von Christoph Bieber, 1.10.10
Politik im und mit dem Internet bringt nicht nur neue Kommunikationsroutinen, sondern auch neue Akteure hervor. Franziska Heine zum Beispiel hat ihren Ruf als Gesicht der Zensursula-Kampagne durch die Einbringung der E-Petition erhalten, aber auch durch ihre zahlreichen Auftritte in den alten Medien.
Eine solche Personalisierung ist ein weit verbreitetes Phänomen moderner Politik und bietet Chancen wie Risiken zugleich. Für die Vergrößerung der öffentlichen Sichtbarkeit eines Themas sind Einzelpersonen wichtige Aufmerksamkeitsverstärker, im Fall politischer Kampagnen werden jedoch darüber oft die zahlreichen Aktivisten aus den Tiefen der Netzwerke übersehen.
Die Fokussierung auf Köpfe statt auf Themen ist zudem – zumindest in einer fernsehbasierten Mediendemokratie wie der Bundesrepublik – der beherrschende Operationsmodus medial vermittelter Politik geworden. Längst setzen Politiker und Parteien die Technik der Personalisierung als Kommunikations- und Vereinfachungsstrategie ein, und selbst die Gestaltung von Regierungspolitik lebt inzwischen von diesem Stilmittel. Die Namen Philipp Rösler, Karl-Theodor zu Guttenberg oder Kristina Schröder verweisen weniger auf Inhalte oder Themen der jeweiligen Ressorts als auf die Images eines neuen Typs von Politik-Machern.
Am anderen Ende des Politikbetriebs hat längst auch die Piratenpartei mit den Notwendigkeiten der Personalisierung Bekanntschaft gemacht, denn allein schon um die schnell entstandene Organisation am Leben zu erhalten, sind rudimentäre Hierarchien und Führungsstrukturen notwendig. Mit den bisweilen radikal basisdemokratischen Ansprüchen dieser neuen Netzwerkpartei lässt sich die formale Hervorhebung einiger weniger Köpfe allerdings kaum vereinbaren – dennoch scheint eine personale Konzentration unumgänglich, um im Politikbetrieb überhaupt kompatibel zu erscheinen.
Darüber hinaus verkürzt die Fokussierung auf Einzelpersonen den Blick auf andere Triebkräfte der politischen Online-Aktivitäten. Dass hinter den wenigen Leitfiguren eine breite, lebhafte und erstaunlich ausdifferenzierte Szene entstanden ist, die eine kulturelle Fundierung der Netzpolitik darstellt, ist den meisten Beobachtern verborgen geblieben.
Vielleicht können einige Blogger, Programmierer und Online-Aktivisten, die sich netzpolitischen Fragen widmen, tatsächlich als Vertreter einer »digitalen Intelligenz« gelten, von der seit Ende 2009 immer häufiger die Rede ist. Personen wie Jens Seipenbusch, Bundesvorsitzender der Piratenpartei, Markus Beckedahl, Kopf hinter Deutschlands einflussreichstem Weblog netzpolitik.org, oder auch Sascha Lobo, digitaler Platzhirsch, öffentlicher Einmischer und SPD-Berater, wirken als Vorboten einer neuen politischen Klasse. Auch Frank Rieger und Constanze Kurz verleihen nicht nur dem »Chaos Computer Club« zwei Gesichter, sondern greifen in die eminent politischen Debatten um Datenschutz, Informationssicherheit oder die Einführung von Wahlcomputern ein. Der Bielefelder Medienkünstler und -aktivist padeluun macht sich seit Jahren um den öffentlichen Kenntnisstand zu Überwachung und Datenmissbrauch verdient.
Diese Avantgarde wird für die gesellschaftlichen Entwicklungen im Zeichen der Digitalisierung allerdings dringend benötigt, denn sie nutzt im Zusammenspiel mit der etablierten Medienöffentlichkeit schon vorhandene Foren, erfindet aber auch neue Formate politischer Kommunikation und Kollaboration. Perspektivisch wichtiger scheint jedoch ein neuer Mainstream, der sich eher unaufgeregt und weniger sichtbar mit den gesellschaftlichen Implikationen der digitalen Kultur auseinandersetzt und etwas darstellt, was man früher vielleicht ein soziales Milieu genannt hätte.
netzpolitik.org, @SaschaLobo, CCC
Das Internet als »natürlicher« Lebensraum einer neuen politischen Klasse erscheint als Fluch und Segen zugleich: Die produktive Aneignung dieses Kommunikationsraums und die Verknüpfung mit den Routinen des Politikbetriebs bietet ganz offensichtlich viele Möglichkeiten für Quereinsteiger, davon handeln beinahe alle Online-Erfolgsgeschichten des Superwahljahres 2009. Dies funktioniert sogar auf einer individuellen Ebene, wenn sich Einzelpersonen als relevante Sprecher in einer sich neu formierenden politischen Öffentlichkeit positionieren können.
Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Markus Beckedahl, dessen seit 2004 aktiver Weblog netzpolitik.org inzwischen zu einer Art Leitmedium geworden ist. Veröffentlicht werden dort Nachrichten, Artikel, manchmal auch Kurzstudien zu aktuellen Themen und Ereignissen im neuen Politikfeld »Digitale Bürgerrechte«. Außerdem fungiert das Blog als Kampagnen- und Organisationsplattform für Veranstaltungen, die sich mit relevanten Fragen zur politischen Nutzung von Computern und Netzwerken befassen.
Das Angebot ist eine feste Größe in der Spitzengruppe der durch den französischen Informationsdienstleister Wikio erstellten europäischen Blog-Rangliste. Mit hoher Reichweite und großem Ansehen in internationalen Fachkreisen hat sich das Weblog inzwischen eine Art informelle Meinungsführerschaft zu netzpolitischen Themen erarbeitet. Beckedahl ist ein gefragter Ansprechpartner und Experte, netzpolitik.org wird längst in den alten Medien wahrgenommen und zitiert – von der FAZ genauso wie vom Spiegel, der Tagesschau oder der New York Times.
Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte sich aus diesem Angebot vielleicht eine klassische Printpublikation entwickelt, jedoch wäre dies heute eine eher unzeitgemäße Institutionalisierung eines Öffentlichkeitsakteurs. Bei Vorträgen bezeichnet Beckedahl sein Projekt gern als eine Mischung aus taz und Greenpeace, um das Gemenge aus publizistischem Angebot, Interessenvertretung und Nicht-Regierungsorganisation zu unterstreichen. Wichtige Synergieeffekte bringt auch die jährlich in Berlin stattfindende Veranstaltung »re:publica«, die vor allem von den Printmedien kritisch als »Leistungsschau der deutschsprachigen Blogosphäre« eingeschätzt wird. Für Beckedahl ist die mehrtägige Konferenz, zu der stets auch hochkarätige Gäste aus dem Ausland anreisen, eine Mischung aus Agenda-Setting, netzpolitischer Plattform, Szenetreff und finanzieller Grundsicherung seines Weblogs.
Ebenso in Berlin residiert mit Sascha Lobo ein weiterer Öffentlichkeitsakteur, der wie Markus Beckedahl nicht mehr aus der Debatte um die Zukunft des Internet als offener Kommunikationsraum auszuschließen ist. Lobo agiert als digitaler Selfmademan, inszeniert sich massiv als Online-Marke, twittert mit dem Rest des Landes um die Wette und schreibt in schöner Regelmäßigkeit Bücher zu Themen des digitalen Lebensstils. Er führt ein weitgehend öffentliches Leben im Netz und »nennt es Arbeit« – im Anklang an den Untertitel eines Buches über die »Digitale Bohème«, für das er gemeinsam mit dem Publizisten Holm Friebe verantwortlich zeichnet.
Lobos hohe Dikurslautstärke und bisweilen rücksichtslose Selbstvermarktung haben ihm gerade aus der sogenannten Internet-Community reichlich Kritik eingetragen. Doch funktioniert das System Lobo nicht durch einen Ausverkauf an die alte und neue Economy, sondern eher in der konsequenten Besetzung öffentlicher Sprecherrollen. Hierzu nutzt Lobo ein fein gesponnenes Netzwerk aus Online-Präsenzen, in denen seine private Homepage und vor allem eines der reichweitenstärksten Twitter-Profile in Deutschland als zentrale Ankerpunkte fungieren. Lobo macht aus seiner ideologischen Vorliebe für die Sozialdemokratie keinen Hehl und unterstützt die Partei als Mitglied in deren »Gesprächskreis Netzpolitik«, als lautstarker Kritiker der Piraten oder als parteinaher Online-Intellektueller nach Kräften.
Ein weiterer wichtiger Akteur der netzpolitischen Landschaft ist in Berlin beheimatet, wenngleich der »Chaos Computer Club« (CCC) auch in anderen Städten Deutschlands vertreten ist. Das politische Zentrum dieses bereits 1981 in Hamburg gegründeten Vereins liegt allerdings in der Hauptstadt, dort arbeitet auch die Informatikerin Constanze Kurz, eine wichtige Person für die vom CCC maßgeblich mitbestimmte Debatte um den Einsatz von Wahlcomputern. Auch dieser Bereich ist ein elementarer Bestandteil des neuen Politikfeldes.
