologe Joseph Schumpeter in seinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ konstatierte, gehört zum Kapitalismus. Die Zyklen der Innovationen werden sich in der digitalen Zukunft des Kapitalismus sogar noch beschleunigen. Langsame Fahrt, Abwarten, gar Stillstand sind somit nicht mehr nur gefährlich, sie könnten für viele Unternehmen existenzgefährdend sein. Ohne Mut wird man den Anschluss verlieren.

Das Segeln auf Sicht, welches heute als die ideale Steuerung von Politik und Unternehmen gilt, und mit dem versucht wird Risiken zu minimieren, ist daher ganz und gar selbst riskant für das Land. Investitionen brauchen Optimismus und Mut zum Risiko. Darauf beruht Wirtschaften. Das kalkulierte Risiko ist der Inbegriff von Unternehmertum.

All das, was Deutschlands Stärke bisher auszeichnete, nämlich mutiges Unternehmertum, Weitsichtigkeit, langfristige Strategien, Investitionen in Innovationen und Entwicklung, technologische Stärke, droht aber aufgrund des neuen Pessimismus und des Denkens in kurzfristigen Zyklen zu erodieren.

Gerade die Digitalisierung im Allgemeinen und die Industriewende 4.0 im Besonderen brauchen Mut und Optimismus – vor allem von Mittelständlern. Die Industriewende 4.0 ist eine Vision, die mehr als nur ein Segeln auf Sicht impliziert. Man muss die Produktion umstellen, seine Entwicklung anpassen und Geschäftsmodelle verändern. Gefordert ist hier Agilität. Und dies eben nicht nur im Sinne einer kurzfristigen Anpassungsfähigkeit, sondern vor allem als Zukunftsgewandtheit und Bereitschaft für Veränderungen mit langem Atem. Die Industriewende 4.0 wird dieses langfristige Engagement brauchen. Ohne diesen Mut werden sich alle Hoffnungen, die man auf Industrie 4.0 setzt, nicht erfüllen lassen.

Vor allem in Deutschland wird sich auch eine Kultur des Scheiterns bilden müssen, die es bislang nur in Ansätzen gibt. Die Deutschen sind zwar dafür bekannt, immer noch etwas verbessern zu wollen und zu können, aber gerade die Digitalisierung wird viele bestehende Geschäftsmodelle, Produkte und Arbeitsweisen nicht einfach nur verändern, sondern völlig neu gestalten. Dafür braucht es Offenheit, Bereitschaft, sich auf ein Scheitern bei der Entwicklung einzulassen, und Bestehendes generell immer wieder neu in Frage zu stellen. Innovations- und Changemanagement werden so zur zentralen Managementaufgabe für die digitale Zukunft der Betriebswirtschaft. Und das ist dann selbstverständlich unmittelbar entscheidend für die volkswirtschaftliche Performance Deutschlands in der nahen Zukunft.

Die Digitalisierung ist mehr als ein herkömmlicher Strukturwandel, daher braucht es für sie auch mehr als nur eine Fähigkeit der pragmatischen Anpassung. Eine reine pragmatische Anpassung ist der falsche Weg, weil er meist nie mit dem Ausgangsprodukt oder Ausgangsgeschäftsmodell bricht, sondern dieses nur verbessert. Eine kontinuierliche Verbesserung ist nicht falsch, aber zumindest die Offenheit für völlig neue Lösungen muss vorhanden sein.

Damit soll die Idee des Aufbruchs verbunden sein. Denn anders als bei Joseph Schumpeter, der die moderne Wirtschaftsordnung als Entwicklung ohne Ziel angesehen hat, und damit als eine im ständigen Umbruch, sollte die Digitalisierung als Aufbruch verstanden werden – und das obwohl sie eine Wagniskultur brauchen wird, zu der auch die Sensibilität für die „schöpferische Zerstörung“ gehören sollte.

Allerdings muss diese Wagniskultur – anders als etwa in den angelsächsischen Ländern – mit einer neuen Kultur der sozialen Absicherung einhergehen. Eine Subjektivierung der Arbeit und der sozialen Verantwortung, nach der dem Individuum alles selbst auferlegt wird und damit auch ein Scheitern meist bedeutet, in das Bodenlose zu fallen, ist der falsche Weg für die Digitalisierung. Sie wird den Sozialstaat brauchen und eine aktive Sozialpartnerschaft.

Gerade weil auch wahrscheinlich temporäre Beschäftigungsformen – vor allem in der digitalen Dienstleistungsbranche – steigen werden und neue Gründerbereitschaft benötigt werden wird, ist es wichtig, dass ein sozialstaatliches Übergangsmanagement zwischen projektbezogenen Arbeitsformen geschaffen wird, und überdies Gründungswilligen signalisiert wird, dass für sie auch sozialstaatliche Absicherung vorhanden sein wird, wenn sie scheitern. Man wird demnach auch über neue Formen der sozialen Absicherung für Selbstständige – vor allem für die neuen Solo-Selbstständigen der Kreativwirtschaft – nachdenken müssen. Sicherheit ist wichtig, sollte nur nicht innovative Kräfte hemmen, sondern ein Fundament bilden, auf Grundlage dessen man auch bereit ist, Neues zu wagen. Es geht nicht darum, nur die Chancen zu predigen und das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu ignorieren. Es geht vielmehr darum, Chancen zu nutzen und Risiken abzumildern. Gerade das muss die Haltung für den digitalen Strukturwandel sein.

Fazit: Deutsche Öffentlichkeit, Unternehmen und Bürger sollten generell nicht in einen Digitalisierungsrausch verfallen, sie müssen wenigstens wachen Blickes sein für die Veränderungen, die die digitale Neustrukturierung der Wirtschaft bedeuten wird. Aber sie sollten die Chancen auch sehen und ergreifen, die die Digitalisierung bereithält. Dafür brauchen sie aber die richtige Einstellung und ein sicheres Gefühl. Deshalb ist es nun so wichtig, sich als Gesellschaft über die Chancen und Risiken zu verständigen, eine politische Agenda zu entwickeln und sozialpartnerschaftlich daran zu arbeiten, dass der digitale Wandel in Sicherheit gelingt.

 

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