#Boulevard

Betrug am Leser: Der Boulevard höhlt die Pressefreiheit aus

von , 20.7.09

Vermutlich kriegt man in der Ausbildung beigebracht, was Boulevard-Journalismus ist, allerdings habe ich noch nie gehört, dass es ein spezifisches Unterrichtsfach wäre. Ich bin ja kein gelernter Journalist, deswegen kann mir vielleicht mal jemand erklären, ob für diese Art der Berichterstattung auch der Wahrhaftigkeitsgrundsatz gilt? Meiner Erfahrung nach nämlich nicht. Und wenn das nicht der Fall ist, wieso haben die Leute, die Boulevard-Journalismus betreiben, dann überhaupt einen Presseausweis?

Wer sich heutzutage in einem Zeitungskiosk umsieht, bildet sich bloß ein, in den Regalen lägen zu hundert Prozent Presseerzeugnisse. Tatsächlich sind es Pi mal Daumen vielleicht zehn Prozent, der Rest ist weitgehend Betrug am Leser, an einem Durchschnitts- und Massenleser, der noch immer glaubt, was in der Zeitung steht. Wie blöd für ihn.

In Wahrheit hat er es mit einem abgekarteten Spiel zu tun, mit Verdrehung, Verschönerung und Dramatisierung der Wirklichkeit, mit der Schaffung von Scheinwelten, und das ist keine Neuigkeit, sondern so selbstverständlich, dass niemand es mehr seltsam findet. Mal geschieht das nur aus reiner Oberflächlichkeit, meistens aus knallhartem Marketing-Interesse. Ich kann da reihenweise selbsterlebte Beispiele auflisten.

Mein Problem ist nur: Nenne ich Ross und Reiter, dann kriege ich solche Aufträge nicht mehr. Nicht nur mein Problem, sondern das unserer Gesellschaft ist, dass sie für solche Lügen in glänzenden Magazinen höhere Honorare zahlt als für Wahrhaftigkeit, und dies auch noch pünktlicher. Unbestechliche Berichterstattung bringt in Schwarz-Weiß-Tageszeitungen nämlich nur Zeilen-Cent-Beträge, im Internet oft nichts mehr. Also erzähle ich verschlüsselt, weil ich mir nichts anderes leisten kann.

Gestern zum Beispiel: Da sollte ich für ein Lifestyle-Magazin einen Text über zwei Schauspieler schreiben, die in einem Fitness-Studio trainieren, um sich für eine Mega-Inszenierung, deren Hauptdarsteller sie sein werden, fit zu machen. Tatsache ist aber, dass sie nie in diesem Fitness-Studio trainieren, nur an diesem Tag, unter den Augen und in der Obhut von Fotograf, Assistent, Stylistin, Produktionsleitung und natürlich der Marketing-Dame des Studios.

Der Verlag des Life-Style-Magazins ist geschäftlich mit dieser Fitnessstudio-Firma verbunden. Deswegen muss dafür gesorgt werden, dass sowohl im Text als auch im Bild klar wird, in welch exklusiver Umgebung das Training stattfindet, das sich die beiden Schauspieler im wahren Leben gar nicht leisten können. Die Produzenten der Mega-Inszenierung wiederum stellen dem Lifestyle-Magazin Freikarten zur Verfügung, die diese an ihre Leser verlosen können. Und weil das Fitness-Studio eine bestimmte Sportklamotten-Marke favorisiert, müssen die Schauspieler genau die auch anziehen.

Und ich soll einen Text schreiben, in dem nichts davon vorkommt, was ich an diesem Tag gesehen und gehört habe. Sondern so tun, als würden hier zwei Schauspieler begeistert schwitzen, die in Wahrheit gepudert sind. Der Text geht dann nicht nur an die Redaktion, sondern auch an die Produzenten der Mega-Inszenierung, damit am Ende alle Seiten zufrieden sind. Im Heft wird er als redaktioneller Beitrag erscheinen. Sämtliche Beteiligte finden das normal, sie arbeiten so seit ewig und drei Tagen. Gewissensbisse würden sie ganz und gar lächerlich finden.

Als ich neulich einem Frauenmagazin eine wahre Liebesgeschichte verkaufte, in der ein Politiker vorkam, war die Redakteurin begeistert. Nur eines durfte nicht sein: Der Politiker. „Können wir nicht lieber einen Volkshochschuldozenten daraus machen?“ fragte sie. So ist das in Frauenmagazinen. Die Wirklichkeit passt nicht ins Konzept, und dem Chefredakteur ist es auch egal.

