#Anfangsverdacht

3. Juli 2014 – die Wende der Geheimdienstpolitik?

von , 6.7.14

Vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wurden am 3. Juli 2014 zwei ehemalige NSA-Insider als Zeugen befragt (Mitschrift): William Binney und Thomas Drake wurden nach jahrelanger Tätigkeit für die NSA zu Whistleblowern, als man dort in Folge des 11. September 2001 die weltweiten Überwachungsmaßnahmen entgrenzte.

 

Glaubwürdige Zeugen

Binney, bis dahin technischer Direktor, verließ die NSA noch im Oktober 2001. Drake kündigte schließlich 2008, nachdem er jahrelang in leitenden Funktionen die NSA von innen kritisiert hatte – vor allem wegen der Verschwendung von Steuermilliarden und des Verfassungsbruchs, namentlich systematischen und massenhaften Verstößen gegen den vierten Verfassungszusatz, der Privatsphäre und Schutz vor willkürlicher Verfolgung garantieren soll.

Binney und Drake sind die Vorläufer von Edward Snowden. Und weil Snowden wohl nicht vor dem Untersuchungsausschuss aussagen (oder auch nur nach Deutschland einreisen) darf, wird der 3. Juli 2014 in die Geschichte eingehen als der Tag, seit dem der Deutsche Bundestag nicht mehr plausibel abstreiten kann, dass er alle notwendigen Informationen besitzt, um Konsequenzen aus der Späh-Affäre zu ziehen.

Dass diese Konsequenzen sehr weitreichend sein müssen – Sicherheitskreise würden sagen: radikal, extremistisch oder gar terroristisch –, um den Fortbestand des demokratischen Rechtsstaats zu retten, glaube ich, seit Snowden im Juni 2013 den PRISM-Skandal lostrat.

Warum der demokratische Rechtsstaat ohne eine grundlegende Wende der Geheimdienstpolitik zerfällt, habe ich im November hier skizziert.

Damals war gerade ein Aufschrei durch die deutsche Öffentlichkeit gegangen, lauter als die seit gut einem Jahr wöchentlich üblichen Schreie über neue Erkenntnisse aus den Snowden-Leaks: Die NSA hatte auch das Handy von Angela Merkel überwacht. Die New York Times taufte es “The Handyüberwachung Disaster“, die internationalen Beziehungen wurden schwer belastet, so dass die Times schrieb:
 

“A backlash could see Europe limit its sharing of financial and other data with the United States or impose heavy fines on American telecommunications companies that pass on European user details. The word ‘ally’ is beginning to feel like a 20th-century idea that has lost its relevance.

None of this serves U.S. interests. Intelligence, counterterrorism and military cooperation with Germany and France, the two nations most outraged by recent disclosures, is critical.”

 

Fragwürdige Freundschaft

Für die Regierung Merkel warf das auch ein Image-Problem beim Umgang mit der NSA-Affäre auf: Sie konnte die von der NSA geheimdienstlich erzeugte “Sicherheit” nicht mehr gut finden, weil sie – wie alle anderen auch – selbst das Objekt war, gegen das sich die Handlungen des US-Sicherheitsapparats richteten. Wer die eigene Überwachung für gut und richtig erklärt, stilisiert sich gewissermaßen zur potentiellen Gefahr, deren Eindämmung nur vernünftig sei. Deshalb tut man so etwas “unter Freunden” nicht.

Doch das Wort Freund fühlt sich auch an wie die Idee einer vergangenen Epoche, die ihre Bedeutung verloren hat. Nirgendwo auf der Welt findet man so viele Freunde Amerikas auf so engem Raum wie in Deutschland. Aller viel beschworene Antiamerikanismus ist nur die Kehrseite dieses Phänomens, und wir würden ihn gar nicht so sehr wahrnehmen, wenn wir den Amis nicht so verfallen wären.

Freunde Amerikas, das sind auch die Menschen, die amerikanischen Werten wie Freiheit, Privatsphäre und Schutz vor staatlicher Willkür nacheifern, indem sie mit dem Anonymisierungsdienst “Tor” im Internet surfen, oder gar nach dem konsequent anonymisierenden Betriebssystem “Tails” googeln.

