#Bildung

Zwischenbilanz zu Spitzers “DigitaleDemenz”

von , 22.8.12

Es macht keinen Spaß, das akribisch zu lesen, aber jemand muss es ja tun, stellvertretend für alle, die seit 10 Jahren im Web mehr lernen als jemals zuvor: schneller, intensiver, sozialer. Hier ist eine editierte Fassung meiner Notizen, die ich sonntags ins Netz gestellt habe. Es gab sehr viele gescheite Kommentare mit Faktenchecks. Alles in allem: Ich habe viel dabei gelernt.

Alarmistische Suada

Wenn Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer nicht “Hirnforscher” wäre, wäre das nur die hysterische Suada eines vor sich hin räsonnierenden, oft schwafelnden Bildungsbürgers, der seine eigene Epoche/Kultur völlig kritiklos glorifiziert und seine Lebenserfahrungen zum positiven Maßstab erklärt. Eine Suada im alarmistischen Ton, in der ständig zwischen zersplitterten Gedanken und Argumenten hin- und hergesprungen, nie auf einer Ebene geblieben wird (“multitasking”), keine Generalisierung zu blöd ist.

Diese Suada ist, mit dem Vorwort beginnend, die erste, alles verbindende Schicht des Buchs. (“Aber, Herr Spitzer, höre ich oft besorgte Eltern fragen …”) Es liest sich über weite Strecken wie eines dieser obskuren Bücher im Eigenverlag, mit denen selbsternannte Warner und Weltretter in der untergegangenen Gutenberg-Galaxis ihre wirren Meinungen mikropublizierten, vor der Erfindung des Blogs.

Der Text genügt selbst in keiner Weise den Maßstäben, die die bildungsbürgerliche Kultur an Argumentation und Stil stellt. (Obwohl ausdrücklich dem Lektor für den Schliff an diesem “Rohdiamanten” gedankt wird!) Aber das macht nichts, weil es keine/r liest, außer denen, denen dieser Erguß aus der Seele spricht. Ansonsten ist das ein Talkshow-Buch: Kein Moderator und kein Mit-Diskutant kann das wirklich gelesen haben.

Dr. Dr. phil. habil.

Auch die Gegner von Spitzers Thesen knicken in der Regel vorher vor der “Hirnforscher”-Pose ein: “Die Ergebnisse Ihrer Forschungen bestreite ich ja gar nicht, aber …” Und schon hat er gewonnen. Wäre er nicht der ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, mit vielen peer-reviewten englischsprachigen Aufsätzen zur Wirkung von Depressionen und Sucht auf das Langzeitgedächtnis, würde kein Hahn danach krähen.

Sobald man ein klein wenig näher hinschaut (was NormalleserInnen nicht tun und auch kaum können), sieht man, dass es hier keine (!) klaren wissenschaftlichen Ergebnisse gibt, die als bewiesen gelten dürfen – obwohl Spitzer ständig gegen seine Feinde, die Medienpädagogen, polemisiert und auf “über 200 Studien” verweist, die er ausgewertet habe. Seit 2004 leitet Spitzer in Ulm das “TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen“. Wenn ich als Mitglied einer Evaluationskommission dieses Buch in die Hand bekäme, müsste ich eigentlich die Gelder streichen.

Und ausnahmsweise lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich hier als Dr.phil.habil. (Literaturwissenschaft, Semiotik, Medienwissenschaft) schon beurteilen kann, was “wissenschaftlich” ist. Ich gehöre quasi zum anderen Zweig der “Hirnforschung”, der die Außenseite des Denkens analysiert: wie Menschen sich ihre Welten aus Zeichen aufbauen und dann bewohnen. Sprechend, lesend, schreibend, in der “wirklichen Welt” und im Netz.

Sehr viele Aussagen und Folgerungen Spitzers halten schon beim bloßen Lesen keiner Überprüfung auf wissenschaftliche Seriosität stand. Und ich habe dabei auch erst einmal noch viel zu viel geglaubt. Sobald man ein wenig nachforscht (googelt), wird es viel schlimmer, wie Netzkommentatoren innerhalb weniger Stunden herausfanden. Hier ist etwa ein Kommentar zu einer Studie zu Londoner Taxifahrern, mit der Spitzer gleich zu Beginn zu beweisen sucht, dass Gedächtnisleistungen das Hirn größer machen*.