Während sich die mediale Aufmerksamkeit beim Thema »Digitalisierung von Politik« häufig auf die Entwicklungen im Internet konzentriert, spielen bei immer mehr politischen Prozessen Computer eine zentrale Rolle.
Die Organisation von Wahlen mithilfe rechnergesteuerter Wahlgeräte ist ein solches Einsatzgebiet, und in den letzten Jahren hat gerade die massive Kritik des »Chaos Computer Clubs« erheblichen Einfluss auf die Modernisierung der Stimmabgabe in Deutschland genommen. Hauptansatzpunkte für die Forderung nach einem Verbot von Wahlmaschinen sind Sicherheitslücken, Manipulationsanfälligkeit und fehlende Transparenz der Stimmabgabe an Wahlcomputern, die anstelle einer herkömmlichen Wahlurne eingesetzt werden. Mittels eines Tastenfeldes, auf dem der Stimmzettel nachgebildet ist, gibt der Wähler seine Stimme ab, danach erfolgt die automatisierte Auszählung und Speicherung des Wahlergebnisses, das nach Schließung der Wahllokale vom Wahlleiter ausgelesen wird.
Probleme bei der Verwendung solcher Wahlcomputer hatte der CCC im Verbund mit der niederländischen Gruppierung »Wir vertrauen Wahlcomputern nicht« aufgezeigt. Dabei wurde die Konvertierung eines rechnergesteuerten Wahlgerätes in einen Schachcomputer vorgeführt. Mithilfe eines Videos, das den nur wenige Minuten dauernden Austausch von Speicherbausteinen zeigte, wurden zahlreiche Schwachstellen der Geräte-Konstruktion offengelegt. Durch solche praktischen Demonstrationen der Manipulationsanfälligkeit schwand das Vertrauen staatlicher Wahlorganisatoren in die von kommerziellen Dienstleistern bereitgestellte Technologie, während Mitglieder des CCC zu gefragten Experten in politischen Planungsprozessen wurden.
Im Fall der Hamburger Bürgerschaftswahl im Jahr 2008 wurde nicht zuletzt durch die Intervention des CCC der Einsatz eines digitalen Wahlstifts verhindert, obwohl der Senat bereits mehrere Millionen Euro in das Wahlsystem investiert hatte und die nachträgliche Umrüstung auf Papierstimmzettel und manuelle Auszählungen ebenfalls in Millionenhöhe zu Buche schlug. Auch das Bundesverfassungsgericht greift immer wieder auf das Know-How der Computer-Aktivisten zurück, wenn es um die Beurteilung gesellschaftlich relevanter Fragen beim Einsatz von Computertechnologie geht.
Akteure wie netzpolitik.org, @saschalobo oder der »Chaos Computer Club« stellen die Spitze eines Eisberges dar. Dieses Trio aus Publikationsplattform mit angeschlossenem Kampagnennetzwerk, politisch sensibilisiertem Online-Unternehmer und kollektivem Kontrollorgan mit technologischer Expertise liefert erste Hinweise auf die Beschaffenheit politischer Akteure innerhalb einer vernetzten Zivilgesellschaft.
Je nach Fähigkeiten und Interessenlage dominiert die inhaltliche Auseinandersetzung mit politischen Themen, die Entwicklung neuer Modelle zur Kooperation mit etablierten politischen Akteuren oder die Auseinandersetzung, Prüfung und Kritik der Hardware-Seite im technologie-getriebenen politischen Modernisierungsprozess. In all diesen Segmenten werden sich in Zukunft weitere Akteure formieren, die sich mit dem Kontext einer neuartigen Medialisierung von Politik beschäftigen und dabei den etablierten politischen Kräften auf der einen und den Vertretern herkömmlicher Massenmedien auf der anderen Seite voraus sind.
Das Resultat wird eine neue politische Öffentlichkeit sein, die sich nicht auf die Beobachtung und Begleitung politischer Prozesse beschränken wird, sondern aufgrund einer der digitalen, interaktiven Kommunikationsumgebung inhärenten »Architektur der Partizipation« (Tim O’Reilly) auch aktiv in deren Gestaltung eingreift.
Außerdem zum Thema auf Carta:
- Christoph Bieber: Politik und Internet seit 2008: “politik digital. Online zum Wähler” als Buch (mit dem ersten Ausschnitt Parteien reloaded? Die Entwicklung in den USA)
- Stefan Mey: Beckedahl: „Netzpolitik.org ist ein Open-Source-Geschäftsmodell.“
Dies ist ein Ausschnitt aus Christoph Biebers neuen Buch “politik digital. Online zum Wähler”, es erscheint am heutigen Freitag, den 01.10.2010 im blumenkamp verlag und kann dort für 15 € bestellt werden.