#Obama

Die Wiedergeburt der Politikberatung

von , 25.2.09


Eine freie, kritische Wissenschaft hatte im Weltbild des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush wenig Platz. Nicht an Fakten, Logik oder Vernunft wollte er sich messen lassen, sondern alleine an seinem historischen Ziel, die Welt von Terror und Fundamentalismus zu befreien.
Folglich litt der institutionalisierte Austausch zur Wissenschaft. Immer wieder wurde die Bush-Regierung dafür kritisiert, wissenschaftliche Erkenntnisse bestenfalls zu ignorieren und, im Falle der regierungsinternen Forschungseinrichtungen, gar zu manipulieren. Studien wurden umgeschrieben, gekürzt oder verfälscht, um sie der politischen Agenda des Weißen Hauses anzupassen. Die Administration selbst machte aus ihrer Verachtung für die Wissenschaft nie einen Hehl. „Leute wie euch nennen wir realitätsfixiert“, erklärte ein ranghoher Bush-Berater dem Reporter Ron Suskind von der New York Times im Jahr 2002. „Ihr glaubt, dass sich Lösungen durch die sorgfältige Analyse der Wirklichkeit ergeben. So funktioniert die Welt nicht mehr. Wir sind ein Imperium. Wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität.“
Schon als Kandidat hatte Barack Obama, ein ehemaliger College-Professor, angekündigt, das Verhältnis des Weißen Hauses zu Empirie und Wissenschaft zu korrigieren. Wohl auch deswegen verlor sein Übergangsteam nach der gewonnenen Wahl keine Zeit und besetzte die wichtigsten Ämter im wissenschaftlichen Beraterstab des Präsidenten in weniger als zwei Monaten.

Oberster wissenschaftlicher Berater und Direktor des Büros für Wissenschaft und Technologie im Weißen Haus wird der Harvard-Physiker John P. Holdren. Gemeinsam mit Harold Varmus, einem Krebsforscher und Medizin-Nobelpreisgewinner von 1989, und Eric S. Lander, Genom-Forscher am Massachusetts Institute of Technology und einer der Hauptakteure im internationalen Genomprojekt, wird Holdren zudem Obamas wissenschaftlichen Beraterstab (Council of Advisers on Science and Technology) führen. Jane Lubchenco, Meeresbiologin an der Oregon State University, wird als Leiterin der nationalen Behörde für die Ozeane und die Atmosphäre, künftig die Forschung über Klimaerwärmung verantworten. Die Tatsache, dass mit Steven Chu erstmals ein Wissenschaftler zum Energieminister ernannt wurde, passt ins Bild. Der Physiknobelpreisträger gilt als Vorreiter bei der Erforschung erneuerbarer Energien und war einer der schärfsten Kritiker der Klimapolitik George W. Bushs.

Obamas von der Wissenschaft wie auch der Öffentlichkeit begeistert aufgenommene Personalentscheidungen markieren einen Wechsel vor allem in der Klima- und Umweltpolitik und unterstreichen seine Absicht, sich aggressiv mit Amerikas Abhängigkeit vom Öl und der Erderwärmung auseinanderzusetzen. Doch vor allem zeugen sie von einem radikal veränderten Verhältnis zu Wissenschaft und Forschung, einem „neuen Respekt für die Wissenschaft“ (New York Times): „Ob es um die Bekämpfung der Erderwärmung, die Technik zum Schutz unserer Armeen und zur Begegnung von Bioterror and Massenvernichtungswaffen, medizinische Forschung oder Innovationen zur Schaffung von Arbeitsplätzen im 21. Jahrhundert geht: die Wissenschaft ist heute mehr denn je der Schlüssel zum Überleben unseres Planeten und zur Sicherheit und Wohlstand unserer Nation“, so Obama in einer Radioansprache aus Anlass der Nominierung Holdrens und seiner Kollegen Ende Dezember.