Auf genau diese Freunde Amerikas hat es die NSA abgesehen: Sie werden von den Betreibern der NSA-Spähprogramme als “Extremisten” markiert und besonders verfolgt, wie tagesschau.de ebenfalls am 3. Juli berichtete. So ist auch Sebastian Hahn in die NSA-Datenbanken geraten, ein Erlanger Informatikstudent, der nun nach Merkel als zweites namentlich identifizierbares NSA-Opfer in Deutschland herhalten muss. (Siehe auch den Beitrag aus der Panorama-Sendung vom 3. Juli; Video, 5:23 Min.)

 

Unwürdige Verweigerung

Die dritte Meldung, die den 3. Juli 2014 zu einem besonderen Tag in der permanenten Überwachungsaffäre macht, kommt von Generalbundesanwalt Harald Range: “Haftbefehl wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit“.

Seit langem waren die Irritationen groß, wie untätig der Generalbundesanwalt augenscheinlich war, wie er die Snowden-Leaks als “abstrakte Annahme” wegwischte. Der NSA-Untersuchungsausschuss besprach die Festnahme – hinter verschlossenen Türen – umgehend mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium. Wann wurde zuletzt ein Geheimagent in Deutschland öffentlichkeitswirksam verhaftet?

Einen Zusammenhang zu den Medienberichten über “Tor”, “Tails” und Sebastian Hahn vom selben Tag, in denen Thomas Stadler auch einen “Anfangsverdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit” sieht, gab es dabei wohl nicht. Der Doppelagent, der als BND-Mitarbeiter Geheimnisse an einen US-Geheimdienst verkauft haben soll, habe vielmehr den NSA-Untersuchungsausschuss ausspioniert, heißt es nun.

Der Agententhriller könnte zum Nachfolger des “Handyüberwachung Disaster” werden, wenn der Diskurs sich jetzt erneut auf die Ausspähung einzelner politischer Repräsentanten stürzt, deren Tätigkeit ohnehin öffentlich sein sollte, und im Gegenzug die flächendeckende Überwachung von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, in Vergessenheit gerät. Da der Untersuchungsausschuss des Bundestags als weltweit einziges Parlament die globale NSA-Affäre aufarbeitet, stößt er natürlich auf breites Interesse, auch in den USA, aus der Medienvertreter und eine Kongress-Delegation angereist waren.

Nicht nur deren zarter Hoffnung dürfte das offenkundige Desinteresse einiger Parlamentarier der Regierungsfraktionen einen Dämpfer verpasst haben, die Legislative könnte irgendeine wirksame Kontrolle über die globale Geheimexekutive ausüben. Stattdessen interessierte sich etwa der Ausschussvorsitzende Patrick Sensburg (CDU) vor allem für die Erfahrungen der Zeugen mit Grillabenden und Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei der NSA.

 

Historische Verwirrung

Nicht weniger irritierend waren die Reaktionen auf Vergleiche der gegenwärtigen NSA-Überwachung mit historischen Diktaturen.

Laut Mitschrift von netzpolitik.org berichtete Thomas Drake am Abend:
 

“Letztes Jahr war ich das erste Mal seit dem Kalten Krieg in Berlin. von 1981 bis 1989 flog ich Aufklärungsflugzeuge für SIGINT und habe die Kommunikation der DDR überwacht. Die Stasi wurde recht effizient. Ich hätte nie gedacht, dass die USA die Stasi noch übertreffen würde.

Ich weiß, der Vergleich ist historisch schwierig, aber 9-11 war das Äquivalent des Reichstagsbrands 1933.”

 
Die erste Frage, die Oberst a.D. Roderich Kiesewetter (CDU) im Anschluss an Drakes lange, vielfältige Ausführungen an den Zeugen richtete, lautete:
 

“Sie haben 9-11 mit dem Reichstagsbrand verglichen. Der wurde von den Nazis gelegt. Wollen Sie implizieren, dass die NSA hinter 9-11 steckt?”

 
Drakes Replik war souverän:
 

“Ich hatte die Diskussionen zum Reichstagsbrand zuvor [geführt] und wurde missverstanden. 9-11 wurde als Ausrede verwendet, die Verfassung auszuhöhlen, ein ‘trigger event’, ein Erdbeben.

Mir wurde in der Woche nach 9-11 gesagt: ‘Wir brauchen die Daten. Alle. Sonst könnten wir etwas verpassen.'”

