#Massenmedien

Die verkannten Vorteile der klassischen Massenmedien

von , 12.1.09

Das Aufkommen „Neuer Medien“ führt jeweils zu Irritationen und Debatten über die Bedeutung und die Zukunft der traditionellen Medien. So auch aktuell wieder: Durch Blogs und Onlineangebote werde, so wird vielfach postuliert, die bestehende Öffentlichkeits- und Medienstruktur massiv verändert. Es wird vom Ende der Massenmedien gesprochen und das demokratisierende Potenzial der Onlinemedien hervorgehoben: Jeder Einzelne könne mittels Blog Themen setzen, der Journalismus erhalte durch „Bürgerjournalismus“ und „Laienjournalismus“ Konkurrenz, durch die Netzmedien würden die Massenmedien ihre Schleusenwärterfunktion und ihr zentrale Stellung in der Gesellschaft einbüßen.

Die Argumentation scheint dadurch an Plausibilität zu gewinnen, dass sich ein Teil der Massenmedien, vor allem die nationale Tagespresse (vor allem die Qualitätspresse) in den westeuropäischen Ländern, derzeit in einer schwierigen ökonomische Situation befindet. Das vermeintliche Sterben dieser traditionellen publizistischen Riesen wird allerdings nicht im Kontext mit dem erheblichen Ausdifferenzierungsprozess im Bereich der gesamten medial vermittelten Kommunikation und den sich daraus ergebenden ökonomischen Folgen gesehen, sondern generell als Niedergang der Massenmedien allgemein gedeutet.

Diese Sichtweise aber ist verkürzt. Es lässt sich theoretisch begründen und auch empirisch zeigen, dass moderne Gesellschaften auf die Institutionen der Massenmedien zur Realisierung ihrer öffentlichen Kommunikation angewiesen sind.

Medial vermittelte Kommunikation ist immer eine organisierte Form der Kommunikation – und das setzt Organisationen, Rollenträger und auf Seiten des Publikums die Kenntnis eben dieser sozialen Strukturen voraus. Es bedarf also vor allem einer Organisation, und mehr noch: Es bedarf sogar spezifischer Organisationen für die gesellschaftlich anerkannte publizistische Leistungserbringung. Denn: Eine von den Gesellschaftsmitgliedern als relevant bewertete und anerkannte publizistische Leistung ist – wie gezeigt werden soll – vor allem auch an bestimmte Organisationen und die Form der Leistungserbringung geknüpft. Themen und Deutungen erlangen erst dann Relevanz, wenn sie von allgemein zugänglichen, bekannten und gesellschaftlich mitkontrollierten Organisationen zu bestimmten – vor allem zu allgemein be- und anerkannten – sozialen Bedingungen bereitgestellt werden.

Erst die Massenmedien vermögen als Intermediäre durch ihr redaktionelles Auswahl- und Entscheidungsprogramm den gesellschaftlichen Entscheidungshaushalt fokussiert darzustellen und allgemein zugänglich abzubilden. Sie ermöglichen durch ihre Bereitstellungsleistungen eine gesamtgesellschaftliche Koordinierung. Das ist zwar nicht ihr Ziel, wohl aber das nicht intendierte Ergebniss der Medienleistungen – und darauf sind die einzelnen Gesellschaftsmitglieder angewiesen.

Die Beobachtung der gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsagenda

Die Massenmedien lassen sich als unerlässliche, soziale so robust wie stabile Strukturebene in der Öffentlichkeit moderner Gesellschaften begreifen. Daran sei erinnert, wenn derzeit wieder einmal in normativer Hinsicht überschießend beispielsweise vom öffentlichkeits- oder gar gesellschaftsprägenden Einfluss eines Web 2.0 gesprochen wird. Ähnliche Debatten wurden geführt im Kontext der Entstehung sog. „Alternativmedien“ oder im Rahmen von Konzepten von „Laien-„ oder „Bürgerjournalismus“ bei Lokalmedien. De facto haben diese Medien zu einer Erweiterung der Öffentlichkeit geführt. Sie haben das Themen- und Deutungsspektrum der öffentlichen Kommunikation fallweise wie dauerhaft zweifellos erweitert, ihre Themen werden durch die Journalisten der Massenmedien durchaus wahrgenommen und verarbeitet, doch erhalten sie erst durch diese Selektion, durch die Anerkennung von Journalisten in Massenmedienorganisationen, eine Chance auf gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung und somit Relevanz.

