von Hans Hütt, 17.2.14
Der Begriff der politischen Kultur erlebt in diesen Tagen auf erstaunlichen Umwegen Wiederauferstehung. Almonds und Verbas Studie aus den 50er Jahren traf – um es für die Zwecke dieses Beitrags zusammenzufassen – die Unterscheidung zwischen parochialer Kultur, Untertanenkultur und partizipierender Kultur. Maßgebliche Variabeln für die Unterschiede sind Aufbau und Struktur des Systems, Inputmöglichkeiten, Outputfähigkeiten und Selbstwahrnehmung.
Unser Neobiedermeier hat sich an der Schnittstelle zwischen parochialer Kultur und Untertanenkultur gemütlich eingerichtet. Der Fall des Abgeordneten Sebastian Edathy illustriert den Sachverhalt auf die schmerzhafteste Weise.
Aufbau und Struktur des Systems
Die erste Variable, Aufbau und Struktur des Systems, betrachte ich unter dem verengten Aspekt der deutschen Kultur des Dienstwegs. Dass der Bundesinnenminister Dienstvorgesetzter des BKA-Präsidenten ist, was heißt das in Bezug auf die Frage, worüber der Untergebene seinem Dienstherren berichtet? Dass die Gardinen von Lieschen Müller seit drei Monaten nicht gewaschen worden sind? Dass aus dem Zögling Törleß kaum mehr was werden wird? Dass Mahlke nicht schwimmen will? Dass es da etwas gegen einen prominenten Abgeordneten der Sozen gebe?
Die Fiktionalisierung der Berichtsroutinen scheint nur willkürlich. Tatsächlich geht nichts davon den Bundesinnenminister an. Es sei denn, und dass kennzeichnet die Ähnlichkeit zwischen dem Neobiedermeier und dem Zeitalter der Restauration nach dem Wiener Kongress, dass die Führung infolge chronischer Überforderung sich nach Einzelheiten verzehrt. Nicht der Überblick zählt, sondern die Möglichkeit, mehr oder weniger symbolische Geschäfte zu machen, Deals zu ermöglichen, Bande zu spinnen oder zu trennen. Das lernt man besonders schnell und gründlich unter dem Regime des bayerischen Espenlaubregenten. Unter der absoluten Herrschaft Horst Seehofers heißt es, auf jedes Zittern und Zetern mit geeignetem Material vorbereitet zu sein. Hans-Peter Friedrich weiß, warum er sich gegen die Berufung in das BMI gesträubt hat. Er hatte nicht nur keine Chance. Er hat sie auch falsch genutzt.
Wir kennen das aus den Romanen von Stendhal. Nicht die Bindung an Recht und Gesetz zählt, auch nicht die Fähigkeit der Führung, einen strategischen Begriff ihrer eigenen Aufgabe zu entwickeln, sondern das tägliche Menü mit Einzelheiten nach Lust und Laune zu bestücken. Dass das Muster dieses Führungsverständnisses kürzlich in Brandenburg auch den Dienstweg bis nach ganz unten gefunden hat, indem Finanzbeamte den Sachstand ihrer eigenen Steuerakten sowie den von Nachbarn und Verwandten auskundschafteten, bezeugt, wie moros die Führungskultur dieser Republik sich entwickelt hat. Der Spähskandal findet erst dann den größtmöglichen Höhepunkt, wenn sich herausstellen sollte, dass einzelne Beamte der Dienste aus dem abgeschöpften Material Informationen zum persönlichen Vorteil missbraucht haben. In den USA ist genau das bereits aktenkundig.
Der Zugriff auf Akten, auf elektronische Daten, bezeugt an dem Beispiel Sebastian Edathys den größtmöglichen Schaden, der einer Person aus der Missbrauchsmöglichkeit entstehen kann. Dabei tut es nichts zur Sache, dass es sich bei Edathy um eine Person des öffentlichen Lebens, einen direkt gewählten Abgeordneten handelte. Fridolin Hasewinkel aus Castrop-Rauxel hätte den Nachteil, dass sich kein Mensch um ihn kümmerte, wenn ihm aus einem bloßen Verdacht der Boden unter den Füßen schwände.