Hirnforschung

Es gibt keine saubere Begriffsbildung und Argumentation, nirgends. Beginnend mit “digitale Demenz” selbst: Nirgends trägt Spitzer zusammenhängend eine solid begründete These vor. Man muss sich alles aus Fragmenten zusammenreimen. Spitzer tut so, als sei “digitale Demenz” ein medizinischer Begriff. Erst ganz am Ende versteht man, dass er offenbar u.a. behauptet, die jugendliche Hirnschädigung durch Medien würde am Ende des Lebens dazu führen, dass signifikant mehr Leute ein paar Jahre früher Alzheimer bekommen (was natürlich unbeweisbar ist).

Meistens versteht er unter “digitaler Demenz” etwas anderes: Die Folgen von “Internet- und Computerspielsucht”, die er wieder als klar definierten medizinischen Sachverhalt ausgibt, seien schwere Depression, sozial dysfunktionales Verhalten, Steuerungsverlust usw. Suggeriert wird, so entstehe eine Art erworbene Hirnkrankheit, aber wieder bleibt die wissenschaftliche Begründung unklar.

Spitzer beruft sich damit auf “südkoreanische Ärzte”, und ich habe ihm das erst mal wie alle geglaubt, obwohl er keine Fußnote dazu hat (sonst aber viele). Wenn man googelt, stellt man in ein paar Minuten fest: Digitale Demenz war vor fünf Jahren ein südkoreanisches Mode- und Medienwort  (Telepolis), niemand betrachtet das dort als ernsthafte Krankheit. Worauf er sich beruft, ist gar keine medizinische Studie, sondern nur eine banale Umfrage (!) zur Vergesslichkeit von werktätigen Großstadt-Twens mit Smartphones. Ein Arzt, den die Korea Times daraufhin anruft, sagt: Es ist nur reversible Vergesslichkeit, kein Grund sich Sorgen zu machen.

Studien

Genauso wenig werden alle anderen Kernbegriffe klar definiert: Weder “Medien” noch “digital”, weder “Intelligenz” (in den Studien schlicht das Resultat von IQ-Tests, in seiner Argumentation aber zumeist normalsprachlich), noch “geistige Leistung” (in den Studien bemisst sich das immer in Schulnoten).

Und dann werden die Lern- und Bildungs-Studien zur Wirkung von “digitalen Medien” auf Jugendliche bis ca. 20 (um die Älteren geht es ihm nicht) nie differenziert:

  • nach Land/Kultur: Deutschland, USA, Südkorea haben völlig verschiedene soziokulturelle und soziopsychische Situationen, von weiterer Binnendifferenzierung ganz zu schweigen;
  • nach Jahr: Zitiert werden viele Studien von ca. 1998 (!), von ca. 2002/03, eher wenige ganz neue. Nicht nur der technologische und mediale Stand ist dabei nicht vergleichbar.
  • nach Alter: mal redet er von Kindergartenkindern und überträgt das im nächsten Satz auf Jugendliche, bei denen er wieder nicht unterscheidet zwischen 8 – 10-Jährigen, 12-Jährigen, 15-Jährigen … alles eins. Die Folgerungen sind wissenschaftlich unbrauchbar.
  • nach Inhalten: In seiner Perspektive ist es völlig wurscht, ob ein Jugendlicher via “digitale Medien” kommuniziert, diskutiert, programmiert, musiziert, Mashups und Remixes macht, Pornos sieht, World of Warcraft oder Counterstrike spielt (was völlig unvergleichbar ist), Wikipedia aufruft, Musik hört, googelt, bloß liest, selber schreibt usw.

Lernen

Positives in diesem Kopfschmerz erregenden Durcheinander: Mitten zwischen zum Teil grotesken Behauptungen sagt Spitzer – wie die anderen “Hirnforscher” – ab und zu humane Sachen über das Lernen, die man gern unterschreiben kann: Lernen soll dem eigenen Rhythmus folgen, ist ohne innere Motivation sinnlos, ist ein komplexer, auch sozialer Vorgang, Stress verhindert Lernen.

Das begründet er auch nicht, aber man freut sich. Doch sobald es wieder zu den Studien und zur Demenz geht, versteht er unter “Lernen”  wieder soviel wie “dem Gedächtnis einprägen”. Er diskutiert diese Diskrepanz nicht. (Der Hippocampus als Ort des Langzeitgedächnisses scheint sein wissenschaftliches Fachgebiet zu sein – ich wüsste gerne, ob wenigstens diese Aufsätze etwas taugen.)