Es sind die Massenmedien der Gesellschaft, die

— in Themen von potenziell gesellschaftsweiter Entscheidungsrelevanz durch spezifische Selektionsprogramme auswählen und institutionalisieren und die zugleich

— in durch ihre spezifische Bereitstellungsqualität zur gesellschaftlichen Synchronisation beitragen und dadurch

— in sozialer Perspektive als Intermediäre Erwartungssicherheit durch andauernde Leistungen erzeugen und damit gesellschaftliche Koorientierung ermöglichen.

Die Rezipienten nutzen die Massenmedien, um sich über Themen zu orientieren. Und da sie wissen, dass auch andere Rezipienten so handeln, können sie sich über deren Beobachtungen zugleich orientieren – nicht im Detail, wohl aber in einem allgemeinen Sinne, denn das reicht für das eigene Entscheidungsverhalten bereits aus, zumal für eine Entscheidung über allgemeine soziale Vorgänge. Die Beobachtung der gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsagenda über Massenmedien ist aufgrund des einfachen, raschen wie kostengünstigen Zugangs zu ihnen für alle Gesellschaftsmitglieder effizient.

Die institutionelle Konstitution der Push-Massenmedien

Massenmedien sind, was die dominante Form der Bereitstellung angeht, Push- und nicht – wie im Falle des Internets – Pull-Medien. Massenmedien stellen in spezifischer Weise, zum Teil zu vorab bekannten Zeitpunkten, Themen bereit. Nur Angebote der Push-Medien sind potenziell in zeitlicher und sozialer Hinsicht für alle Rezipienten gleich verfügbar. Push-Medien strukturieren damit das Informationsverhalten der Mehrzahl der Rezipienten an jedem Tag in einer spezifischen Weise. Und auch die an der Verbreitung von Themen interessierten gesellschaftlichen Akteure wissen um diese strukturierende und vereinheitlichende Bedeutung der Push-Medien, und sie versuchen deshalb Einfluss auf die Angebots- und Themenstruktur zu nehmen – mittels PR. Beide Seiten wissen um die Publikationsrhythmen und –bedingungen. Vor allem: Nur Push-Medien können uneingeschränkt dem Bedürfnis nach größtmöglicher Sichtbarkeit von Akteuren bzw. Organisationen, Prozessen und Themen wie auch dem Bedarf an organisationaler Repräsentation zu einheitlichen Zeitpunkten entsprechen. Das trifft auch für die Akteure der Werbung zu.

Die Rezipienten wissen um die Medien, sie können den Medien bestimmte Leistungen zuordnen und sie schreiben ihnen dementsprechend Glaubwürdigkeits-, Objektivitäts- oder Vertrauenswerte zu. Was immer die Rezipienten auch tun, was immer sie auch mal nutzen: Sie wissen im Grundsatz um diese soziale Ordnung der Medien. Entsprechend diesem Wissen ist die Bindung der Rezipienten an die Massenmedien allgemein wie auch bezogen auf einzelnen Gattungen recht stabil. Natürlich variieren die konkreten Kenntnisse im Einzelfall über Medien bezogen auf Angebotsprofile wie -qualitäten, aber das ändert nichts daran, dass die im historisch-gesellschaftlichen Prozess entstandene soziale Ordnung der Medien, so in Form einer mehr oder minder allgemein bekannten Hierarchie der Medien, bekannt ist, handlungsleitend sein kann und bei einer konkreten Informationsbeschaffung handlungsleitend ist. Die Massenmedien selbst reproduzieren die soziale Ordnung beständig durch entsprechende publizistische Leistungen, aber auch – und das verstärkt – durch Marketingsmaßnahmen.

In der Debatte um die „Neuen Medien“ dominiert – wieder einmal – ein naives „Medien“-Verständnis, weil die soziale Seite der Medien nicht gesehen wird. Medien aber sind nicht nur technische Vermittlungskanäle, sondern

— Organisationen mit eigenen Zielen und Interessen,

— institutionalisiert im Sinne kollektiver Regelsysteme, und sie sind eben auch

— komplexe Sozialsystem.

