Stochastischer Terrorismus ist so schwer fassbar wie effektiv. Das dynamische und volatile Diskurscluster dahinter nimmt Terroranschläge nicht nur in Kauf, sondern legitimiert und ermöglicht sie schon im Vorhinein .
von Natascha Strobl, 18.11.20
Von »Querdenkern« bis zu Reichsbürgern haben sich verblüffend ähnliche Muster der Radikalisierung im rechten Spektrum herausgebildet. Allen gemein ist die Rückbindung an ihre Online-Communities, die Dehumanisierung ihrer Gegner – und die Billigung der Gewalt, die zwangsläufig am Ende steht.
Eines der zu beobachtenden Phänomene der letzten Jahre ist, wie ähnlich rechtsextreme Mobilsierungen weltweit ablaufen. Das ist in einer globalisierten Welt nicht verwunderlich. Nicht nur Waren und Informationen, sondern auch Protest-, Sub- und Aktivismuskulturen laufen zunehmend globalisiert ab. Das trifft auf alle Spektren, unabhängig der politischen Ausrichtung, zu. Für den Rechtsextremismus hat sich ein sehr volatiles und dynamisches globales Spektrum entwickelt, in dem verschiedene rechtsextreme Spektren organisch in einander Greifen. Dazu zählt vor allem die Neue Rechte (in den USA die sogenannte die Alt Right-Bewegung), der es um Diskursverschiebung, ja sogar Diskurszerstörung geht. Hier ist ein Strategiewandel zu beobachten. Bis vor einigen Jahren ging es vor allem darum, selbst als Akteurin diese Strategie auszuführen, also in gesellschaftliche Debatten hineinzukommen und große mediale bzw. politische Plattformen zu erhalten. Diese wurden nicht für die Debatte und dem Austausch von Argumenten genutzt, sondern um den demokratischen Diskurs so sehr zu verminen, dass er quasi nicht mehr zu führen ist. Das zeigt sich sehr gut anhand des Themenkomplexes »Flüchtlinge«, bei dem jede noch so nüchterne Feststellung zu einer emotional aufgeladenen Debatte führt, die jederzeit zu eskalieren droht.
Seit einigen Jahren führen Teile der Neuen Rechten diese Diskurszerstörung aber nicht mehr nur selbst aus, sondern liefern die rhetorischen und diskursiven Waffen an ihre Follower*innen und Abonnent*innen.
Ausprobieren der Dehumanisierung
In den letzten Jahren wurde vor allem in Bezug auf rechtsextreme Terroranschläge wie jenen von Christchurch, Halle oder Hanau häufig von »stochastischem Terrorismus« gesprochen. Laut der deutschen Bundesregierung meint der Begriff die »medial und digital verbreitete Herabwürdigung bestimmter Bevölkerungsgruppen, u. a. mit dem Ziel, zu Gewalttaten gegen Angehörige dieser Gruppen zu animieren bzw. solche Taten zu legitimieren«. Das Wesen des stochastischen Terrorismus ist, dass nicht vorherzusagen ist, wer zum Täter und wer zum Opfer wird oder wo und wann ein Anschlag stattfindet. Klar ist nur, dass die Wahrscheinlichkeit zunehmend gleich 1 ist. Das heißt, dass das Ereignis sicher eintreten wird. Das ist mit dieser Absolutheit zu sagen, da die schiere Anzahl an potentiellen Terroristen notwendigerweise dazu führt. Potentielle terroristische Attentäter werden nicht mehr jahrelang in exklusiven und klandestinen hierarchischen Organisationen ausgebildet, um irgendwann den Auftrag für einen Anschlag zu erhalten. Sie radikalisieren sich vielmehr in kurzer Zeit vermeintlich von selbst in Online-Communities. Dieser Prozess ist aber eben kein rein individueller Prozess, sondern Teil des Wirkens eines Netzwerks der gegenseitigen Radikalisierung. Dieser Prozess ist dynamisch, volatil und es gibt viele Größen, die darin zu beachten sind.
Stochastischer Terror – ein gemeinschaftliches Projekt
Einerseits gibt es gesellschaftlich anerkannte Positionen, die mit Personen besetzt sind, die diese Rolle nutzen, um Menschenfeindlichkeit zu verbreiten. Diese Menschenfeindlichkeit ist manierlich und oft gerade noch gesellschaftlich akzeptabel verpackt. Das Resultat und der Kern sind aber das Selbe, etwa beim Bedienen rassistischer Bilder oder misogyner Positionen. Im Zentrum stehen dabei immer Ideologien der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen und Menschengruppen. Bestimmte Menschen sind weniger Wert und haben weniger Rechte verdient als andere. Deswegen dürfen und müssen bestimmte Menschen(gruppen) öffentlich abgewertet werden. Einflussreiche, oft auch bekanntere Personen, zu denen etwa Politiker*innen, Journalist*innen und Intellektuelle gehören, verleihen die Legitimation dazu. Wenn diese Personen in diesen Positionen es in Ordnung finden, Menschen abzuwerten, dann dürfen das andere auch.
