von André Grzeszyk, 26.6.13
Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist Themenschwerpunkt bei Carta, dazu veröffentlichen wir eine Serie von Beiträgen. Es geht vor allem um seine Ausgestaltung angesichts der veränderten technologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
In diesem Kontext war Carta auch Kooperationspartner einer Podiumsdiskussion am 7. Juni 2013 beim Medienforum NRW, gemeinsam mit dem Deutschlandradio.
Politikberichterstattung und Dokumentationen werden herbeizitiert, um die Gebührenfinanzierung zu rechtfertigen und den Mehrwert öffentlich-rechtlichen Fernsehens gegenüber dem Markt herauszustellen. Dieser Ernsthaftigkeit steht das Stiefkind Unterhaltung gegenüber, das angesichts des heutigen Politikzirkus jedoch wichtiger denn je wäre.
Historisch zeigt sich die Bedeutung der Unterhaltung, d.h. des fiktionalen Erzählens, für die gesellschaftliche Debatte an der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen. Die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ sorgte 1979 für Aufruhr in Deutschland und rückte die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal ins Licht einer breiten Öffentlichkeit. Das Medienereignis war für die rechtsradikalen Kräfte im Land so bedrohlich, das Peter Naumann, später NPD-Funktionär, zwei Sendemasten sprengte, um die Ausstrahlung der einführenden Dokumentation „Endlösung“ zu verhindern.
„Eine amerikanische Fernsehserie von trivialer Machart schaffte, was Hunderten von Büchern, Theaterstücken, Filmen und TV-Sendungen, Tausenden von Dokumenten und allen KZ-Prozessen in drei Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte nicht gelungen war: die Deutschen über die in ihrem Namen begangenen Verbrechen an den Juden so ins Bild zu setzen, dass Millionen erschüttert wurden“, wie Der Spiegel damals schrieb. Aufklärung und Emotion gingen Hand in Hand, die Unterhaltung schaffte, was die Information bis dahin nicht vermochte: Eine deutsche Nachkriegsidentität über das kollektive Erinnern zu stiften.
Doch man muss gar nicht so weit in die Geschichte gehen, um zu wissen, dass sich die Politik und ihre Bewegungen in hohem Maße aus der Fiktion speisen: James Camerons „Avatar“ (2009) – ein reines Fantasy-Werk, das auf einem fernen Planeten spielt – sorgte 2010 für Unruhe in China. Aus Angst vor sozialen Aufständen gegen die willkürlichen Landnahmen des Staates wurde der Film von der Regierung verboten. Das Volk könne sich an sein eigenes Schicksal erinnert fühlen.
Diese Vermählungen zwischen Fiktion und sozialer Wirklichkeit sind allgegenwärtig. Die Occupy-Bewegung gründet sich global visuell emblematisch auf die Guy-Fawkes-Maske aus dem Comic „V – for Vendetta“, der 2006 massenwirksam verfilmt wurde und eine nachhaltige politische Erzählung etablierte: Den Aufstand des/der anonymen Einzelnen gegen ein totalitäres Regime.
An diesen Beispielen lässt sich eine grundlegende Erkenntnis formulieren: Unterhaltung kann in hohem Maße politisch sein. Dies gilt ganz besonders für das fiktionale Erzählen, aber auch für so vermeintlich geistlose Fast-Food-Ware wie „Wetten, dass..?“. Die große Samstagabendshow impliziert ja ihrerseits einen ganzen Gesellschaftsaufbau: Der Fernseher als Lagerfeuer der Nation, vor dem die Gesellschaft – jeder für sich oder mit der Familie – im Wohnzimmer zusammenkommt. Dort schwingt noch immer der Traum einer „formierten Gesellschaft“ mit, wie es die Soziologen in den 1960er-Jahren ausdrückten.