Die Massenmedien sind damit soziale Institutionen unserer Gesellschaft. Sie prägen als auf Dauer gestellte soziale Einrichtungen Erwartungen bezüglich der gesellschaftlichen Kommunikation, und zwar sowohl auf Seiten der gesellschaftlichen Akteure, die sich der Medien bedienen, um ihre Themen zu verbreiten, wie auch auf Seiten der Rezipienten. Beide Seiten, an der Vermittlung von Informationen interessierte Akteure wie Rezipienten, sind also gleichermaßen für die Institution Massenmedien konstitutiv: Es etablieren sich komplexe, regelgeleitete und insoweit auch stabile Interaktionsbeziehungen und es bilden sich entsprechende Erwartungen heraus. Diese soziale Stabilität nutzen die Werbe- und PR-treibenden Akteure. Sie sind es, die sogar ein grosses Interesse an dieser vorhersagbaren sozialen Stabilität haben – sie wenden Geld für diese anhaltenden Medienleistungen auf.

Massenmedien als intersystemische Organisation

Massenmedien erfüllen zugleich die Funktion, die widersprüchlichen Momente der gesellschaftlichen Entwicklung miteinander zu verbinden, also getrennten Sektoren zu vernetzen und so zwischen diesen Lebensbereichen zu vermitteln. Sie können ohne Einbezug anderer gesellschaftlicher Vermittlungsinstanzen – von Parteien, über Verbände bis hin zu NGOs – nicht gedacht werden, weil auch diesen Organisationen eine vermittelnde Funktion zukommt. Je differenzierter, je komplexer, je mobiler die Gesellschaft ist oder wird: die Gesellschaftsmitglieder bedürfen der intermediären Instanzen, und deshalb gründen sie laufend neue und setzen für diese Ressourcen ein. Die Massenmedien gehören damit zweifellos zum intermediären System der Gesellschaft. Sie sind selbst als intersystemische Organisationen charakterisiert durch eine Verquickung von Gruppeninteressen, öffentlichen Aufgaben und Formen der bürokratischen oder auch ökonomischen Programmimplementation. Vor allem die Organisationstheoretiker Bode & Brose haben auf diesen Sachverhalt hingewiesen, und auf deren Überlegungen wird hier Bezug genommen.

Die Massenmedien behaupten – wie alle intersystemischen Organisationen – die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, und sie unterliegen gleichzeitig ökonomischen wie politischen und kulturellen Handlungsanforderungen. Die Rezipienten erwarten von den Massenmedien folglich nicht nur eine hohe publizistische Leistung an sich, sondern ein Funktionieren der Massenmedien in ihrem intersystemischen Aufgabenfeld – als vermittelnde Institutionen und Organisationen.

Massenmedien sind Institutionen und sie sind in Form intersystemischer Organisationen in der modernen Gesellschaft auf Dauer etabliert. Sie fungieren als Intermediäre, sie wollen diesen sozialen Status auch innehaben und sie positionieren sich entsprechend, sie bieten sich als Organisationen für das Zeitgespräch an, sie organisieren und moderieren Foren und sie laden zum Dialog ein. Aufgrund ihres publizistischen wie auch allgemein-gesellschaftlichen Leistungsprogramms sind sie gesamtgesellschaftlich bekannt und sie können entsprechend ihrer Qualitäten von den Rezipienten auch unterschieden werden.

Damit unterscheiden sich die Medien der öffentlichen Kommunikation elementar von anderen Organisationen, die Themen für die öffentliche Kommunikation bereitstellen, also beispielsweise von politischen Akteuren, Kulturorganisationen oder Unternehmen. Diese Anbieter mögen die Wahrnehmung öffentlicher Interessen oder Aufgaben postulieren, sie können sich aber nicht glaubwürdig als Intermediäre ausflaggen. Sie können dies auch deshalb nicht, weil sie keine entsprechende Organisation, die eine gesellschaftlich vermittelnde Funktion wahrnehmen kann, ausbilden können – oder wollen.