Umfang und Tragweite politischer Entscheidungen in einer Welt beschleunigten technologischen und sozialen Wandels (und exponentiell wachsenden Wissens) haben in den letzten Jahren auch in Deutschland einen erhöhten Bedarf an externer Beratung erzeugt. Beratung hat Konjunktur. Die Diskussion über die Qualität und die Legitimation von Beratung erst recht, wie unter anderem die Debatte um Qualitätsleitlinien und die Optimierung wissenschaftlicher Politikberatung (Leitlinien Politikberatung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) gezeigt hat. Denn Politikberatung ist längst zum lukrativen Geschäft geworden. So steht das Schlagwort „Beraterrepublik“ für den Einfluss von Lobbygruppen, Kommunikations-Agenturen und Unternehmensberatungen – eine unter demokratischen Gesichtspunkten nicht unproblematische Entwicklung.

In den USA und Großbritannien, wo moderne Think Tanks schon Anfang des 20. Jahrhunderts als Antwort auf neue sicherheits- und wirtschaftspolitische Herausforderungen entstanden, ist der Rückgriff auf externes Know-How traditionell selbstverständlicher Bestandteil des politi­schen Prozesses. Dort wird das politische Führungs­personal seit Jahrzehnten von unterschiedlichen, innerhalb wie außerhalb der Administration angesiedelten Beratungsinstitutionen beraten. Das Spitzenpersonal wechselt eifrig zwischen unabhängigen Denkfabriken und Jobs in der Administration hin und her – allein von der renommierten Brookings Institution sind in den letzten Wochen 12 Mitarbeiter zur Obama-Administration gewechselt. Die empirische Unterfütterung von Reformen gilt der Labour Regierung wie auch Barack Obama als zentrales Qualitätsmerkmal guter, „evidenzbasierter“ Politik. In Großbritannien wie auch in den USA (vor und nach George W. Bush) sitzt mit dem Chief Scientific Adviser ein unabhängiger Wissenschaftler am Kabinettstisch.

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Think Tanks in den USA: zentrales Qualitätsmerkmal guter, „evidenzbasierter“ Politik

Politikberatung in Deutschland krankt nicht an mangelnder Qualität – im Gegenteil: das Niveau von Forschung und Wissenschaft ist hoch, die in Parteien und Verwaltung institutionalisierte Expertise wahrscheinlich nirgendwo so groß wie hier. Trotzdem wird der Wissenschaft von Seiten der Politik häufig Beratungsunfähigkeit unterstellt. Gleichzeitig halten viele Wissenschaftler die Politik für beratungsresistent. Diese Beobachtung zeugt von Verständigungsproblemen, die durch den geringen Grad der Durchlässigkeit und Vernetzung zwischen beiden Sphären noch verschärft werden. Ein verbesserter Austausch von Ideen und Personal zwischen Wissenschaft und Politik wird zwar ständig angemahnt, aber kaum realisiert. Ein Wechsel zwischen den Ämtern in der Regierung und solchen außerhalb des politischen Prozesses und umgekehrt ist gerade im Vergleich zu den USA hierzulande schwer. Missliebige Expertisen dagegen können in der parteipolitischen Grauzone weitgehend problemlos ignoriert werden, so dass oft nur jene Expertise Eingang in die Politik findet, die gerade ins Parteiprogramm oder zur Regierungserklärung passt.

So werden Expertenkommissionen in Deutschland oftmals dann eingesetzt, wenn die Problemlösung über die traditionell-parlamentarischen Wege und Verfahren verstellt ist – oder es politisch opportun erscheint, durch das Einsetzen einer Kommission öffentliche Aufmerksamkeit für ein politisches Thema zu generieren und Entscheidungen vorzubereiten. Schnell kommt dann sowohl parteiintern als auch seitens der Öffentlichkeit der Vorwurf auf, die Politik würde mittels korporatistisch organisierter Beratungsgremien wie der Rürup-Kommission politische Entscheidungen aus dem parlamentarischen Raum in nicht demokratisch legitimierte Gremien verlagern, mithin eine „Technokratisierung der Politik durch die Hintertür“ (Peter Weingart) betreiben, die langfristig zu Legitimationsverlusten führen könnte.