 
Der Wortwechsel sticht für mich deshalb hervor, weil er die Verweigerungshaltung zahlreicher Mitglieder des Untersuchungsausschusses, des Bundestages, der Regierung und allgemein verschiedener politischer Parteien in Deutschland so sinnfällig vor Augen führt.

Dabei ist es egal, ob Kiesewetter absichtlich durch solch eine Nebelkerze die Befragung stören wollte, oder ob ihm tatsächlich nichts Besseres einfiel, als diese mehr als fragwürdige Konstruktion voller absurder Voraussetzungen (die er auch twitterte).

  1. Dass der Reichstagsbrand “von den Nazis gelegt” wurde, ist eine bis heute heiß umstrittene Theorie, keine Tatsache.
  2. Jedes Schulkind lernt, dass die Bedeutung des Reichstagsbrands darin liegt, dass er (und die Nazi-Theorie, er sei von den Kommunisten gelegt worden) als Vorwand für die bereits am Tag danach erlassene Reichstagsbrandverordnung diente, mit der Grundrechte und Verfassung ausgehebelt und politische Gegner der Nazis verfolgt werden konnten.
  3. Die Beseitigung von Grundrechten, die Außerkraftsetzung der Verfassung und die Entwicklung zur Diktatur, die Drake in Folge des 11. September 2001 beobachtete, interessierten Kiesewetter offenbar nicht.
  4. Auch der NSA-Stasi-Vergleich scheint Kiesewetter nicht besonders bemerkenswert erschienen zu sein.

Dafür kam Tankred Schipanski (CDU), der sich auch nicht für das Thema Grundrechte, Verfassung oder die Verfolgung politischer Gegner erwärmen konnte, sogleich darauf zu sprechen, dass es “163 Maueropfer” und “Todesopfer der Stasi” gebe: “Vor diesem geschichtlichen Kontext wundert mich sehr, wie sie die NSA mit der Stasi gleichsetzen können”, griff er Drake an, angeblich, um diesen zu “sensibilisieren”. Doch Drake setzte nicht gleich, er fand die NSA-Überwachung “noch viel totaler” als die der Stasi.

 

Verunglückter Diktaturvergleich

Bei aller Problematik des historischen Vergleichs, die Drake ja schon vorweggenommen hatte: Sollte der Verweis auf Mauertote und “Todesopfer der Stasi” etwa suggerieren, dass NSA-Überwachung ein unblutiges Geschäft ist? Allein in Pakistan haben von der CIA durchgeführte Drohnenangriffe seit Juni 2004 Tausende Menschen getötet, davon mindestens Hunderte Zivilisten.

Historische Vergleiche lassen sich sehr pauschal anstellen und wirken dann oftmals als Banalisierung oder Apologie. Auf diese Ebene ziehen sowohl Journalistinnen als auch Politiker (und da sowohl Tankred Schipanski als auch der Grüne Konstantin von Notz, der sich am Donnerstag abschließend noch zur Distanzierung von Drakes Vergleichen bemüßigt sah) die Diskussion gern hinab – wahrscheinlich in Erinnerung an unsinnige Debatten über DDR und Nationalsozialismus.

Doch das geht sowohl an den konkreten Eindrücken aus eigenem Erleben wie auch an den empirischen Befunden vorbei, die Leute wie Drake und Binney über die Denk- und Funktionsweisen gegenwärtiger Geheimdienste mitbringen.

Deren genaue Untersuchung auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den Geheimdiensten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts macht Obama sicher nicht zum „neuen Stalin“. Aber zu einer schonungslosen Analyse, wie es eigentlich um einige der Werte steht, auf die sich die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten viel eingebildet hat, könnten solche Vergleiche gewiss beitragen. Der sektorale Diktaturvergleich hat schon früher zu den spannendsten Ergebnissen geführt, wenn er Diktaturen nicht nur untereinander, sondern auch mit Demokratien vergleicht.

Ob aber der Bundestag zu Konsequenzen aus der Späh-Affäre gelangt – geschweige denn, zu einer grundlegenden Wende der Geheimdienstpolitik – das ist dann auch wieder ein wichtiges Vergleichsmerkmal im Hinblick auf das Funktionieren von Gewaltenteilung und die Existenz eines geheimdienstlichen Staats im Staat.
 

Nachtrag

 

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