von Hans F. Bellstedt, 12.11.17
Schaut man auf die Liste der Themen, die im Rahmen der Jamaika-Sondierungen erörtert werden, so trifft man auf viele alte Bekannte wie Klimaschutz, Steuern oder Breitband. Keine Frage: Die nächste Koalition muss Strukturreformen anpacken. Gleichwohl muss Jamaika, müssen Union, FDP und Grüne sich auch an Themen heranwagen, die noch nicht in jeder Talkshow vorkommen, die aber für die Zukunft unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. Dazu zählt an vorderster Stelle die Künstliche Intelligenz (KI).
Computer sind heute zunehmend in der Lage, kognitive Fähigkeiten des Menschen nachzuvollziehen. Selbst wenn sie keine eigene Intelligenz entwickeln, so können sie – durch Aufnahme, Aggregation und Verarbeitung einer rasant steigenden Menge von Daten – Prozesse und Kapazitäten des menschlichen Hirns simulieren. Auf dieser Basis sind die smarten Rechner in der Lage, juristische Akten auszulesen, Kreditwürdigkeitsprüfungen vorzunehmen oder Presseartikel zu durchkämmen. Naheliegend, wenngleich nicht unumstritten ist der Einsatz durch Sicherheitsbehörden. Zugleich hebt das autonome, automatisierte Fahren unsere Automobilindustrie, wie wir sie bisher kannten, gerade aus den Angeln.
Die Befürworter von KI haben ein gewichtiges Argument in ihrer Hand: Während der Mensch biologischen Schwankungen – etwa Konzentrationsschwächen – unterliegt, tendiert die Fehlerhaftigkeit der programmierbaren Maschine durch kontinuierliches Lernen letztlich gegen Null. KI überwindet zudem die intuitive Voreingenommenheit des Menschen: Bei der automatisierten Begutachtung von Lebensläufen hat das Bauchgefühl als Selektionskriterium ausgedient.
Bei möglichen Anwendungen von KI fehlt es insoweit nicht an Phantasie. Eine mögliche Jamaika-Koalition aber muss fragen: Wie steht es um die gesellschaftlichen Implikationen der Künstlichen Intelligenz? Was bedeutet es für den Arbeitsmarkt, wenn Maschinen an die Stelle des Menschen treten? Wie soll ein autonom fahrendes Auto reagieren, wenn eine Mutter mit Kinderwagen plötzlich die Straße überquert, während im Falle des Ausweichens eine größere Gruppe an Passanten in Gefahr geriete? Und wie lässt sich angesichts der Verbreitung von Sprach- und insbesondere Gesichtserkennungssystemen die Privatsphäre schützen?
Einige dieser Fragen sind in der letzten Legislaturperiode schon adressiert worden. So hat die „Ethikkommission automatisiertes und vernetztes Fahren“ unter der Leitung des früheren Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio „Regeln der Programmierung“ vorgeschlagen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat ein Weißbuch „Arbeit 4.0“, Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) eine Drohnenverordnung vorgelegt.
Aber das kann nur der Anfang gewesen sein: Neben Autonomem Fahren oder Haus-Assistenzsystemen werden wir uns künftig auch mit Robotik im Bereich der Altenpflege oder Forschungsvorhaben zur Verlängerung des Lebens befassen müssen. „Gene Editing“ verspricht ein Reizthema à la Stammzellenforschung zu werden.
Jamaika muss daher die Chancen, aber auch die zivilisatorischen Risiken dieser wohl disruptivsten aller neuen Technologien in den Blick nehmen und einen rechtlichen Rahmen für sie schaffen. Mögliche Maßnahmen wären: Pilotprojekte zur Anwendung von KI im Öffentlichen Sektor, Förderprogramme für kleine und mittlere Unternehmen zur Entwicklung kognitiver Verfahren und Produkte sowie die gezielte Ausbildung von KI-Spezialisten im Arbeitsumfeld wie auch an Hochschulen.
Im neuen Bundeskabinett braucht es eine klar definierte und eindeutig verortete Zuständigkeit für KI, beispielsweise in einem Ministerium für Digitalisierung, Innovation und Bildung. Auch sollte ein ständiger, multidisziplinär zusammengesetzter „Ethik-Rat KI“ berufen werden, der Gutachten für die Bundesregierung verfasst und Gesetzesvorhaben begleitet. In jedem Falle gehört KI oben auf die politische Agenda – das sind die Koalitionäre ihren Wählern mindestens so schuldig wie besseren Klimaschutz, schnelleres Breitband oder Steuererleichterungen.
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