von Michael Seemann, 16.10.13
Die Diskussion dauert an, und nun hat sich Metronaut mit einer lesenswerten Replik zu Wort gemeldet. Man nimmt hier zunächst meine Analyse an, aber verweist dann auf die traurigen Folgen, die sie nach sich ziehen würde:
“Das Ende der Privatsphäre, wie wir es gerade erleben, ist in diesem Sinne eine totale Niederlage. Wir haben die Privatsphäre verloren, ohne dass sich an Hierarchien, Herrschaft und Kontrolle etwas verändert hätte. Im Gegenteil sogar zementiert sich Herrschaft durch den Verlust der Privatsphäre. Sie baut ihre Macht auf unsere Kosten aus – und es wird immer schwieriger diese zurück zu gewinnen.”
Ich finde diese Einschätzung zu pessimistisch. Aber um das klar zu machen, müssen wir jetzt mal über Macht, Privilegien und Privatsphäre sprechen.
Wenn man den abstrakten (und bisweilen metaphysischen) Begriff der Privatsphäre ad acta gelegt hat, bleiben – wenn sich der Staub gelegt hat – konkrete Situationen der Beobachtung übrig, die jeweils in ein Machtverhältnis eingebunden sind. Überwachung ist immer eine Relation und hat ein Gegenüber. Und es ist nicht egal, wer dieses Gegenüber ist. Es ist nicht egal, ob ein Anwohner mich beim Falschparken beobachtet, oder das Ordnungsamt. Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, halte ich immer an roten Ampeln, wenn ein Polizeifahrzeug neben mir steht. Das Gegenüber der Überwachung muss, um als solches überhaupt empfunden zu werden, Sanktionsmöglichkeiten gegen mich in der Hand haben.
Überwachung ist nicht gleich Macht, sondern Macht macht Beobachtung zur Überwachung.
Das Bedrohungspotential von Überwachung kann man folgendermaßen beschreiben:
Bedrohungsszenario = Art/Umfang der Überwachungsmaßname + (Sanktionseintrittswahrscheinlichkeit * möglicher, persönlicher Schaden aus der Sanktion)
Hiernach ist der mächtigste Mensch im Leben der meisten Menschen ihr Chef. Für Menschen in Hartz IV der persönliche Sachbearbeiter der Arbeitsagentur. (Und tatsächlich gibt es hier krasse Entwicklung in Sachen Überwachung, die auch von der Datenschutzszene viel zu selten adressiert werden.) Nach dem Chef kommt erst mal eine lange Zeit nichts. Und dann nicht etwa der Staat, sondern das eigene soziale Umfeld. Die Familie, die Ehepartnerin/der Ehepartner, die Freunde und Bekannten, etc. Ihr Wissen und ihre Meinung über einen selbst haben einen direkten und täglich erfahrbaren Impact auf die eigene Lebensqualität.
Erst dann kommen äußerliche Faktoren, wie der Staat. Das Finanzamt, die Polizei. Auf derselben Stufe stehen Krankenversicherung, Schufa, etc. Und erst nach langem Abstand und vielen, vielen anderen Dingen kommt irgenwann einmal die NSA und die eventuelle Gefahr, eines Tages mal nicht in die USA einreisen zu können.
Nun ist es so, dass die Rechnung da oben eng an die soziale Stellung gekoppelt ist. Aber nicht so, wie es bei Metronaut angedeutet wird: je privilegierter, desto mehr sei man aus dem Schneider, sondern genau umgekehrt. Das Bedrohungspotential ist, wie gesagt, abhängig vom möglichen, persönlichen Sanktionsschaden. Und dieser wiederum steht im proportionalen Verhältnis zu dem, was man zu verlieren hat. Wer viel zu verlieren hat, erlebt ein massiveres Bedrohungsszenario als der, der wenig zu verlieren hat. Der Manager einer Bank kann durch eine geleakte Mail tiefer fallen als der Angestellte, der Angestellte tiefer als der Arbeitslose, etc.
