von Nina Trentmann, 9.6.16
Ich muss zugeben: Ich zucke innerlich noch immer, wenn meine britischen Freunde anfangen, über Europa zu sprechen und dabei Worte wie „der Kontinent“, oder noch schlimmer, „Kontinentaleuropa“ verwenden. Trotz der Jahre, die ich nun in London arbeite, ist mir diese Bezeichnung fremd. Natürlich weiß ich, dass Großbritannien eine Inselnation ist und dass Europa „der Kontinent“ ist, von der Insel gesehen. Es geht hier allerdings nicht nur um eine geografische Unterscheidung. Bezeichnungen wie „Der Kontinent“ und „Kontinentaleuropa“ verkörpern vielmehr die emotionale Distanz, die zwischen Großbritannien und Europa besteht.
Es ist eine kleine Meerenge (der Ärmelkanal misst an seiner schmalsten Stelle nur 34 Kilometer), aufgrund derer die Briten über Europa ganz anders denken – eine simple, aber dennoch sehr wichtige Einsicht für jemanden, der wie ich aus Deutschland kommt und der sich sein Land niemals außerhalb der Europäischen Union vorstellen könnte, unabhängig davon, wie kompliziert und dysfunktional die EU manchmal ist. Wenn man dazu noch bedenkt, dass Großbritannien seit der Schlacht von Hastings im Jahr 1066 nicht mehr erobert wurde, bekommt man schnell ein Gefühl dafür, warum Europa für die Briten nie das Gleiche bedeutet hat wie für uns. Anders als wir Kontinentaleuropäer haben sich die Briten – abgesehen vielleicht von der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als Hitler London bombardieren ließ – nie so verwundbar gefühlt, haben nie einen so dringenden Wunsch nach Einheit und Zusammenarbeit gespürt. Die Beziehung ist aus diesem Grund sehr viel transaktionaler, weniger emotional.
Es gibt weitere Gründe dafür. Großbritannien, eine laut Wikipedia nur 243 610 Quadratkilometer große Insel, erinnert sich voller Stolz an die Tage, an dem es das Zentrum eines der größten Reiche der Welt war. Dank des Handels mit den entlegensten Orten der Welt haben die Briten seit Jahrhunderten eine weltoffene Anschauung. London ist bis heute eine der internationalsten Städte der Welt, rund 40 Prozent der Bewohner der Hauptstadt sind nicht in Großbritannien geboren. Folglich schauen die Briten nicht nur nach Europa, wenn sie an Handel und Zusammenarbeit denken, sondern denken auch an das Commonwealth, die Vereinigung der früheren Kolonien, und an Asien und andere aufstrebende Schwellenländer.
Aus deutscher Sicht kann ich einiges davon nachvollziehen. Angesichts der Tatsache, dass ich vor meiner Zeit in London in Shanghai in China gearbeitet habe, weiß ich, wie sehr sich die Welt verändert, dass sich die Machtzentren nach Asien verlagern und dass Europa sich anpassen muss, will es weiterhin wirtschaftlich wachsen. Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten neue Handelspartner, allen voran, China gefunden. Trotzdem sind Länder wie die USA, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien noch immer sehr viel wichtiger für die deutsche Exportwirtschaft als China. Das gilt auch für Großbritannien – vier der fünf wichtigsten Exportmärkte des Landes liegen auf dem europäischen Kontinent.
Hier hört mein Verständnis allerdings auf. Die Leave-Kampagne argumentiert, dass Großbritannien die EU verlassen sollte, weil es dann mehr mit den Ländern außerhalb Europas handeln könnte. Peter Hargreaves, der Gründer von Hargreaves Lansdown, einer britischen Investmentfirma, erklärte auf ähnliche Weise, warum es Großbritannien außerhalb der EU besser gehen werde. „Wir könnten Freihandel mit Indien, Australien, dem früheren Indochina betreiben“, sagte mir Hargreaves in einem Interview. „Diese Teile der Welt wachsen sehr viel schneller als die EU.“ Die Union sei wie eine Festung, erklärte der Brite. Ich komme aus einem Land, das trotz seiner Mitgliedschaft in der EU sehr erfolgreich mit aufstrebenden Schwellenländern handelt. Das Argument leuchtet mir deshalb nicht ein. Genau das ist jedoch die Schwierigkeit bei der Diskussion um die britische EU-Mitgliedschaft: Man hört eine Menge an Wahrheiten, Halbwahrheiten und Meinungen, die als Fakten präsentiert werden und die nicht widerlegbar sind, weil sie sich auf die Zeit nach dem Austritt aus der EU beziehen und auf vielen „wenn“, „könnte“ und „würde“ beruhen.
Peter Hargreaves war noch nicht fertig, als er die EU als Festung beschrieb. Sein nächstes Ziel war die „französisch-deutsche Achse“, die die EU regiere, eine Beschreibung, die ich schon öfter gehört habe. Natürlich stimmt es, dass die EU anfangs ein französisches, belgisches und deutsches Projekt war – aber das ist knapp 60 Jahre her. Großbritannien ist seit über vier Jahrzehnten Mitglied der EU, warum also all dieser Rekurs auf die Vergangenheit? Ich mir als Deutsche der Vergangenheit sehr bewusst. Trotzdem überraschen mich die Verweise auf den Anfang der EU, hat Großbritannien doch mehr als genug Zeit gehabt, sich in der EU Gehör zu verschaffen.
Warum die Anfangsjahre der EU die Briten noch immer schmerzen, verdeutlichte mir vor kurzem ein schottischer Unternehmer. In einem Pub in Wigtown in Dumfries & Galloway erklärte mir Tam O’Braan – schottischer geht der Vorname kaum – dass De Gaulles „Nein“ zur britischen Bewerbung eine Wunde verursacht hat, die bis heute nicht geheilt hat. „Das ist einer der Gründe, warum die Tory-Partei, einst eine Partei mit starken europäischen Verbindungen, sich zerstritt“, erklärte er bei Steak und Fritten. „Das sollten Sie nicht unterschätzen.“
Er hat Recht. Das parteiinterne Zerwürfnis innerhalb der Tory-Partei ist einer der Hauptgründe für das EU-Referendum am 23. Juni – eine Tatsache, die vielen Deutschen nicht bekannt ist. David Cameron, der heutige Premier, musste seinerzeit versprechen, ein solches Referendum abzuhalten, um Vorsitzender der konservativen Partei werden zu können. Dank des Vetos der Liberaldemokraten, mit denen die Konservativen zwischen 2010 und 2015 regierten, musste Cameron sein Versprechen vorerst nicht wahr machen. Erst nach dem Wahlsieg im Mai 2015 wurde es den Briten klar, dass eine Tory-Mehrheit auch ein EU-Referendum bedeuten würde.
Es kann also sein, dass die Briten aufgrund der internen Zerstrittenheit der Tories für den Austritt aus der EU stimmen. Ohne sie hätte es kein Referendum gegeben.
Nina Trentmann arbeitet als Korrespondentin in London. Bei CARTA beleuchtet sie in den kommenden Wochen unter der Überschrift „Will they stay or will they go?“ verschiedene Aspekte und Hintergründe zum Brexit:
- Will they stay or will they go? Was der Brexit für Deutschland bedeuten könnte (2. Juni 2016)
- Will they stay or will they go? Die Briten verstehen (9. Juni 2016)
- Will they stay or will they go? Brexit und die Medien (15. Juni 2016)