Ich habe ja weitgehend aufgehört, für Frauenmagazine zu schreiben. Ich konnte es nicht länger ertragen, für die Psycho-Ressorts lebende Fallbeispiele zu suchen, die genau das aussagten, was die Redaktion hören wollte, wohin man die Fallbeispiele notfalls mit Suggestivfragen bringen musste. (Es wurden sowieso nur die fotogenen veröffentlicht.) Und ich mochte es nicht mehr aushalten, dass meine Geschichten entschärft wurden, weil die Leserin sich doch beim Blättern entspannen soll. Oder dass sie erst gar nicht gedruckt wurden, wie das beauftragte Portrait einer Prostituierten, die gleichzeitig Mutter war. „Zu iggitigitt“ für unsere Leser, befand die Ressortleiterin und zahlte mir ein lächerliches Ausfallhonorar. „Ja, wie haben Sie sich die Geschichte vorgestellt?“, wagte ich noch zu einzuwenden: „Eine Edelnutte, die auf Strass-Highheels madonnenhaft lächelnd Kinder und Job jongliert?“

Und dann die Reisereportagen. Wo gibt es das noch, dass ein Redaktions-Etat ermöglicht, Journalist und Fotograf eine Reise zu bezahlen, über die sie in Wort und Bild unabhängig berichten können? Der Normalfall geht anders: Die PR-Abteilung des Reiseveranstalters oder die Touristik-Abteilung eines Landes lädt höflich ein. Sie sorgt für Flug, Luxushotel, verwöhnt den Journalisten mit kleinen Geschenken, karrt ihn an die schönsten Plätze, ohne dass er sich überhaupt eine Landkarte besorgen müsste, sucht Interview-Partner schon vorab für ihn aus. Und selbst wenn zwanzig Journalisten an dieser Pressereise teilgenommen haben, tut der Autor nachher so, als habe er ganz allein die Erlebnisse gehabt, die er in seinem Text beschreibt. Auch auf den Fotos kommt die Reisegruppe nicht vor. Für Berichterstattung über neue Autos gilt das Gleiche in grün.

Dass sämtliche Mode- und Kosmetik-Ressorts in Boulevard-Magazinen mit den Marketing-Mitarbeitern von Mode- und Kosmetik-Konzernen per Du sind, ist ein offenes Geheimnis. Dem Leser gegenüber empfinden beide Seiten keinerlei Verpflichtung. So sollte ich einmal einen albernen Text darüber verfassen, in welchem Edelkosmetikgeschäft man von Verkäuferinnen wie beraten wird. Dass unter den Test-Kandidaten auch eine Niedrigpreis-Drogeriekette sein sollte, fand ich merkwürdig, denn es ergibt sich ja von selbst, dass Kassierinnen keine großartige Beratung betreiben. Genauso schrieb ich es dann auch hin. Wie naiv ich war, begriff ich erst, als ich das Heft mit meiner Geschichte in der Hand hielt. Die Chefredakteurin hatte ohne Rücksprache mit mir Sätze in meinen Text geschrieben, die die Drogeriekette in allerbestem Licht erscheinen ließen. Mein Name stand darunter. Die ganzseitige Drogerieketten-Anzeige prangte daneben.

Wieso, frage ich mich, betrachtet man das landauf, landab als Kavaliersdelikt? Die Antwort ist einfach: Erstens – wenn mehrheitlich so verfahren wird, fühlen sich alle im Recht. Zweitens würden nicht viertel soviel Medien existieren, gäbe es nicht so viele kommerzielle Interessen, die dort untergemogelt werden sollen. Der Leser merke bitte: Presse und Medien sind nicht zwei Namen für dieselbe Sache. Leider merkt der Leser das eben meistens nicht.

Der überwiegende Teil aller Redakteure und freien Journalisten im Lande, die für den im Zeitungskiosk weit überwiegenden Boulevard-Journalismus arbeiten, ist also Handlanger ganz anderer Absichten als der grundgesetzlich verankerten Pressefreiheit. Diese Pressefreiheit ist eine tragende Wand der Demokratie. Aber sie steht nachts in einem dünnen Kleidchen an einer Laterne und zwinkert Anzeigenkunden zu. Von außerhalb der Journalistenbranche ist sie durch Abhöraktionen bei Weitem nicht so bedroht, wie sie von innen verfault ist.

Über Jahrzehnte war Journalismus ohne Anzeigenkunden nicht denkbar. Doch Anzeigen-Kunden lieben den Journalismus nicht, sondern nur ihren eigenen Umsatz. Jetzt wandern sie gnadenlos dahin ab, wo sie viel mehr Leute erreichen. Das sind die neuen Millionen-Communities im Internet, wie Facebook, Myspace und dergleichen. Dass diese scheinbar sichere Symbiose sich zusehens auflöst, ist vielleicht nicht so schlimm, wie es aussieht. Womöglich wird sie zum Massensterben zahlreicher Boulevard-Journalismus-Erzeugnisse führen, in denen sowieso nie Wahrhaftigkeit steckte, sondern nur rosa Schaum.

Bedauerlicherweise leidet unter dem Anzeigenschwund auch die Handvoll seriöser Medien, in denen noch Qualitätjournalismus verwirklicht wird, unter wachsend erschwerten Bedingungen. Mehr als diese Handvoll hat es nie gegeben. Die Frage ist nur, wem in dieser Demokratie sind die in Zukunft etwas wert?

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