Der Kontrollverlust trifft alle gleich. Doch nicht alle haben das Gleiche zu verlieren. Der Politiker bekommt größere Probleme als der Normalmensch, wenn beispielsweise amoralische Dinge über ihn ans Licht kommen. Auch die Eintrittswahrscheinlichkeit ist höher. Sein Leben, seine Vergangenheit (und zum Beispiel seine wissenschaftlichen Arbeiten) werden stärker durchleuchtet.
Eine Institution wie die NSA wird vom Kontrollverlust mindestens genau so getroffen, wie sie Vorteile aus ihm zieht. Seit Snowden ist die NSA quasi gelähmt. Alle Prozesse und Clearings müssen überprüft werden. Keiner vertraut mehr irgendwem. General Alexander will aus Angst vor Leaks den Großteil aller Systemadministratoren wegautomatisieren. Viel Glück kann man ihm da nur wünschen.
Das FBI unter J. Edgar Hoover führte keine Akten über irgendwelche Unterprivilegierten. Wozu sollten die auch gut sein? Big Brother aus 1984 überwachte den Großteil der Bevölkerung – nämlich die “Proles” – überhaupt nicht. Überwacht wurden nur die Mittelschicht und die Elite. Warren und Brandeis schrieben über das “Right to Privacy” aufgrund der aufkommenden Klatschpresse und der Verbreitung der ersten bezahlbaren Kleinbildkameras von Kodak. Es waren nicht die unteren Schichten, die diese Sorgen teilten, sondern es waren die unteren Schichten, die diese Sorgen bereiteten.
Spiegelbildlich auch die Datensammelei der Internetkonzerne. Der Wert der Daten eines Menschen (seine Vorlieben, seine soziodemographischen Faktoren, etc.) steht im proportionalen Verhältnis zu seiner Kaufkraft. Das ist das Einzige, was die Wirtschaft interessiert. Je mehr Geld du hast, desto wertvoller sind auch deine Daten. Mit den Daten von mittellosen Familien in Ostindien lässt sich halt kein Geld verdienen.
Im Allgemeinen gilt: Je privilegierter und mächtiger du bist, desto mehr bist du einerseits Ziel und andererseits tatsächlich bedroht von Ausspähung und damit vom Kontrollverlust. Das ist auch der Grund dafür, dass der Kampf für Privatsphäre vor allem aus dem Bürgertum kam. Privatsphäre war immer schon eine Absicherung von Privilegien – auch nach unten. Der Jammer über den Verlust der Privatsphäre ist nicht umsonst bis heute sehr weiß, gut gebildet und gut situiert. Andere Leute haben echte Probleme.
Nun will ich nicht leugnen, dass der Verlust der Privatsphäre ganz massive Folgen auch für beispielsweise die linke Szene hat. Wer politisch aktiv ist, läuft ebenfalls schnell Gefahr, überwacht zu werden, und ja, durch den Kontrollverlust haben sich die Möglichkeiten des Staates dazu vergrößert. Gleichzeitig haben sich aber auch die Möglichkeiten zur schnelleren und umfassenderen Vernetzung erweitert. Auch das Möglichkeitsfeld und der Aktionsradius der Linken hat sich vergrößert. Aber das habe ich ja bereits zur Genüge woanders ausgeführt.
Unterm Strich sehe ich die Folgen dieses Wandels also nicht allzu pessimistisch. Keine Frage: Es gibt Opfer und auch unschuldige, unterprivilegierte, hilflose Opfer. Und ja, es ergeben sich neue Gefahren für die Demokratie und die Meinungsfreiheit. All das gilt es nicht kleinzureden, sondern zu adressieren und zu bekämpfen. Aber das Ende der Privatsphäre ist eben nicht das Ende von Freiheit, Pluralität und Frieden, wie es viele darzustellen versuchen. Diese Eigenart, die Privatsphäre in den Mittelpunkt des Wertekanons zu stellen und alles mögliche aus ihm abzuleiten, hat tante sehr gut dekonstruiert. Ich halte das nicht für berechtigt, und ja: für eine Sackgasse.
Crosspost von HIER
- Zwei Sichtweisen · Thomas Stadler: Die Post-Privacy-Falle