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Kommunikationswandel: Die vier Subsysteme des Medienapparats

von , 6.1.10

Das Problem einer Revolution ist, dass man sie nicht verstehen kann, wenn man mitten in ihr steckt. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieb Thomas Kuhn wissenschaftliche Revolutionen, in denen bestehende Vorstellungen über den Haufen geworfen und durch gänzlich andere ersetzt werden. Ein Astronom beispielsweise, der jahrzehntelang die Erde als Scheibe begreift, beobachtet, kartografiert, versteht und erläutert, kommt mit seinen Instrumenten und Annahmen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht weiter. Anstelle langsamer wissenschaftlicher Arbeit entsteht ein zerstörerischer Gedanke, der Millionen Stunden Forscherarbeit einfach zur Seite fegt: Die Erde ist eine Kugel! Über Jahrhunderte entwickelte Erklärungen können nun selbst bei sorgfältiger Anpassung nicht mit der neuen Idee vereinigt werden.

Es wird von einem grundlegenden Weltverständnis zu einem ganz anderen gewechselt – von Kuhn damals Paradigmenwechsel genannt. Ein Wandel, der alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellt, denn es entsteht enorme Unsicherheit: die neue Theorie ist frisch und ungeprüft, keiner weiß, ob sie wirklich zutreffender ist als die alte. Und weil die Tradition bedroht ist, wehren sich die konservativen Kräfte: Wissenschaftlerkarrieren stehen auf dem Spiel, Lebenswerke drohen sich in nichts aufzulösen. Es dauert lange, bis sich ein neues Paradigma durchsetzt. Danach ist die Welt eine buchstäblich andere.

Wenn Frank Schirrmacher sein jüngstes Buch “Paypack” um die These konstruiert, dass sein Kopf “nicht mehr mitkommt“, wenn er fragt, wer wen “fresse” in der digitalen Gesellschaft und über den “darwinistischen Wettlauf” im Internet schreibt, dann ist sein Text geradezu ein Paradebeispiel für die Verharrungskräfte während einer Revolution, wie auch Kuhn sie beschreibt. Ganz wie bei wissenschaftlichen Revolutionen sorgt heute der digitale Strukturwandel in den klassischen Institutionen für erhebliches Unbehagen.

Die Veränderungen unserer Medienwelt sind dabei fundamental – wie der Wechsel von der Scheibe zur Kugel. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Dennoch wird in der Öffentlichkeit so getan, als hätten wir die Wahl, bei der bisherigen Organisation unserer medialen Öffentlichkeit bleiben zu können – als sei dies vielleicht allein eine Frage politischer Entscheidung. Allein aus strukturellen Gründen scheint diese Annahme mehr als fragwürdig.

Vier Elemente unserer massenmedialen Systeme

Die digitalen Kulturkämpfe, das Ringen um einen Neuanfang des Mediensystems und die Transformation der medialen Öffentlichkeit lassen sich erklären als ein Auseinanderfallen und eine Neujustierung von vier Teilsystemen unseres Medienapparats.

Diese vier Teile sind:

  1. Das mediale Verteilungssystem: die technische Infrastruktur für die Verbreitung der Inhalte. Früher waren hierfür Druckerpressen, große Vertriebssysteme und knappe Radio- und Fernsehfrequenzen notwendig.
  2. Das mediale Finanzierungssystem: die Art und Weise, wie mit Inhalten Geld verdient wird. Durch eine gleichsam glückliche Fügung gab es bisher viel Geld zur Refinanzierung von Medieninhalten. Solvente Interessengruppe suchten händeringend nach Wegen, um Werbebotschaften unter das Volk zu bringen – sie waren bisher auf den Journalismus als Trägerumfeld angewiesen.
  3. Das mediale Produktionssystem: Die Herstellkapazitäten für Inhalte. Es umfasst all jene, die als Reporter, Redakteure, Journalisten, als Schreiber, Sprecher und Filmer die Inhalte produziert haben, welche dann gesendet oder verbreitet wurden. Oder auch nicht. Was verbreitet wurde und was nicht, hing allein vom vierten Faktor ab.
  4. Das mediale Filtersystem: Die Sortier- und Relevanzmechnanismen, die Inhalte ordnen. Wenn die Kanäle knapp sind, muss entschieden werden, was verbreitet wird und was nicht. Üblicherweise denken wir beim Umgang mit Medien nicht über die Trennung von Produktion und Filter nach. Aber die wirkliche Macht im massenmedialen System haben ja nicht die Redakteure, sondern deren Chefs, letztlich die Verleger. Das Filtern war immer die entscheidende Machtfrage: Derjenige, der die teuren Verteilungssysteme aufgebaut und damit die Werbeeinnahmen hatte, nahm üblicherweise auch das Filtern vor – bei Axel Springer wurde anders gefiltert als bei Rudolf Augstein.