(Die “Hirnforscher” wie auch Roth und Hüther sind ja Bildungsbürger in Verkleidung, in einer Mediengesellschaft, in der die alte bildungsbürgerliche Kultur längst untergangen ist: Sie haben die Stelle der Altphilologen eingenommen. Sie nehmen Stellung zu allen Kulturfragen, ohne davon irgendwie durch ihre Forschungen an Schwachstromströmen an Neuronen legitimiert zu sein, und alle glauben es, weil Kultur = Hirn. Glücklicherweise paraphrasieren sie, was Lernen angeht, einfach nur den fortschrittlichen Common Sense. Hier sind ein gutes Buch dazu und ein Vortrag.)

Kann man irgendwo zustimmen?

Überhaupt werden von Spitzer immer wieder Allgemeinplätze eingestreut, die zum Nicken zwingen, um dann gleich wieder extrem gewagte bis abstruse Behauptungen als “bewiesen” zu präsentieren. Die Leser werden nicht als Mitdenkende ernst genommen, sie werden betäubt. Aber gibt es nicht doch Passagen, denen man zustimmen kann?

Eigentlich dachte ich ja, wenigstens seine Aussagen zur “harten Cognitive Science”, vulgo “Hirnforschung”, seien seriös. Das muss offen bleiben – nach den Londoner Taxifahrern bin ich nicht mehr sicher. Brauchbar bzw. diskutierbar sind ein paar andere Passagen, die er in seinen alarmistischen Überredestrom eingebettet hat.

  • Die Probleme des OLPC-Projekts (One Laptop per Child), da greift er auf einen anderen Autor zurück). Über den Misserfolg des Projekts wurde auch im Netz intensiv diskutiert.
  • Die Widersprüche der realen elektronischen Mediennutzung in den deutschen Klassenzimmern seit ca. 2000: insbesondere die Smartboards, Bildschirmgeräte für Schreibanfänger, die Integration von Laptops in konventionellen Unterricht und der Gebrauch konventioneller E-Books v.a. in den USA. Da hat er Recht.
  • Zustimmungsfähig ist auch seine Skepsis gegenüber “Bildschirmmedien” im Kindergartenalter. (Ich würde sagen: Zwingend ist die Mitverwendung digitaler Medien beim Lernen ab ca. 12.)

Spitzers Thesen

Seine eigenen “wissenschaftlichen” These muss man sich mühsam zusammensuchen. Er behindert Kritik schon dadurch, dass er sie nie zusammenhängend formuliert. Aber er behauptet u.a.,

  • dass Kinder und Jugendliche mit viel “Mediengebrauch” (TV und Telefon gehören dazu) früher und öfter im Alter an Alzheimer erkranken werden.
  • dass Intelligenz und geistige Leistungsfähigkeit mit der messbaren Größe von Hirnarealen korreliert sind (eine in dieser Allgemeinheit überhaupt nicht wissenschaftlich bewiesene These), und – angedeutet – dass größere Hirne dann auch bessere Leistungen ermöglichen. Die Begründungen sind hier extrem fadenscheinig und unwissenschaftlich.
  • dass es “Internet- und Computerspielsucht” gibt, die nicht einfach Folge einer depressiv-gestörten psychischen Disposition ist, sondern eine eigendynamische Krankheit, initiiert vom Mediengebrauch, mit Merkmalen und Folgen wie  Alkohol- und Zigarettenabhängigkeit.
  • dass Kinder und Jugendliche durch Mediengebrauch dümmer und körperlich kränker werden (oberflächlicher, unkonzentrierter, mangelnde Selbstkontrolle usw.). Hier setzt er Mediengebrauch mit der “Unterschicht”-Problematik einfach gleich.
  • dass die unmittelbar negativen Auswirkungen der Medien (Schulnoten) nicht reduzierbar sind auf Bildungsferne und sonstige Problematik des Elternhauses und auch nicht auf “Begabung” (die er im Übrigen als objektive Größe betrachtet). Das könne man herausrechnen. Wie genau, wird nicht gezeigt.
  • dass Kinder und Jugendliche bei starkem privatem Mediengebrauch schlechtere Noten haben und später schlechtere “Bildungskarrieren”. (Zwischendurch beweist er mit Studien, dass digitale Medien Schul- und Studienleistungen unter bestimmten Umständen “nicht verbessern”, in denen Verschlechterungen aber gerade nicht festgestellt werden. Das thematisiert er dann nicht.)
  • dass Mediengebrauch mit schlechten Gefühlen und Depressivität nicht nur einhergeht, sondern sie verursacht.