Von der Mediengesamtorganisation wird eine öffentliche Aufgabe wahrgenommen und diese wird ihnen zudem auch zugeschrieben. Der Grad an Wahrnehmung dieser öffentlichen Aufgabe ist, was Quantität wie Qualität der publizistischen Leistung angeht, in einer sich ständig weiter ausdifferenzierenden Medienlandschaft bei den einzelnen Medien natürlich variationsreicher geworden. Aber nur dieser Organisationstyp, also Medien in Form einer intersystemischen Organisation, vermag dauerhaft publizistische Leistungen zu erbringen. Ist keine intersystemische Organisation gegeben, wie dies beispielsweise bei Produkten des Corporate Publishing, Business-TV, Kundenzeitschriften und Anbietern und Angeboten im Internet, wie etwa auch Blogs der Fall ist, so können keine anerkannten publizistischen Leistungen erbracht werden. Und wenn intermediäre Medien herausgeben, also Parteien oder Kirchen, so ist das publizistische Spektrum beschränkt und die Herausgeber können (und wollen) auch keine allgemeine intermediäre Leistung erbringen. Die historischen Beispiele lehren, dass entsprechende Versuche zu keiner Dauerhaftigkeit geführt haben. Die Rezipienten erkennen eben solche, letztlich persuasiven, Kommunikationsabsichten.

Spiegel Online: Zweifel an der Bereitstellungsqualität

Interessante Spezialfälle stellen nun bestimmte Angebote im Internet dar, beispielsweise „Spiegel Online“. Als Ableger der bekannten Medienorganisation „Der Spiegel“ ist dieses Portal eingeführt worden und es hat – wie auch andere Portale von Medienunternehmen – eine beachtliche Nutzerfrequenz aufzuweisen. Es stellt sich zum einen die Frage, ob dieser Nutzungserfolg auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass es sich beim „Spiegel“ um eine bekannte intersystemische Organisation handelt, die auch ihre organisatorische Legitimität auf den Netzableger übertragen konnte. Offenbar ist dem so.

Zum anderen stellt sich die Frage, ob die mit dem Netzmedium verbundenen spezifischen Bereitstellungsqualitäten ausreichend sind, um auch hier von einer publizistischen Leistungserbringung – im Sinne meiner Definition – sprechen zu können. Zweifel daran bestehen vor allem dann, wenn dort von den Redaktionen Themen nur für eine kurze Dauer bereitgestellt werden. Vieles spricht dafür, dass eben nur als Massenmedien etablierte Medienorganisationen zu einer publizistischen Leistungserfüllung – hier bei „Spiegel Online“ wäre das im Sinne einer Verbundleistung zu sehen – fähig sind.

Die gesamtgesellschaftliche Anerkennung einer publizistischen Leistung ist grundsätzlich also als ein höchst voraussetzungsvoller Vorgang anzusehen und kann nur in einem längeren Prozess erreicht werden. Ein als publizistisch relevant einzustufendes Angebot muss kontinuierlich erstellt und zugleich von einem spezifisch institutionalisierten Leistungserbringer, einer intersystemische Organisation, erbracht werden. Mit dieser Aussage ist keineswegs eine Geringschätzung von Bloggern, Laienjournalisten oder Unternehmenskommunikatoren verbunden, denn sie alle tragen zu einem vielfältigen Themen-, Deutungs- und Meinungsspektrum bei. Sie agieren aber auf anderen Öffentlichkeitsebenen, und sie weisen – ganz unabhängig von ihrem Angebotsprofil, von ihrer thematischen Breite oder Enge – bestimmte organisationale Merkmale nicht auf. Sie erbringen kommunikative Leistungen, aber eben andere als jene, die die Medien der öffentlichen Kommunikation erbringen. Und der Unterschied, den wir hier konstatieren, ist nicht normativ oder gar geschmäcklerisch begründet, sondern basiert auf öffentlichkeits-, institutions- und organisationstheoretischen Überlegungen.


Der vorliegende Text ist eine Kurzfassung des Essays „Massenmedien als Intermediäre“, der in der Zeitschrift „Medien & Kommunikationswissenschaft“, Heft 3 / 4, 2008, des Hans-Bredow-Instituts im NOMOS Verlag, Baden-Baden, erschienen ist. Der gesamte Text mit allen Quellenangaben kann hier als PDF heruntergeladen werden.

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