Der Fehler vieler Debatten über den Medienwandel ist es, eine zwingende Verknüpfung zwischen diesen vier Subsystemen zu vermuten. Dies ist ein Irrtum. Vielmehr entstehen die aktuellen Verwerfungen aufgrund von fundamentalen Veränderungen in nur zweien dieser vier Subsysteme.

Revolution, Teil 1: Aufhebung medialer Knappheit

Zum einen kollabiert nach und nach das Subsystem der Finanzierung – die Finanzierungslogik hat bisher darauf basiert, dass mediale Verbreitung knapp ist, ein Medienkanal hat Geld in die Kassen gespült, weil im massenmedialen System immer für die Knappheit des Verbreitungssystems gezahlt wurde, nie für die Knappheit der Nachricht. Im Journalismus wurde nicht reich, wer gut schreiben oder recherchieren konnte. Reich wurde, wer die Druckerpresse oder den Sender kontrolliert hat und damit auch die Werbeeinnahmen. Das ist mittelfristig vorbei.

Als Beispiel mag Coca-Cola dienen: Je mehr potenzielle Konsumenten über „Coke Fridge“ oder Facebook extrem kostengünstig direkt erreicht werden, desto weniger muss in Werbung investiert werden. Denn es gibt ja bei Coca-Cola keinerlei ursächliches Neigung, die Nahost-Korrespondenten der FAZ oder das Hauptstadtbüro von RTL zu finanzieren. Und wenn im Internet dafür noch Werbung geschaltet wird, dann ist sie in jedem Fall billiger, denn was nicht knapp ist, kann nicht viel kosten. Wer diesen Umstand verkennt und diffus die Gesellschaft auffordert, Lösungen zu finden, die den Status Quo bewahren helfen, hat offenbar nicht begriffen, dass es gerade keine automatische ursächliche Verbindung zwischen Unternehmerinteressen und einem funktionierenden Journalismus gibt.

Revolution, Teil 2: Verschiebung der Filterlast

Die zweite fundamentale Veränderung ergibt sich im Subsystem der Filter. Wo dank freier Verbreitungskanäle nicht mehr vor dem Veröffentlichen gefiltert werden muss, verschiebt sich die Filteraufgabe auf den Empfänger – was auch das Problem umreißt, mit dem offenbar Frank Schirrmacher hadert. Verlage und Sender versagen bislang vor dieser Herausforderung, oder bieten schlicht keine Lösungen an. Das bislang einzig wirklich lukrative Instrument, das interessanterweise wiederum auf Werbung basiert, hat Google entwickelt – und daher haben wohl die Verleger Google auch zum Feindbild erklärt. Ist doch das Filtern bislang ihre ureigene Macht, gekoppelt an die Kontrolle über die Verbreitungssysteme, die sie zu bedeutenden Figuren, zur vierten Gewalt im Staat gemacht hat. Interessant ist daran, dass die Verleger ihre Gegnerschaft zu Google allerdings nicht mit dem Filterthema begründen, sondern diffus beklagen, Google würde letztlich guten Journalismus unmöglich machen.

Klar ist eines: das Filtern verlagert sich von wenigen zu vielen und von Gatekeepern hin zu stärker maschinell, kollaborativ oder von beidem geprägten Filtersystemen. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Bewegung wieder umgekehrt werden kann. Forderungen an die Politik, wonach den alten Filtersystemen – die nach Willkür und dem politischen Interesse von Einzelpersonen funktionieren – auch wieder ihre alte Bedeutung zukommen müsse, sind nur schlecht begründbar.

Was ist zu tun?

Es steht außer Zweifel – jede Demokratie braucht funktionierenden professionellen Journalismus. Wir können es uns nicht leisten, dass niemand aufpasst, schmerzhafte Fragen stellt, nachbohrt, sucht, findet, entdeckt und erklärt. Klar erscheint aber ebenso: mittelfristig werden die wahrhaft wertschaffenden Medienmacher – an echten Themen arbeitende Redakteure, Journalisten, Reporter, Volontäre – nicht mehr von den Krumen bezahlt werden, die übrig bleiben, nachdem alle anderen bezahlt worden sind: die Eigentümer der Verbreitungssysteme und all jene, die mitarbeiten, aber keinen journalistischen Mehrwert erzeugen – weil sie Agenturmeldungen kopieren, Bilderklickstrecken erfinden oder Suchmaschinen austricksen.