Bis auf die Alzheimer- und die Hirnmessungs-These lassen sich alle diese Thesen Spitzers auch ohne “Hirnforschung” aufstellen. Und alle lassen sich mit vielen guten Gründen bestreiten. Er selbst wägt übrigens fast nie das Für und Wider seiner Thesen ab – auch ein deutliches Zeichen für unredliche Argumentation.

Das Netz ist ein einziger weißer Fleck

Spitzer nimmt die seriöse Argumentation seiner Gegner auch da nicht zur Kenntnis, wo sie in bekannten Büchern niedergelegt ist: Weinberger, Shirky und v.a. Jenkins kommen nicht vor, Danah Boyd wird einmal mit einem Satz aus einer Zeitungsumfrage erwähnt, die wichtigen Aufsätze kennt er nicht. Steven Johnsons Buch “Everything Bad Is Good For You” wird offenbar ungelesen als “reißerische amerikanische Schrift” denunziert (dabei wird dort eine ‘harte’ These zum Einfluss von Bildschirmmedien auf den IQ aufgestellt), usw. Gelesen hat er (womöglich, er zitiert sehr oberflächlich) Nick Carr und Douglas Rushkoff.

Spitzer hat, soviel wird klar, nicht die geringste Ahnung vom Web, also von dem Teil des Internets, in dem ständig Wissen, Informationen und auch Gefühle ausgetauscht werden. Der gerade in den letzten 15 Jahren boomt: mit Blogs, mit Wikis, mit den 1001 neuen Services, die nur dazu da sind, selbst mitzumachen, mitzuschreiben, zusammen etwas zu erzeugen, das größer ist als die Summe der Teile. In dem gerade Leute aus Randgruppen sehr schnell lernen können, was sie früher nie hätten lernen können: es nützt wissenshungrigen Jugendlichen aus deklassierten Schichten und Weltgegenden, aber auch weltfremden Bücherwürmern.

Er thematisiert das nirgends. Als ob es das alles nicht gäbe. Was er erwähnt, und auch das nur extrem oberflächlich, sind Facebook und Google Search

Nicht lachen

Das Buch ist nicht ernst zu nehmen. Aber es hat keinen Sinn, sich über Spitzers Talkshow-Triumphzug lustig zu machen. Alle, die dazu lustig twittern, sollten sich an die eigene Nase fassen: Wir sind nämlich selber schuld.

Warum haben wir, die Web 2.0-Fraktion, diese Leerstelle gelassen, in die er sich jetzt so begeistert wirft? Warum kann ein ernsthaft besorgter Mensch sich kein Buch kaufen, in dem wir uns vernünftige Gedanken über all das machen: Werden Jugendliche, die (auch digitale) Schriftkultur nicht können, jetzt vollends abgehängt? Was machen faschistoide Ich-ballere-alles-ab-Stirb-langsam-Spiele und Überall-Porno in den Köpfen? Auch die Frage, was mit dem Selberschreiben wird, ist nicht von vornherein lächerlich.

Der Punkt ist nur: Das alles gibt es sowieso. Die Jugendlichen sind bereits im Netz und vor den Geräten, und gerade die potenziell Gefährdeten werden wir am wenigsten dran hindern können. Daran ist ganz sicher nicht die Schule schuld, oder wohlmeinende Eltern, weil sie ihre Kinder mit zum Lernen gedachten digitalen Geräten “anfixen”.

Nicht weniger Medien sind das Gegenmittel sind, sondern mehr, und anders: als Werkzeug der Selbstermächtigung, in einer Welt, die sich rasend schnell verändert. Da hilft nicht Nostalgie, kein Verbot, auch nicht medienpädagogisches Darüberreden, da hilft nur: vormachen.

Der Text wurde zuerst auf Martin Lindners Google+ veröffentlicht.

* Die Ergänzungen zu den durchgestrichenen Taxifahrer-Passagen finden sich hier.

Die Diskussion geht auf Google+ weiter, debattiert wird vor allem über den Absatz: “Warum haben wir, die Web 2.0-Fraktion, diese Leerstelle gelassen, in die er sich jetzt so begeistert wirft?”

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