Das hat auch etwas damit zu tun, dass die deutsche Beratungslandschaft anstelle unmittelbar der Regierung zugeordneter Akademien und Wissenschaftsverbände, Chefberater und eindeutig zuordnungsbarer Think Tanks vor allem Unüberschaubarkeit prägt. So gibt es Beiräte, prominent besetzte Gremien wie der so genannte „Rat der Wirtschaftsweisen“ oder der Deutsche Ethikrat, eine Vielzahl an Expertenkommissionen, kommerzielle Anbieter und einzelne „Ein-Mann-Think Tanks“ – unter diesen Bedingungen kann sich die Politik in der Regel selber aussuchen, von wem sie sich beraten lassen will, schließlich findet sich für jede Position jemand, der sie wissenschaftlich untermauert. Zumal auch Wissenschaftler nicht immun gegen die Verlockung von Macht und Einfluss sind und nicht selten über ihre Kompetenz hinaus Ratschläge geben, um wieder gefragt zu werden.

Auch gibt es hierzulande keine Institution, die nur Politikerberatung anbietet, also nicht gleichzeitig auch die Öffentlichkeit adressiert. Herauskommen dabei, etwa in den wissenschaftlichen Beiräten der Ministerien, den Enquete- und ad-hoc-Kommissionen oder dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, häufig Vorschläge mit einem mittel- bis langfristige Zeithorizont, die sich zwar vorwiegend an Entscheidungsträger richten, aber häufig als kurzfristig nicht durchsetzbar abgetan werden.
Symptomatisch für die strukturellen Defizite der Politikberatung in Deutschland ist auch der Aufbau des deutschen Kanzleramtes. Zwar verfügt das Bundeskanzleramt über Spiegelreferate, die die Tätigkeiten der Fachministerien kontrollieren, nicht aber über eine Planungsabteilung oder jedwede institutionalisierte Form wissenschaftlicher Politikberatung.

Trotzdem gilt die Analyse von Politik hierzulande nach wie vor eher als Betätigungsfeld von Politikern und ihren Beamten. Während in Großbritannien und den USA Entscheidungen regelmäßig das Ergebnis umfassender politischer Diskurse in Medien, Think Tanks und der Zivilgesellschaft sind, macht das aus der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien hervorgehende Selbstverständnis der Parteien, gesellschaftliche Interessen und politische Expertise exklusiv zu vertreten, eine pragmatische, unideologische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Ideen und Konzepten schwierig. Zeitgemäß ist dieses Selbstverständnis der deutschen Parteien allerdings nicht mehr: So wie das Konzept des „letztzuständigen Staats“ an Bedeutung verloren hat, gibt es auch die Allzuständigkeit der Parteien faktisch nicht mehr.

Auf Anbieterseite mangelt es trotz verstärkter Auseinandersetzung mit den Anforderungen wirksamer und demokratisch legitimierter Politikberatung, wie sie sich erst jüngst in den „Leitlinien Politikberatung” der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften niedergeschlagen hat, am Bewusstsein für die Notwendigkeit, Erkenntnisorientierung der Wissenschaft mit den Logiken des politischen Entscheidungsprozesses und der gesellschaftlichen Mehrheitsbildung zu verbinden. Dabei ist die Politik nur bedingt anschlussfähig an wissenschaftliches Denken. Ausschließlich rationalistische oder technokratische Lösungsvorschläge wissenschaftlicher Experten gehen an den Realitäten politischer Entscheidungen vorbei, denn Politik funktioniert nicht nur nach „Richtig/Falsch-Unterscheidungen. Politische Akteure handeln weder „wertneutral“ noch halten sie starr an den zu Beginn eines politischen Prozesses definierten Zielsetzungen fest. Eben weil Politik und Wissenschaft unterschiedlichen Rationalitäten folgen, sind fortlaufend „Übersetzungsanstrengungen“ nötig.

