von Petra Sitte, 7.6.12
„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die zur Unterdrückung, und das Gesetz, das zur Freiheit führt.“ Dieses Zitat wird Rousseau zugeschrieben. Gemeint ist damit, dass es freie Entscheidungen nur dort gibt, wo ein Gleichgewicht der Kräfte herrscht. Entscheidungen nach dem Motto „Friss oder stirb“ sind keine freien Entscheidungen. Und man braucht Gesetze, die von vornherein verhindern, dass man zu solchen Entscheidungen gezwungen wird.
Kreativschaffende müssen ständig „Friss oder stirb“-Entscheidungen treffen. Jedes Mal, wenn sie einen Vertrag unterzeichnen. Vertragsfreiheit heißt für sie keineswegs, dass sie frei wären, über den Inhalt des Vertrags zu verhandeln. Darauf lassen die Medienkonzerne sich nämlich nicht ein. Es gibt genug andere, die Musik machen, Bücher oder Artikel schreiben, Filme drehen wollen. Die prekäre Reservearmee der Kreativschaffenden wächst und wächst.
Der Gesetzgeber schützt Verbraucher beim Vertragsschluss mit professionellen Händlern. Er schützt Mieter beim Vertragsschluss mit Vermietern. Er schützt Arbeitnehmer durch das Tarifrecht beim Abschluss von Arbeitsverträgen. Nur Künstler und Kreativschaffende schützt er nicht.
Dabei hatte bereits im Jahr 2000 eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern ein Gesetz ausgearbeitet, das diesen Missstand beheben sollte, das „Gesetz zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern“, auch „Stärkungsgesetz“ genannt. Kreativschaffende sollten in Zukunft einen Anspruch auf eine „angemessene Vergütung“ haben. Dieser sollte unverzichtbar sein und im Voraus nur an Verwertungsgesellschaften abgetreten werden können.
Mit einer bis dahin beispiellosen Kampagne versuchten die Verwerter seinerzeit, das Gesetz zu Fall zu bringen. In großen Tageszeitungen erschienen damals ganzseitige Anzeigen, in denen die Verlage mit dem Untergang des Abendlandes drohten, sollte die Politik sich nicht eines Besseren besinnen. Selten hat eine Branche so offensiv versucht, die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Diese Kampagne kostete eine Justizministerin ihren Job und die Urheber ein Gesetz, das ihnen ausnahmsweise wirklich etwas gebracht hätte. Denn das Gesetz wurde in den kommenden zwei Jahren so weichgespült, dass es am Ende nichts mehr nützte. Das ist jetzt genau zehn Jahre her. Am 1. Juli 2002 ist es in Kraft getreten.
Der gesetzliche Anspruch auf „angemessene Vergütung“ war durch einen vertraglichen ersetzt worden. Sprich, Urheber und Verwerter sollten sich einvernehmlich darüber einigen, was unter „angemessen“ zu verstehen sei. Das geht ganz fix, hatten die Verwerter der Politik versprochen.
Am nächsten Tag standen die Kreativschaffenden bei den Verlegern, den Sendeanstalten und Produktionsfirmen auf der Matte. Um über die „angemessene Vergütung“, die sie zukünftig bekommen sollten, zu verhandeln. Aber sie wurden entweder gar nicht empfangen oder ausgelacht und nach Hause geschickt.
Nur in zwei Teilbranchen sind seitdem gemeinsame Vergütungsregeln für freiberufliche Kreativschaffende in Kraft getreten: bei Romanschriftstellern und bei Tageszeitungsjournalisten. Die Romanautoren gaben sich mit den 10% zufrieden, die sie vorher auch schon bekommen hatten. Bei den Tageszeitungsjournalisten kamen nach harten Verhandlungen Beträge ab 38 Cent pro Druckzeile heraus. Das macht etwa 200 Euro für eine ganze Zeitungsseite. Der unabhängige Berufsverband Freischreiber und zahlreiche Betroffene protestierten lautstark, ohne freilich absehen zu können, dass die meisten Verlage selbst die niedrigen, ausdrücklich vereinbarten Sätze nicht zahlen würden. Nur die wenigsten halten sich auch an die Vergütungsregel, die sie unterschrieben haben.
In allen anderen Branchen kam es entweder gar nicht erst zu Verhandlungen, oder sie blieben ergebnislos. Die Literaturübersetzer zogen vor den Kadi, nachdem die Verlegervereinigungen, mit denen sie hätten verhandeln sollen, sich spontan aufgelöst hatten, um nicht in ein Schlichtungsverfahren gezwungen zu werden. 2009 gab der Bundesgerichtshof den Übersetzern recht. Die Buchverlage weigern sich größtenteils dennoch, die Urteile in ihre Hausverträge umzusetzen. In der Film- und Fernsehbranche behaupteten die Sendeanstalten, zu Verhandlungen nicht legitimiert zu sein, da nicht sie die Vertragspartner der Urheber seien, sondern die Filmproduzenten – die freilich von den Vorgaben der Sender komplett abhängig sind. In der Musikbranche hat überhaupt nie jemand verhandelt.
Kurz, die Urhebervertragsrechtsreform von 2002 ist ein einziges Fiasko. Der Gesetzgeber hat den Kreativschaffenden ein Recht an die Hand gegeben, aber keine Mittel, um dieses Recht auch durchzusetzen. Dann kam die große Koalition und mit ihr eine neue Justizministerin, die keine Lust hatte, von den großen Medien ähnlich beschimpft zu werden wie ihre Vorgängerin. Lieber ließ sie die Urheber im Regen stehen.
Auch heute fahren die großen Verlage wieder Kampagnen. Sie richten sich gegen alle Bestrebungen, das geltende Urheberrecht zu reformieren. Sie wollen verhindern, dass ein Recht geschaffen wird, das nicht Verwertungsindustrien nützt, sondern Nutzern und Urhebern. Wer als Urheber heute Texte unterschreibt, die „Mein Kopf gehört mir“ oder „Wir sind die Urheber“ verkünden, täte gut daran, sich an die Verwerterkampagne von damals zu erinnern. Sie mit den heutigen Protestnoten zu vergleichen und zu überlegen, mit wem er in der derzeitigen Debatte Bündnisse eingehen möchte.
Es ist an der Zeit, den Urhebern endlich Mittel an die Hand zu geben, um die Rechte, die sie vor zehn Jahren auf dem Papier bekommen haben, auch tatsächlich durchzusetzen. Spät ist besser als nie. Das Urhebervertragsrecht muss endlich durchsetzungsfest gestaltet werden. Zur Not auch gegen den Widerstand der Verwerter.
Petra Sitte ist direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der LINKEN in Halle (Saale). Sie ist Mitglied in der Enquete-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft” und im Unterausschuss Neue Medien des Deutschen Bundestages.