Diese paradoxe Grundstruktur jeglichen Programminhalts liegt medientheoretisch im Bild begründet, das nach wie vor das Leitmedium zeitgenössischer Vergemeinschaftung ist – auf welchem Screen es ausgespielt wird, ist nachrangig. Bilder sind überall, und dementsprechend wird sich die Gesellschaft auch über Bilder definieren und organisieren. Und das Bild kennt keine Wahrheit außer seiner eigenen, es wird immer zwischen Ästhetik und Referenz liegen, auf die ‚Wirklichkeit’ verweisen, diese Wirklichkeit aber immer auch der eigenen Binnenlogik unterordnen. Daher seine Wirkmächtigkeit, seine Konstruktionskraft.
In semantischer Perspektive gesellt sich zur Politik der Fiktion eine zweite Entwicklung: die fortlaufende Fiktionalisierung der Politik, von jeher das Lieblingskind des Programmbereiches „Information“.
„Das Kompetenzteam der SPD ist ein hervorragendes Beispiel für die Schaffung von Ereignissen, die so wirken, als wären sie Realität“, schreibt Kurt Kister über die Querelen rund um das Wahlkampfteam der SPD. Im Folgenden spricht der Autor von der „Käseglocke“, dem hermetisch abgeschlossenen Politikgebaren in der deutschen Hauptstadt. Wie die audiovisuellen Bilder, die wir allabendlich auf dem Bildschirm sehen – ob Nachrichtenberichterstattung oder politischer TV-Talk– bezieht sie sich auf nichts anderes als die Berliner Politgesellschaft des Spektakels selbst, ein ununterbrochenes, selbstreferentielles Rauschen. „Reden“ bedeutet die endlose Wiederholung eingängiger Floskeln in Formen der medienoptimierten Politkommunikation. Der homo politicus etabliert sich wie jede andere fiktionale Figur: als Bild oder Text; der Mehrwert an „Realität“ wird behauptet, kann aber nicht eingelöst werden. Impulse für eine breite gesellschaftliche Diskussion sind aus dieser Richtung kaum mehr zu erwarten, denn „Politik“ bezieht sich im Fernsehen auf keinen realen Sachverhalt oder auf politisches Handeln, sondern auf Strategien der Beschaffung von Wählergunst. Die Inszenierung scheint über die Lust an tatsächlichen Veränderungen triumphiert zu haben.
Bilder und Erzählungen sind die basale Grundlage unserer Wahrnehmung, weil sie den Horizont des Sicht- und des Sagbaren bilden. Wer wir als Gesellschaft sind, was wir über uns und die anderen denken, regelt sich in hohem Maße über das kollektive Imaginäre. Dabei müssen die gesendeten Bilder in irgendeiner Form mit Erlebens- und Erfahrungsweisen der sozialen Welt korrelieren, zumindest innerhalb von Medienanstalten, die einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen haben. Die Berliner Gesellschaft bezieht sich auf sich selbst, während fiktionale Formate auf das ausgreifen, was als gemeinsamer Sinnhorizont einer globalen Gesellschaft beschreibbar ist.
Umso mehr verwundert es, dass an einem durchschnittlichen Spielfilmabend in den öffentlich-rechtlichen Hauptsendern meist nur die Wahl zwischen irischer Steilküste (Pilcher) und Alpen (alles andere) bleibt. Ältere, zumeist adelige Schöngeister finden den Weg zurück ins Leben und die Liebe. Das sind die Narrative, die ARD und ZDF zur Primetime von Deutschland und dem Zusammenleben Einzelner im 21. Jahrhundert entwerfen. Wen wundert es da, wenn nur noch die Über-60-Jährigen einschalten? Die Feigenblatttaktik besagt natürlich, dass der junge deutsche Spielfilm gefördert wird – dann allerdings, wie Das kleine Fernsehspiel, um 0.30 Uhr am Montagabend versendet wird.
