von Christoph Bieber, 25.1.11
Wenn vom Verhältnis zwischen Politik und neuen Medien die Rede ist, ist das Stichwort von der „Medialisierung von Politik“ nicht weit. Was heißt das? Gemeint ist eine Vielzahl von Medienwirkungen, die sich nicht auf den einzelnen Zeitungsleser, Fernsehzuschauer oder Online-Nutzer beziehen, sondern auf die allmähliche Veränderung politischer Prozesse, Institutionen und Systeme. Gingen die wichtigsten Effekte dabei lange auf das Konto der etablierten Massenmedien, so macht sich seit gut einem Jahrzehnt das Internet bemerkbar.
Dank World Wide Web ist die Verbreitung von Texten, Bildern und Videos längst nicht mehr den großen Verlags- und Medienhäusern vorbehalten. Immer häufiger mischen sich Bürger, Initiativen und Interessengruppen in die öffentliche politische Debatte ein. Lassen sich über das Internet auch solche Menschen für die Teilhabe am politischen Prozess gewinnen, die zuletzt politikabstinent waren? Besonders in den Fokus geraten junge Menschen, die Henry Milner in seinem Buch „The Internet Generation: Engaged Citizens or Political Dropouts“ beobachtet hat. Milner nimmt bei seiner sorgfältigen Analyse einen skeptischen Blickwinkel ein: Wächst gerade eine Gruppe „aktiver Netzbürger“ heran – oder sind die Onliner doch eher „politische Aussteiger“?
In der Mehrzahl ordnet Milner junge Menschen unter 30 Jahren in die zweite Kategorie ein. Wesentlicher Grund für die pessimistische Haltung des Autors ist die große Bedeutung des Themas „politisches Wissen“ in seinem Politikkonzept – und dessen auf breiter Front zu beobachtender Rückgang. Milner vergleicht den politischen Kenntnisstand in den USA, Großbritannien und Europa miteinander und setzt ihn in Bezug zur Entwicklung politischer Beteiligung. Seine Ergebnisse verweisen auf einen weltweiten Rückgang politischer Partizipation – am deutlichsten sichtbar anhand derEntwicklung der Wahlbeteiligung.
Milners Fazit: Die Vermittlung von Informationen im Sinne einer politischen Bildung wird durch die Auswirkungen der Medialisierung erschwert, und darunter leidet die Entwicklung hin zum „engagierten Bürger“. Ein Zustand, den der Autor nicht ausschließlich dem Internet ankreidet; doch erleichterten dessen Spezifika dem Publikum den Konsum von seichter Unterhaltung: „Mit der Fernbedienung in der Hand kann man ein langweiliges Programm – vielleicht eine Nachrichtensendung – schnell einmal wegdrücken; mit dem Internet aber hat man die permanente Option zur Auswahl weniger langweiliger Medieninhalte.“ Zwar beschreibt Milner die Internet-Generation nicht ausschließlich als passives Unterhaltungspublikum, er berücksichtigt auch die Ansätze einer aktiven, auf Aneignung angelegten Nutzungskultur. Allerdings vermutet er die partizipationsorientierten „Onliner“ in der Minderzahl.
Die Generation Internet macht mobil
Als Beispiel für gelungene Mobilisierung gerade von jüngeren Wählern verweist Milner auf die Obama-Kampagne, unterstellt hier jedoch vor allem einen erheblichen Star-Bonus: „Es könnte sein, dass das Obama-Phänomen von 2008 etwas Einzigartiges war, das eine ganz banale Frage aufwirft: Für wie viele junge Unterstützer war Obama einfach nur der Promi des Augenblicks?“ Dass es so einfach wohl nicht ist, zeigt ein Blick auf die Ereignisse rund um die Zwischenwahlen vom November 2010: Seit dem Wahlsieg Obamas hat das konservative Spektrum erheblich aufgeholt und die Mehrheitsverhältnisse im Netz auf den Kopf gestellt. Einen erheblichen Anteil daran hatten die „Tea Party Patriots“, ein lose verknüpftes Netzwerk, das sich als „Soziale Bewegungs-Community“ beschreiben lässt.