Das ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht – mittelfristig gesehen. Wenn wir nicht mehr die Aufschläge bezahlen müssen, die fällig waren für den Unterhalt großer Distributionskanäle und für das Premium, das die institutionellen Filter für sich beansprucht haben, dann müsste auch der Journalismus günstiger werden. Vielleicht wäre er auch mit knapperen Werbeeinnahmen finanzierbar? Zu erwarten, dass auch künftig die Verlage und Medienhäuser an diejenigen, die wahrhaftig im Sinne journalistischer Arbeit unterwegs sind, spärliche Gehälter zahlen, nachdem sich alle anderen Kostenstellen am Werbekuchen bedient haben, erscheint dagegen als zweifelhafte Strategie.

Experimente sind der einzige Weg in der Revolution

Als Johannes Gutenberg oder Guglielmo Marconi die Grundlagen gelegt haben, gab es keinen Kompass, keine Leitschnur, keine Regeln, wie daraus einmal funktionierende Mediensysteme als Teil demokratischer Ordnung werden können. Sie sind gewachsen, aus unzähligen Experimenten, zum Teil über Jahrhunderte. Wir erleben gegenwärtig einen Umbruch wie zu Zeiten Gutenbergs. Darum ist es zu früh, alle Antworten zu verlangen. Es bleibt allein das Experiment: Vielleicht mit Mini-Videoteams, die Mikrofernsehen machen, oder indem man versucht zu verstehen, auf welche Weise viele Mitwirkende ein journalistisches Projekt besser machen können. Oder mit einer Seite, bei der die Leser für die Geschichte spenden, die ihnen am wichtigsten erscheint. Natürlich – auch Stiftungen und freiwillige Geldgeber können und müssen wohl eine Rolle spielen. Experimente können übrigens auch scheitern – deshalb sind es ja Experimente.

Eine entscheidende Frage ist wohl, ob in Zukunft tatsächlich der Qualitätsjournalismus nicht mehr bezahlbar ist, oder ob es allein die großen massenmedialen Verteilungssysteme und die daran hängenden Konzerne sind, die laut eigener Aussage aus Online-Werbeeinnahmen nicht finanziert werden können – während sie häufig alles andere als Qualitätsjournalismus betreiben.

Die Kugel gestalten

In ihrer bestehenden Form wird unsere Medienlandschaft nicht weiter existieren. Sie kann es nicht, bei einem derart radikalen Bruch, der ihr die fundamentale ökonomische Grundlage entzieht. Das ist keine düstere Prophezeiung, es ist eine Gewissheit. Offen ist allein, wie lange es dauert. Dieser Text ist daher auch keine Utopie oder Brandrede, sondern nichts als ein weiterer Versuch, das Unvermeidbare zu verstehen.

Ebenso wie es in der Welt der Wissenschaft immer und immer wieder Paradigmenwechsel gegeben hat, gibt und gab es sie in den verschiedensten Bereichen unseres technischen Lebens. Die Elektrizität ersetzte die Dampfmaschine. Das Pferd wurde vom Auto ausmanövriert. Das Telefon machte dem Telegrafen den Garaus. Immer sind dabei Konzerne – Weltreiche manchmal – untergegangen, immer sind dabei neue Welten und Konzerne entstanden. Die wiederum neue (meistens: mehr) Arbeit geschaffen haben und neue Prosperität.

Was uns bei dieser Revolution am ehesten beunruhigen sollte, ist die Art und Weise, mit der große Teile der deutschen Medienlandschaft diese zwingende ökonomische Logik verneinen und der Politik einzureden versuchen, das Problem ließe sich durch Verbote und Rezepte aus der alten Welt regeln. Das legt Sorge um den Medienstandort Deutschland nahe. Kuhn hat erklärt, dass die Welten vor und nach einem Paradigmenwechsel „inkommensurabel“ seien. Mit anderen Worten: so unterschiedlich, so anders, dass es kaum noch möglich ist, sie überhaupt zu vergleichen. Geschweige denn, die Rezepte aus der alten in der neuen Welt anzuwenden.

Die Medienwelt ist keine Scheibe mehr. Sie wird zur Kugel. Anstatt darüber zu streiten, wo am Firmament welcher Stern aufgehängt sein soll, ist es heute weitaus wichtiger, mit aller Macht eintausendundein Experiment zu wagen, um dieser Kugel ihre Form zu geben. Sonst tun es andere – vielleicht diejenigen, bei denen das Experimentieren tief in der Unternehmenskultur verankert ist.

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