##aufschrei

#aufschrei: Wie Lappalien relevant werden

von , 25.1.13

Über diese Frage wird zurzeit in Deutschland diskutiert, nachdem zwei Journalistinnen über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit berichtet haben, zuerst Annett Meiritz im Spiegel am Beispiel einiger Piraten, dann Laura Himmelreich im Stern über ihre Erlebnisse mit Rainer Brüderle von der FDP.

Seither wird offensichtlich, dass sich die “Relevanzkriterien” zu diesem Thema in der Öffentlichkeit verschoben haben. Am besten auf den Punkt gebracht hat das der hessische FDP-Justizminister Jörg-Uwe Hahn, der mit dem Satz zitiert wird: ”Diese Geschichte ist ein Tabubruch. Wer es nötig hat, so etwas als ‘Story’ zu verkaufen, hat sich von seinem Chefredakteur vor den schmutzigen Karren spannen lassen.”

Ja genau, es ist ein Tabubruch, denn bisher gehörte es sich nicht, solche Erlebnisse an die große Glocke zu hängen. Eine Frau, die es in die oberen Ränge des Alpha-Journalismus geschafft hatte, hatte dankbar zu sein, dass die Herren sie mitspielen lassen. Und nicht rumzicken wegen irgendwelcher nebensächlicher Lappalien.

Wie Jörg-Uwe Hahn gingen bis vorgestern wohl viele Männer davon aus, dass solche Begebenheiten unterhalb der Schwelle öffentlicher Erregung bleiben. Wie er waren wohl viele der Ansicht, dass so ein bisschen sexistische Anmache für sich genommen keine Story ist (man muss es ja seiner Ansicht nach noch aus irgendwelchen anderen Gründen “nötig haben”). Auch viele Männer, die sich selbst gegenüber Frauen völlig korrekt verhalten, dachten bis vorgestern: Das ist zwar nicht schön, aber doch keine Nachricht – und suchten deshalb nach “Nebengründen”, die diese Veröffentlichung erklären könnten.

Es braucht aber keine weiteren Gründe, um so eine Story zu veröffentlichen, denn es gibt inzwischen massenweise Frauen und auch Männer, die das durchaus für eine Nachricht halten. Die sexuelle Belästigung keineswegs für eine Lappalie halten, auch dann nicht, wenn sie sich auf “niedrigem Niveau” abspielt. Die nicht wollen, dass solche Leute uns regieren, weil so ein Verhalten nämlich keine Privatsache oder persönliche Macke ist, sondern viel über die Mentalität, die Rollenvorstellungen, die Haltung des Betreffenden aussagt. Für sie als Wählerinnen und Wähler ist es also aus politischen Gründen interessant, solche Berichte zu lesen.

Wie viel sich da an Ärger bereits angesammelt hatte, zeigt sich an der großen Resonanz, die unter dem Hashtag #Aufschrei gerade bei Twitter trendet. Unter diesem Tag tragen Frauen ihre Erlebnisse bezüglich solcher “Lappalien” zusammen und machen damit sichtbar, dass die “Lappalien”-Einschätzung aufgrund der schieren Menge an entsprechenden Vorfällen schlicht falsch ist. Männer beteiligen sich übrigens ebenfalls unter dem Hashtag #Scham. Auch in den klassischen Medien sind zahlreiche Kolleginnen und Kollegen Meiritz und Himmelreich zur Seite gesprungen, weil auch sie die neue Relevanz der ehemaligen “Lappalien” erkannt haben.

Dass dieser Knoten gerade jetzt geplatzt ist, war letztlich Zufall. Zuerst der Artikel gegen die Piraten, bei dem alle Etablierten noch geklatscht haben – immer druff, wir wussten ja, dass die Piraten Sexisten sind. Dieser Artikel war aber nötig, damit der  zweite Artikel erscheinen konnte: Nicht nur bei den Piraten, auch bei der FDP. Und dann gab es kein Halten mehr, weil genau diese Debatte unter der Oberfläche schon lange gebrodelt hat. Früher oder später musste sie rauskommen.

Zurück in den Sack kriegt Ihr das jetzt nicht mehr. Weil nämlich diejenigen, die so was für eine Lappalie halten, nicht mehr die maßgeblichen Meinungsmacher in Deutschland sind. Sondern Relikte aus vergangenen Zeiten.
PS: Das ist übrigens ein gutes Beispiel für politische Veränderungsprozesse, wie ich sie gegen Zizek hier kürzlich stark gemacht habe: Sie erfordern keine revolutionäre Tat, sondern sie werden über längere Zeit von sozialen Bewegungen im mehr oder weniger Unsichtbaren vorbereitet. Geschieht dann ein “Ereignis”, kommen sie lediglich ans Licht, sie werden von diesem Ereignis aber nicht ausgelöst.

PPS: Hier auch noch ein Erklärbärin-Videointerview mit Anke Domscheit-Berg zum Thema
Crosspost von Aus Liebe zur Freiheit
 

 

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