Dieser Begriff ist einer der Kernpunkte in Victoria Cartys Buch „Wired and Mobilizing“ – und ließe sich in Konkurrenz zu Milner ebenfalls als Charaktermerkmal der Generation Internet verstehen. Im Rückgriff auf theoretische Modelle der Bewegungsforschung unternimmt die Soziologin den Versuch zu klären, wie und warum bei politischen Protesten in den vergangenen Jahren das Internet genutzt wurde. Carty schlägt dabei einen Bogen von der gegen den Sportartikel-Hersteller Nike gerichteten Kampagne „Students against Sweatshops“ aus dem Jahr 1998 bis zu Obamas erfolgreicher Mobilisierungskampagne 2008.
Die bei aller inhaltlichen Fülle knapp gehaltene Untersuchung eignet sich als anspruchsvolle Begleitlektüre zu den Ereignissen um die Protestwelle gegen „Stuttgart 21“ oder die Renaissance der jüngsten CastorProteste. Natürlich nutzen auch die etablierten Akteure das Internet als Organisations- und Kommunikationsraum; „Medialisierung von oben“ nennt die Autorin das. Als typisches Beispiel dafür macht sie die Obama-Kampagne aus, die nur vordergründig ein wenig hierarchischer und flach organisierter Mitmach-Wahlkampf gewesen sei: „Trotz der Bemühungen von Graswurzelaktivisten bleiben die klassischen politischen Eliten im Zentrum des politischen Prozesses, dabei nutzen sie die computergestützte Kommunikation zum Bürgermanagement. Das heißt, dass Politikmanager digitale Medien nicht nur dazu nutzen, sich an der öffentlichen Meinung zu orientieren, sondern auch, um deren Entstehung zu beeinflussen.“
Kollektiver Handlungsraum
Eine großflächige Bestandsaufnahme der neuen politischen Landschaft im Netz unternehmen die Autoren des von Andrew Chadwick und Philip N. Howard herausgegebenen „Handbook of Internet Politics“. Neben OnlineWahlkampf, E-Government oder digitaler Staatlichkeit tauchen mehrfach die Themen politisches Engagement und Cyber-Aktivismus auf. So entwickeln Bruce Bimber, Cynthia Stohl und Andrew J. Flanagin das Konzept eines kollektiven Handlungsraums und widmen sich so der vielleicht spannendsten Frage, wenn es um Medialisierung von Politik geht.
Dieser Beteiligungsraum entfaltet sich entlang der Dimensionen „Interaktion“ (durch mehr oder weniger persönliche Kommunikation) und „Engagement“ (innerhalb klassischer Institutionen oder als projektbezogene Aktivität). Die so entstehende Matrix erlaubt den Autoren nicht nur die Einordnung innovativer politischer Aktivitäten, die von der Nutzung des Internet geprägt sind, sondern auch eine historische Abbildung politischer Organisationsformen. Online-Kommunikation führt nach Ansicht der Autoren zur Veränderung sämtlicher Aspekte politischer Organisation: „Die größte Leistung des Internet als politisches Medium ist seine große Flexibilität, denn es kann sowohl Interaktionen wie auch Engagement beeinflussen.“
Diese Unbestimmtheit hat nicht nur den Anstieg „unpersönlicher“,medial vermittelter Kommunikation zur Folge, sondern kann auch zur Verstärkung von Bindungen bereits miteinander bekannter Onliner führen. „Das Internet hilft großen, anonymen Organisationen bei der Suche nach neuen Mitgliedern und der Mobilisierung für bestimmte Ziele. Es hilft aber auch kleinen Gruppen von Bürgern mit gemeinsamen Interessen, die sich zusammenschließen und gemeinsam handeln können.“ Obwohl als theoretischer Beitrag angelegt, scheinen hier zwei Themen auf, die in der deutschen Diskussion um Politik im Internet relevant sind: der Umgang der Mitgliederparteien mit der Vielfalt neuer Unterstützertypen wie „Freunden“, „Fans“ und „Followern“ und die Nutzung des Internet zur Organisation und Umsetzung von Protestorganisationen, wie etwa den Twitter- und Facebook-Aktivitäten im Umfeld von „Stuttgart 21“.
