#Europäische Union

Der atemberaubende Zerfall Europas

von , 29.11.16

Es geht nur noch um fünf Monate. Die Geschwindigkeit, mit der Europa auf seinen Zerfall zusteuert, kann einem den Atem rauben. Der Sieg von François Fillon bei den französischen Vorwahlen wird sich im geschichtlichen Rückblick als entscheidendes Datum erweisen. So erfrischend sein offenes Bekenntnis zum eigenen Programm wirkt, so vernünftig sind viele seiner wirtschaftspolitischen Forderungen: Aufkündigung des 35-Stunden-Dogmas, Abschaffung des Vertretungsmonopols der Gewerkschaften, die nach massiven Mitgliederverlusten längst ohne Rückhalt in vielen Betrieben agieren, Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre, Absenkung der Renten für Beamte, Abbau des fast fünfeinhalb Millionen umfassenden französischen Beamtenapparats um eine halbe Million, Entlastung des Mittelstandes von einem sie einzwängenden und für Deutsche nur schwer nachzuvollziehenden Staatsapparat.

Doch genau diese Vorstellungen werden Fillon – ungeachtet aktueller ihn favorisierender Meinungsumfragen – gegen Le Pen unterliegen lassen. Denn sie ermöglichen ihr, als vermeintliche Verteidigerin der sozialen Rechte kleiner Leute noch mehr Stimmen im linken Wählermilieu zu sammeln. So kann sie Arbeiter, Beamten und Kleinbürger vereinen. In der Russland- und Ausländerpolitik unterscheiden sich beide wenig, doch da werden viele die klarere Position Le Pens wählen. Zugleich wird es den noch verbleibenden linken Wählern schwer fallen, Fillon in der entscheidenden Stichwahl gegen Le Pen zu unterstützen. Denn er ist das letzte Aufgebot des alten katholischen Frankreichs, das seine Stärke in den zurück liegenden Anti-Schwulen-Demonstrationen der letzten Jahre nachdrücklich bewiesen hat. Er verkörpert in vielem eine alte Welt, die in digitalen Zeiten überwunden schien. Dass eine solche Wahl schwer fällt, ist sogar nachzuvollziehen.

Doch an ihr wird sich Europas Zukunft entscheiden. Denn Le Pen wird nach ihrem Sieg eine Volksabstimmung über einen französischen Brexit durchführen. In der Hochstimmung ihres Sieges könnte er gelingen, auch wenn die Franzosen bei Meinungsumfragen heute noch für die EU votieren. So droht das langsam gewachsene Nachkriegseuropa innerhalb von Monaten zu zerfallen. Der selbstverliebte sozialistische Präsident Hollande, der Le Pen den Weg mit ebnete, zaudert den Moment herbei, seine Kandidatur bekannt zu geben. Da kann die zutreffende Mahnung von Premier Valls, die Linke könne in dieser Wahl „sterben“, nicht wirklich schrecken.

In den nächsten Wochen droht noch der eine oder andere Einschlag, die Wahl des neuen österreichischen Präsidenten Hofer und das Scheitern Mateo Renzis, das Italien in eine schwere politische und vor allem wirtschaftliche Krise stürzen wird. Eine mögliche Hilfe durch die EU wird die Attraktivität Europas nicht erhöhen, sondern die Illusion stärken, innerhalb der nationalen Grenzen ließe sich besser leben und wirtschaften.

Aber die Zukunft Europas entscheidet sich letztlich in Frankreich. Das langsam und mühsam gewachsene und erkämpfte Nachkriegseuropa steht vor dem Zerfall. Das Publikum schaut dieser sich weltweit entfaltenden Dynamik zu. Vielleicht noch nicht einmal gebannt.

 

 

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