Die Abwanderung der so begehrten Zielgruppen (oder der jugendlichen Kaufkraft) zu den privaten Sendern wird sich wohl nicht allein mit der außergewöhnlichen Performance von Peter Kloeppel als News-Anchorman erklären lassen, sondern eher durch den Einkauf amerikanischer Spielfilme und der neuen heiligen Kuh sowohl professioneller als auch akademischer Lust: den Serien.
Gefragt sind Inhalte, gefragt sind Formen. Wagnis darf nicht Fremdwort bleiben. Heute ist Sexualität auf den öffentlich-rechtlichen Sendern zumeist eine redundante Folge ineinander greifender Hände, jegliche Körperlichkeit wird ins Off gerückt. Für eine Jugend, die mit Internet, „True Blood“ (seit 2008) und Youporn aufgewachsen ist, müssen diese hilflosen Versuche, mit Geschlechtlichkeit umzugehen, archaisch und lächerlich wirken. Die Lichtgestalt zeitgenössischer Fernsehinnovation, der Privatsender HBO, gewann schon 2003 mit Gus Van Sants „Elephant“ (2003) die Goldene Palme in Cannes – ein Film, der bis heute stilbildend für ganze Subströmungen des Kinofilms wirkt. Impulse aus dem Fernsehen sind denkbar und machbar.
Und ARD und ZDF sind durch die sichere Finanzierung prädestiniert dazu, diese Innovationen zu schaffen: Denn Qualität braucht, nicht zuletzt in der Unterhaltung, eine Infrastruktur, einen Rahmen, in dem sie sich heute entfalten kann, um in ein paar Jahren Erfolge zu liefern. Die Amerikaner haben ihre Tradition des seriellen Erzählens – von „Hill Street Blues“ (1981-87) über „Twin Peaks“ (1990-91) bis hin zu „Game of Thrones“ (seit 2011).
In Deutschland werden mittelfristig nur die öffentlich-rechtlichen Anstalten genug Geld haben, um zu experimentieren, zu scheitern, neu zu versuchen – kurz gesagt: an einer Nachhaltigkeit zu arbeiten. Das meint auch die Schaffung eines Publikums (neudeutsch: Community Building), das sich auf Experimente einlässt. Das Problem ist schon lange nicht mehr, das eine oder andere Projekt zu realisieren (sprich: zu finanzieren), sondern benötigt wird ein kompletter Strukturwandel, der sich neue Ziele setzt und der Angst vor dem Misserfolg eine treibende Kraft der Latenz, in der sich die Dinge produktions- wie rezeptionsästhetisch entwickeln können, entgegensetzt. Christopher Keil hat die Atmosphäre in den Sendern auf den Punkt gebracht: „Künstlerische Ambition wurde durch Angst ersetzt, der Angst [sic], am Markt zu versagen.“
Man verlässt sich auf Erprobtes, sprich, 22 neue Tatort-Teams und einen weiteren Nazi-Stasi-Mehrteiler, der nur noch der Selbstbeweihräucherung dient. Die vom Rundfunkstaatsvertrag festgeschriebene und geforderte Innovation bleibt bis auf Weiteres eine Leerstelle, und man kann nur hoffen, dass uns wiederum die Amerikaner zu Hilfe eilen werden, um das Wort „Deutschland“ im 21. Jahrhundert mit Sinn zu füllen.
André Grzeszyk ist Mitglied im Projekt Grundversorgung 2.0 an der Leuphana Universität. Das Forschungsprojekt untersucht, wie sich das Angebot von audiovisueller Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung im digitalen Zeitalter wandelt und wird in enger Zusammenarbeit mit den anderen Laboren und Projekten im Zentrum für Digitale Kulturen (CDC) durchgeführt.
In der Carta-Serie zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk bereits erschienen:
- Jürgen Kalwa: Das Volk will mehr Volksempfänger
- Christian Potschka: Alle Macht den Rundfunkräten
- Lorenz Lorenz-Meyer: Jagen, Sammeln, Pflegen
- Hermann Rotermund: Second Screen first