Über die Zusammenhänge zwischen Identität, Technologie und Narrativen diskutieren W. Lance Bennett und Amoshaun Toft in ihrem Aufsatz „Transnational activism and social networks“. Zentral für solche Formen politischer Kommunikation sei das Verhältnis unterschiedlicher Bindungstypen („strong ties“ und „weak ties“) innerhalb der Netzwerke. Bennett und Toft liefern damit überaus nützliches Hintergrundmaterial zu der gerade in den USA geführten Debatte um Authentizität und Qualität politischer Proteste. Eine Debatte, bei der die Befürworter der zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung dominierenden „starken Bindungen“ den neuen Formaten „schwach gebundener“ OnlineKommunikation via Facebook oder Twitter eine politische Wirkung absprechen.
Innerhalb der neuen, internet-basierten oder auch nur internetnutzenden politischen Organisationen übernimmt nach Bennett und Toft allerdings bereits die Bindungsstruktur wichtige Aufgaben: „Der Kommunikationsprozess wird selbst zur Organisationsstruktur, wenn er die Technologie untrennbar mit dem sozialen Netzwerk selbst verkoppelt.“ Anschaulich illustriert wurde diese Feststellung am Wochenende des Castor-Transports ins Wendland – der harte Kern der Protestierenden operierte vor Ort in der Nähe des Endlagers Gorleben, doch erhielt er logistische und kommunikative Unterstützung über das Internet. Viele „Onliner“ beteiligten sich durch spontane Mitteilungen via Facebook und Twitter an der Berichterstattung über die Route des CastorZuges und wurden auf diese Weise zeitweilig Teil einer „virtuellen Protestgemeinschaft“.
Bennetts und Tofts Sichtweise markiert einen qualitativen Sprung in der Debatte um politische Online-Beteiligung: Das Netzwerk wird als Plattform zum integralen Bestandteil der Organisation und liefert einen Grund dafür, warum das Handeln von Protestierenden in unterschiedlichen historischen Zeiträumen nur schwer (oder gar nicht) vergleichbar ist. Nebenbei findet sich hier ein Hinweis auf die Sonderstellung der Piratenpartei in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik – anders als für die Bundestagsparteien ist für die Piraten der Kommunikationsprozess tatsächlich inhärenter Bestandteil der Organisation. Für die etablierten Akteure ist er lediglich ein externes Werkzeug, für das noch nicht die richtige Schnittstelle gefunden scheint.
Junge Tante BBC
Zwei eher historisch argumentierende Untersuchungen aus Großbritannien ordnen die politische Mediennutzung in einen größeren Rahmen ein und knüpfen damit an Jürgen Habermas’ Überlegungen zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ an. Neil Washbourne beschreibt in seiner Studie „Mediating Politics“ medien- und öffentlichkeitsbezogene Effekte sowie die Funktionsweise von „Intermediären“ wie Parteien, Lobbygruppen und Institutionen, die sich zwischen Repräsentierte und Repräsentanten schieben.
Einen ausführlichen Streifzug durch die allmähliche Technisierung bzw. Medialisierung der Öffentlichkeit unternehmen Stephen Coleman und Karen Ross in „The Media and the Public“. Coleman und Ross analysieren die Folgen dieser Entwicklungen für den öffentlichen Rundfunk und diskutieren sie anhand des Modernisierungsprozesses der BBC. Bei der Beschreibung der allmählichen Öffnung der altehrwürdigen Rundfunkinstitution gerät der deutsche Leser ins Staunen – von einem solchen Wandel zu innovativen Formen von Berichterstattung und Zuschauerbeteiligung ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk hierzulande noch weit entfernt.
