von Matthias Schwenk, 23.7.10
Apples iPad wird die Verlagsindustrie retten, meinte bekanntlich Springer-Chef Mathias Döpfner und empfahl Verlegern, einmal täglich Steve Jobs dafür zu danken. Dabei wird Döpfner allerdings kaum an Medienformate gedacht haben, wie sie uns nun in Gestalt von Flipboard entgegen treten. Die Zukunft von Medien auf Geräten wie dem iPad kann eben auch ganz anders aussehen, als Verleger bis vor kurzem noch dachten.
Flipboard ist eine kostenlose Applikation für das iPad, die in ihrer Optik an ein Magazin erinnert. Man blättert sie durch wie ein Heft und die einzelnen Seiten reißen jeweils zwei oder mehr Themen an, deren Textblöcke, Überschriften und Illustrationen wie aus einem gedruckten Vorbild übernommen wirken. Tatsächlich aber ist Flipboard kein Magazin im klassischen Sinne, sondern in seiner Machart eher den RSS-Readern verwandt:
Es bezieht seine Inhalte aus anderen Medien (ohne dabei die RSS-Technologie zu verwenden) und folgt dafür den Empfehlungen bzw. Links, welche die Facebook-Freunde bzw. Twitterer, denen der jeweilige Flipboard-Leser folgt, gesetzt haben. Deren Name und Profilbild wird bei jedem Artikel mit eingeblendet, so dass der Leser erfährt, wem er eine Empfehlung verdankt. Ähnlich wie bei Rivva Social bekommt der Nutzer also seinen persönlichen Nachrichtenstrom zusammengestellt.
Am Dienstag (20.07.2010) wurde der Dienst vorgestellt, seither berichten die Medien fast durchweg von positiven ersten Eindrücken, die meisten Tech-Blogs sind schlicht begeistert. In der Folge war der Run auf die Applikation, die derzeit nur den gut 3 Millionen Besitzern eines iPad zugänglich ist, zeitweise so groß, dass die Server von Flipboard dem Ansturm nicht ganz gewachsen waren.
Tatsächlich ist Flipboard optisch sehr ansprechend, was auf dem iPad naturgemäß gut zur Geltung kommt. Diese Applikation will aber nicht nur mit einer schönen Oberfläche glänzen: Sie tritt mit dem Anspruch an, Wichtiges von Unwichtigem trennen zu können, Doubletten zu vermeiden und aktuelle Trends in der Nachrichtenlage zu berücksichtigen. Zum Einsatz kommen hierfür semantische Technologien und natürlich jede Menge Algorithmen.
Flipboard stellt damit wohl aktuell die technologische Spitze dessen dar, was ein computerisiertes Redaktionssystem zu leisten vermag: Die Software erstellt ein sich laufend aktualisierendes, personalisiertes Nachrichtenmedium im Layout eines Magazins, das über die wahlweise Einbindung von Facebook und Twitter (geplant sind weitere Dienste) individuell und sehr aktuell auf die persönlichen Informationsinteressen seiner User eingehen kann.
Dazu kommt bei diesem Ansatz, dass er keine Trennung mehr zwischen klassisch-redaktionellem Content (Artikel aus einer Zeitung) und privaten Meldungen (Fotos aus dem Urlaub) zieht. Flipboard spiegelt damit wieder, wie sich auf Social Networks die Sphären Privates und Berufliches, Nachrichten und Unterhaltung mischen können. Das aber ist kein Zwang, denn man kann sich über die Funktion der Twitterlisten auch “sortenreine” Nachrichtenkanäle einrichten.
Ganz rund läuft das alles freilich noch nicht. Doppelmeldungen auf Twitter werden noch nicht ganz eliminiert, das System hat hier noch eine leichte Schwäche. Schwerer wiegt der Umstand, dass die angerissenen Artikel mit ihren Illustrationen (sofern vorhanden) und Überschriften zwar sehr gut aussehen, die Textblöcke aber doch recht abrupt enden oder teils so kurz ausfallen, dass ein sinnvolles Einlesen in das Thema eines Artikels nicht möglich ist. Hier merkt man, dass eine klassische Redaktion “aus Fleisch und Blut” immer noch mehr leisten kann als ein rein software-gestütztes System. Freilich gelingt letzterem eine Individualisierung, vor der jede menschliche Redaktion dieser Welt schlicht kapitulieren muss.
Abzuwarten bleibt, welche Akzeptanz dieser Dienst über den Anfangs-Hype hinaus finden wird und wie stark er im Lauf der Zeit verbessert wird. Im (Social) Web gab es schließlich schon zahllose Versuche, Nachrichten zu aggregieren, auf breiter Ebene durchgesetzt hat sich davon aber praktisch noch nichts. Bei Flipboard könnte es passen, sofern die Artikel-Teaser mittelfristig so gut werden, dass sie für den Leser durchgängig einen echten Mehrwert darstellen und die Konzentration auf Wesentliches wirklich gelingt.