Politiker interessieren sich nicht für theoretisch-abstrakte Ableitungen, Hintergrunddebatten über Basisannahmen, oder methodologische Debatten. Sie benötigen sachgerechte Lösungsalternativen, prozedurale Vorschläge für deren politische Durchsetzung, Vorab-Info über mögliche Wirkungen auf gesellschaftliche Gruppen, Länder oder Regionen, über Nutzen und Kosten und die Pros und Cons einzelner Optionen. An der Herleitung dieser Zusammenhänge besteht weniger Interesse.

Dafür bedarf es systemischer Grenzstellen, an denen der wissenschaftliche Anspruch auf Wahrheit, fortwährendes Lernen und Infragestellen auf der einen Seite und der politische Wunsch nach dem Schließen von Konflikten zusammenkommen. Auf der Angebotsseite politischer Beratungsexpertise könnte dies beispielsweise geschehen, indem gezielt dienstrechtliche und finanzielle Anreize für Wissenschaftler aus Forschungseinrichtungen und Universitäten geschaffen werden, innerhalb von Planungsstäben und Grundsatzabteilungen auf begrenzte Zeit an der politischen Strategieentwicklung mitzuwirken.

Politische Beratung muss also zum Scharnier zwischen wissenschaftlichem Vordenken und politischem Handeln werden, welches den „conventional wisdom“ herausfordert und neue Konzepte und Lösungen generiert. Dafür bedarf es unabhängiger und kritischer Expertise. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat auf beiden Seiten des Atlantiks deutlich gemacht, was passieren kann, wenn sich Gruppen zu früh und zu eindeutig auf eine Denkhaltung festlegen (der Yale-Psychologe Irving Janis hat diesen Effekt als „Groupthink“ thematisiert). Schließlich gab es Warnzeichen, wie etwa Analysen des problematischen US-housing markets. Auch deswegen können sich politische Akteure weder ausschließlich durch den Verweis auf ihr eigenes Wissen noch durch die Inanspruchnahme expertenbasierter Beratung legitimieren. Beide Informationsquellen sind nur unzureichend dazu in der Lage, gesellschaftliche Wirklichkeit und die relevanter Interessen abzubilden.

Zu fragen ist also, inwieweit mit Formen einer allen Bürgern offen stehenden „Gesellschaftsberatung“ sinnvolle Gegengewichte zu wissenschaftlichem Expertenwissen (aber auch kommerziellen Interessen) geschaffen werden können. Die breite Inklusion verschiedener gesellschaftspolitischer Akteure kann dabei nicht nur etwas zur Teilhabe und somit zur Legitimation von Politik beisteuern, sondern auch einen Beitrag leisten, die von James Surowiecki thematisierte „Weisheit der Vielen“ zu erschließen und für die Politik nutzbar zu machen. Gefragt sind neue, stärker partizipatorisch ausgerichtete Verfahren politischer Beratung, die jenseits etablierter Beratungsformen neue Ideen einbringen und Wissen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen in die Politik transferieren.

Barack Obama hat auf diese veränderten Beteiligungsansprüche reagiert und ist gleichzeitig dabei, „der Wissenschaft ihren rechtmäßigen Platz“ (Obama in seiner Rede zur Amtseinführung) zurückzugeben. Er hat erkannt, dass es unabhängig erbrachtes, externes Wissen systematisch miteinzubeziehen gilt, auch wenn es den Regierenden Entscheidungen nicht abnehmen kann. Auch die deutsche Politik ist gut beraten, darüber nachzudenken, wo und wie der Beratungsdialog verbessert oder durch neue partizipative Verfahren der Wissensgenerierung ergänzt werden kann. Das Potential für eine in diesem Sinne „gut beratene Republik“ scheint bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

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