In der unübersichtlichen Multimediawelt von heute können erst im produktiven Zusammenwirken der Beteiligten im Wortsinn politische Öffentlichkeiten entstehen. Der Schlüssel liegt in der Aktivierung der Zuschauer, die gerade in den neuen Medien immer einfacher wird, denn das „aktive Publikum hört nicht einfach nur zu oder sieht fern, es macht sich seinen eigenen Reim auf die Medienangebote, interagiert mit ihnen und setzt sie manchmal auch für eigene Zwecke neu zusammen.“ Gemeint sind jene Techniken, die der Politik immer häufiger Kopfzerbrechen bereiten: das digitale Bearbeiten von Wahlplakaten und Politikerfotos, die Kritik politischer Personen und Handlungen in Weblogs, das Erstellen, Verändern und Verbreiten von Videos oder die unmittelbare Reaktion auf politische Ereignisse und Aussagen bei Facebook und Twitter.
Mit dem „erweiterten Publikum“ bemüht Neil Washbourne eine ähnliche Denkfigur. Aktive Zuschauer „sind in diesem komplexen Setting in der Lage, Texte und Nachrichten als ‚Story‘ zu interpretieren und diese Geschichte mit ihrem eigenen Leben zu vergleichen“. Offenbar klaffen aber große Lücken zwischen der medial vermittelten Wirklichkeit und der persönlichen Situation, denn für Washbourne liegt hier der Schlüssel für die Schwierigkeit der Ansprache jugendlicher Wähler. Die Perspektive des „Hauptpublikums medialisierter Politik“ weicht immer stärker von der klassischen Institutionenpolitik ab – eine Diagnose, der auch Henry Milner zustimmen könnte.
Insbesondere Formate der Zuschauerbeteiligung sind es, die Coleman und Ross in den Blick nehmen. Die alten Formen wie Leserbriefe, Telefonanrufe oder Zwischenrufe des Studiopublikums erlauben nicht mehr als eine „vertikale Interaktivität“ zwischen den Bürgern („wir hier unten“) und den Medien oder der Politik („die da oben“). Stadtteilzeitungen, Fanzines oder Bürgerradios begünstigen dagegen eine „horizontale Interaktivität“, die zur Entwicklung alternativer Öffentlichkeiten führen kann und das „Wir-Gefühl“ des Publikums stärkt.
Die Ausbreitung des Internet hat inzwischen zu einer „virtual publicness“ geführt, in der Websites, Blogs und soziale Netzwerke die zeitgemäßen Formen einer „politischen Zuschauerbeteiligung“ sind. Wohl wissend, dass sich hier Ansätze zur Mobilisierung finden lassen, aber auch die Verstärkung von Informationsungleichgewichten droht, kommen Coleman und Ross zu einem abwägenden Fazit: „Die Erlangung von Aufmerksamkeit ist bislang verschoben in Richtung der ökonomisch und politisch Mächtigen. Allerdings gibt es Grund zur Annahme, dass kleinere Akteure im Internet bessere Chancen haben, ein Thema auf die Agenda zu setzen als unter den Bedingungen der alten Medien.“
Ein solcher „Kampf um Öffentlichkeit“ offenbarte sich zuletzt am Beispiel der Schlichtungsgespräche um „Stuttgart 21“. Während Politik und Massenmedien die Fernsehübertragung der von Heiner Geißler geleiteten Freitagsrunden als „demokratisches Experiment“ feierten, wuchs seitens der Bürgerinitiativen der Unmut über das Diskutieren in geschlossener Runde auf der alten Medienbühne. In der Zwischenzeit sucht nicht mehr nur die gut vernetzte Generation Internet nach Möglichkeiten der Öffnung und Beteiligung am Verfahren – längst nutzt auch das „bürgerliche Protestmilieu“ neue Technologien, um sich Gehör zu verschaffen.
Crosspost aus Internationale Politik (IP) mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor