#ARD

Kübelweise Klischees im ARD-Brennpunkt über Winnenden

von , 13.3.09


Wenn junge Menschen heute in Deutschland durchdrehen, dann liegt das wahrscheinlich an Ego-Shooter-Spielen, vielleicht an Gewaltvideos und ganz sicher am Internet. So zumindest kann ein Fazit des gestrigen ARD Brennpunkts lauten. Das Netz erschien in der Sendung als zentraler Faktor in einem Zirkel aus Rückzug und Zynismus, in dem immer mehr Jugendliche gefangen scheinen.

Dabei ist eine solche Darstellung des Internets nichts weiter als ein Chiffre für das zunehmende Unverständnis der Generationen untereinander – und die Angst der älteren Generationen vor den medialen Eigenwelten der Jüngeren.

Der ARD Brennpunkt vom Donnerstagabend präsentierte uns zunächst genüßlich den baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech, der noch einmal erklären durfte, Tim K. habe seinen Amoklauf in aller Drastik in einem Online-Forum angekündigt (“mal so richtig gepflegt grillen”). Rechs Darstellung erwies sich bekanntlich gut eine Stunde später als falsch – aber sie passte perfekt zum Tenor der Sendung.

Bei Minute 5:20 der Sendung kündigt uns Moderator Frey dann einen Beitrag speziell zu den Reaktionen im Internet an: Das Netz sei “nicht nur eine Plattform für potenzielle Täter“, sondern dort sei auch ein “virtueller Wutausbruch” zu beobachten: “Die, die sich dort ihr ganz eigenes Bild vom gestrigen Amoklauf machen, können mit der Debatte um Schuld und Verantwortung wenig anfangen.”

Fritz Frey

Moderator Fritz Frey: Wenig Verständnis für Schuld und Verantwortung im Internet vorhanden

In dem dann folgenden Beitrag wird nahe gelegt, im Netz herrsche eine Atmosphäre von Tätersympathie, Zynismus und entrückter Eigenbrödelei:

— Hier würden sich die Nutzer “ihre eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat” bauen. Den Massenmedien würden sie “Scheinheiligkeit” vorwerfen.

— Hier herrsche “virtuelle Trauer zwischen ästhetisiertem Schrecken und schönem Schauer”.

— Der Amoklauf werde  im Netz zur “tragischen Kunst” stilisiert.

Amok-Song: Ein ein Jahr alter Song muss als Beleg für die Verdorbenheit des Internets herhalten

Amok-Song: Ein Lied aus dem Jahr 2008 muss als Beleg für die Verdorbenheit des Internets herhalten

Scheinheiligkeit? Tragische Kunst? Der Beitrag ist tatsächlich reich an der berühmten Suggestivkraft des Fernsehens, vor der uns das Verfassungsgericht schützen möchte. Bei erneutem Schauen wird dies rasch deutlich:

— Den Vorwurf der “Scheinheiligkeit der Medien” durch eine relevante Zahl von Nutzern kann der Film nicht untermauern. Das etwas lautsprecherisch daherkommende YouTube-Video, das gleichzeitig im Beitrag gezeigt wird, ist zumindest harmlos. Auch wird nicht weiter deutlich, worin denn die Scheinheiligkeit bestehen sollte.

— Den eigentlichen Anker des Beitrags aber bildet das von der ARD als “Amok”-Song titulierte Stück “Der letzte Schultag” des Rappers “Swiss“. Genüßlich wird in dem Beitrag noch einmal die Zeile “Wenn ich komme, ist es Zeit für Euch zu gehen” zitiert und die YouTube-Illustration eines Soldaten im Sonnenuntergang gezeigt. Der Zuschauer muss denken, hier würde mit machohafter Lästerhaftigkeit die Tat von Winnenden kommentiert. Völlig falsch: Der Song ist ein Jahr alt und steht auch seitdem auf YouTube. Und natürlich gibt es diesen Song auch nicht nur im Internet.

Die ARD tut sich keinen Gefallen damit, aus Erklärungsnot in Klischees zu flüchten. Der Kitsch aus Anlass eines tragischen Ereignisses wurde diesmal vor allem auch im Fernsehen zur besten Sendezeit zelebriert. Ästhetisierter Schauer? Eigene Realität? Diese Vorwürfe fallen auf die ARD selbst zurück.

Sehr zu empfehlen auch zum Thema Winnenden & die Medien:

— Stefan Niggemeier: Pöbeljounalismus & Amok-Twittern

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.