Dann gibt es organisierte Rechtsextreme, die diese Legitimation dazu nutzen, um Themen und spezifische Gesprächspunkte zu setzen und diese entsprechend zu framen. So wird aus einer vagen rassistischen Grundlegitimation der ausgewachsene Verschwörungsmythos »der große Austausch«. Das funktioniert auch, weil es keine oder nur halbherzige Abgrenzung von den Legitimatoren zu den Ermöglichern gibt. Sie beeinflussen einander wechselseitig.
Als letzte Gruppe gibt es dann einen großen Online-Mob, der sich regelmäßig in (halb)öffentlichen Online-Räumen wie Telegram-Kanälen, geschlossenen Facebook-Gruppen etc. aufhält und dort die destillierte Legitimation und Themensetzung zum Beispiel in Form von Memes und Videos häppchenweise bekommt. Es braucht zum Verständnis dieser Medien keine langen theoretischen Erläuterungen – sie funktionieren auf den ersten Blick. Sie funktionieren deswegen, weil der Rückbezug in den eigenen Alltag und das große politische Geschehen durch die Legitimation der etablierten Personen möglich ist. Die Memes sind schärfer und untergriffiger, aber die dahinterliegende Botschaft unterscheidet sich nicht von dem, was in Zeitungen zu lesen oder von Politiker*innen zu hören ist.
Diese Gemengelage der Legitimation und Ermöglichung führt zu einer immer ausgeprägteren, scheinbar organisationslosen Selbstradikalisierung. Die Intensität der Radikalisierung und die Anzahl der Radikalisierten führt dazu, dass irgendwann irgendwer irgendwo gegen irgendwen diese Ideologie auch in die Tat umsetzt.
Marina Weisband beschreibt den individuellen Radikalisierungsprozess sehr präzise in diesem Video:
Wie es zum Terroranschlag kommt
Dabei ist das terroristische Attentat nur der allerletzte Schritt. Diese halbgeschützten Online-Räume, die in einem Klima der Ermöglichung und Legitimation arbeiten, haben die Funktion des Ausprobierens. Die gezielten Grenzüberschreitungen dessen, was als gesellschaftlich akzeptabel gilt, können dort tagtäglich ausprobiert werden. Dazu braucht es Ziele. Verhasste Gruppen oder Einzelpersonen werden dauerhaft durch Memes, Texte oder Videos dehumanisiert, so dass es bei entsprechender Frequenz dazu führt, dass der Schritt zur gewaltvollen Tat leicht(er) fällt. Diese Gruppen oder Personen werden von den reichweitenstarken und in gesellschaftlich hohen Positionen stehenden Personen zunächst markiert. US-Präsident Trump ist etwa so eine Person. Er muss nicht direkt dazu auffordern, eine Person zu bedrohen, es reicht, dass er sie mit einem Video oder einem Tweet markiert. Die Ermöglicher der Neuen Rechten bzw. der Alt Right beliefern diese Online-Mobs dann mit gezielten (Falsch)Informationen über diese Personen und Institutionen und bringen diese in eine schnell verdauliche Form. (Memes, Videos, Bilder etc.) Der Online-Mob kann sich dann im Schutz von Legitimation, Ermöglichung und Anonymität an dieser Person abarbeiten. Das bedeutet vor allem einmal einen Shitstorm, aber auch Mobbing, Bedrohung, Rufzerstörung. Dieses Schauspiel wiederholt sich immer und immer wieder bei verschiedenen Personen und Institutionen. Bis irgendwer irgendwann irgendwo gegen irgendwen tatsächlich zur Waffe greift. So geschehen in Hanau, Christchurch, Halle, El Paso usw. Die Täter eint, dass sie (mittels Manifest, Live-Übertragung) an ihre Online-Community rückgekoppelt waren und vor allem ein rabiat frauenhassendes Weltbild gepaart mit Rassismus und Antisemitismus besaßen. Frauenhass ist die Einstiegsdroge in die Online-Communities, aus denen der stochastische Terrorismus entwächst.
Stochastischer Terrorismus ist so schwer fassbar wie effektiv. Es gibt keine Auftraggeber*innen, keine Verantwortlichen und niemanden, der gesagt hat, dass er dieses Resultat möchte. Am Ende kann man dem Täter die Verantwortung zuschieben und ihn zum wirren Einzeltäter erklären. Das blendet aber das dynamische und volatile Diskurscluster dahinter aus, das diese Terroranschläge nicht nur in Kauf nimmt, sondern schon im Vorhinein legitimiert und ermöglicht.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Reihe #onezerosociety. Darin gehen wir in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut den Formen, Möglichkeiten und Grenzen einer bestehenden und kommenden »digitalen Zivilgesellschaft« nach.
Weitere Beiträge in der Reihe #onezerosociety:
Johanna Seibt: »Mit Robotern leben lernen«
Robert Feustel: »Das Zero-One-Game: Politik als Spiel«
Nicolas Friederici: »Towards a fair European platform economy«
Daniel-Pascal Zorn: »Eine Geschichte aus zwei Städten«