Ansonsten bleibt das Publikum vermutlich auf Facebook oder Twitter, denn kurz und kryptisch können auch diese beiden Dienste. Bei Facebook kann man zudem darauf wetten, ab wann auch hier in der Timeline des News-Feeds Teaser nach der Machart von Flipboard auftauchen werden: Finden die Leser Flipboard gut, dürfte sich Mark Zuckerberg nicht zu schade sein, diese Funktion so gut wie möglich für sein Social Network zu kopieren.
Ein weiteres Problemfeld für Flipboard sind die traditionellen Medien, die mit Argwohn und Argusaugen auf das weite Feld der Nachrichtenaggregation im Web schauen. Ihnen passt die ganze Entwicklung nicht. Google kann ein Lied davon singen, geraten doch die Google News immer wieder ins Visier des vermeintlichen Wettbewerbs, während hierzulande gerade FAZ und Süddeutsche den Perlentaucher in dritter Instanz gerichtlich verfolgen, weil sie dessen Zusammenschau ihrer Feuilletons und die Kurzfassungen von Rezensionen als eine Kröte empfinden, die sie nicht zu schlucken gewillt sind.
Bei Flipboard dürfte man auf Ungemach dieser Art schon eingestellt sein. Klugerweise startet der Dienst deshalb kostenlos und werbefrei. Werbung soll in einer späteren Stufe folgen und im Wege des Revenue-Sharing mit den Anbietern geteilt werden, deren Inhalte geteasert werden. Zudem kann der Dienst geltend machen, dass keine ganzen Artikel übernommen werden, sondern nur Teile davon und die Leser zur vollständigen Lektüre per Link auf die Website des Anbieters geschickt werden. Damit das reibungslos funktioniert, kommt Flipboard mit einem eigenen Browser innerhalb der App. Die Leser müssen also nicht zwischen verschiedenen Applikationen auf dem iPad hin und her wechseln.
Ob die mitunter recht langen Artikel-Teaser auf Flipboard rechtlich einwandfrei oder zu beanstanden sind, wird sich zeigen. Mit ziemlicher Sicherheit dürfte sich in den nächsten Monaten irgendwo einen Verlag finden, der seine Inhalte hier zu Unrecht übernommen sieht. Das Grundproblem hierfür liegt aber weniger in der Auslegung überkommener oder neuerer Rechtsvorschriften (Leistungsschutzrechte!), sondern im Paradigmenwechsel der Distribution von Nachrichten.
Hierfür werden die Verlage noch einsehen müssen, dass die klassischen Bindung der Leser, wie sie im Zeitalter der Printmedien möglich und üblich war, sich in der digitalen Gesellschaft nicht wird aufrechterhalten lassen. Wo im 20. Jahrhundert nur eine kleine Elite mehrere Tageszeitungen las, werden künftig vermutlich breite Schichten den Mehrfach- bzw. Parallelkonsum diverser Medien pflegen, der zudem durch die Konvergenz im Digitalen, wo Text- und Bewegtbildformate nahtlos ineinander übergehen können, gefördert wird.
Die Ansätze diverser Verlage, mit ihren Applikationen auf dem iPad möglichst nahtlos an das Modell des Printzeitalters anzuschließen, mögen zwar teilweise funktionieren, werden aber sicher nicht das maßgebliche Modell für die Zukunft sein. Denn sie sind ein Schritt zurück, mit dem diese Medien noch hinter das Social Web zurückfallen.
Dienste wie Flipboard wiederum müssen erst noch den Beweis erbringen, dass sie die keineswegs triviale Kunst der Aggregation von Nachrichten wirklich beherrschen. Bis heute hat auf diesem Gebiet kein Anbieter den großen Durchbruch geschafft, weil zwar viele Ansätze gut waren, dann aber doch nicht weit genug gingen: Meist fehlte es entweder an der Konzentration auf das Wesentliche oder den Möglichkeiten der Individualisierung. Mit Flipboard bleiben zumindest auf letzterer Ebene kaum Wünsche offen, während bei der Darstellung und der Aggregation noch Potenzial für Verbesserungen besteht.
Insgesamt aber stimmt die Richtung und Verleger wie Mathias Döpfner könnten ihre Euphorie in Bezug auf Steve Jobs und das iPad noch korrigieren müssen. Denn Flipboard weist zumindest in eine Richtung, in der die Aggregation von Nachrichten attraktiv und dynamisch erscheint, während herkömmliche Medien-Apps dagegen langweilig und statisch wirken.
Ergänzung: Einen guten Eindruck vom Programm bekommt man bei diesem Video eines Flipboard-Nutzers.
(via)