Der Dienstweg ist mehr als die Kohabitation zwischen Führung und Untergebenen. Am Beispiel des von Edathy geleiteten NSU-Untersuchungsausschusses haben wir erfahren, in welcher Willkür Akten in Landes- und Bundesbehörden geführt werden. Wie willkürlich, zufällig oder vorsätzlich für die Erhellung eines Sachverhalts dienliche Akten geshreddert oder zurückgehalten werden. Es gibt zwar IT-Abteilungen in allen Behörden, aber nach meinem Eindruck nur wenige, die tatsächlich darüber nachdenken, was die Aktenführung von Behörden in der Neulandwelt des Internets bedeutet und erfordert. Ein Indiz für den hier wichtigen Aspekt des Aufbaus und der Struktur unseres Systems gibt die Praxis der Informationsfreiheitsgesetze. Die Rechenschaftspflicht nach dem Gesetz wird so lange und so intensiv wie möglich durch die Führungen behindert oder unmöglich gemacht. Die politische Führung und die Verwaltung machen sich unter dem System des Neobiedermeiers einen schlanken Fuß. Willkür kennzeichnet die Routine. Einzelheiten bestimmen das tägliche Geschäft. Der für heute zu erwartende Fall des einstigen Bundesinnenministers Friedrich spiegelt diesen Sachverhalt.
Inputmöglichkeiten
Dem Buchstaben der Gesetze nach leben wir in einer sehr partizipativen Kultur. Keine Planung ohne Einspruch. Auslegungspflichten, Sachverständigenanhörung, konkurrierende Lobbies aller Orten. Im System der vermachteten Interessen gibt es allerdings parallel zu den Normen und Routinen des Rechts eine Schattenzone, eine Diretissima, den direkten Zugang zu Entscheidern aller Ebenen, oft vorbei am Dienstweg, oft ohne Niederschrift bzw. Dokumentation des ausgeübten Einflusses. Die Spitze des Eisbergs markieren ausgeliehene Mitarbeiter aus Unternehmen und Verbänden oder spezialisierte Law Firms, die in den Bundesministerien oder unmittelbar an der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen beteiligt sind. Nach Maßgabe vermachteter Interessen sehen die tatsächlichen Inputmöglichkeiten danach aus, als sei Begünstigung im Amt die undokumentierte Norm, die tatsächliche Praxis, das ungeschriebene Recht des Stärkeren.
Die kürzlich in den alten Medien auf so wundersame Weise skandalisierte onlinePetition gegen den ZDF-Moderator Markus Lanz illustriert so etwas wie eine zwanghafte Ersatzhandlung. In mehr oder weniger ausgeprägter Mitwisserschaft zu dem, was der Fall ist, ereifern sich die Kommentatoren über den aus ihrer Sicht illegitimen Mitwirkungsanspruch der Massen da draußen. Der Pöbel. Die Trolls. Sind sie nicht bloß Furunkel am Arsch des Systems?
Nein, das System, das solche Haltungen hervorbringt, scheint am Arsch.
Die Inputmöglichkeiten sind geprägt durch einen systemischen Bias zu Gunsten mächtiger Interessen. Wo diese Interessen in Konflikt mit politischen Vorhaben geraten, kommt es gelegentlich zu nützlichen Bauernopfern. Der Fall des ADAC belegt nicht etwa die Selbstheilungskräfte eines Systems von Checks & Balances, sondern eher die Willkür nach Opportunitätskriterien der politischen Macht. Auf einen saloppen Nenner gebracht, lebt unser Inputsystem von der informellen Norm: Erlaubt ist, was der Macht dienlich scheint.
Outputfähigkeiten
Wirtschaftlich scheinen sie enorm über alle Maßen. Politisch sieht es bescheidener aus. Die Masse allein macht es nicht aus. Nehmen wir nur zwei Beispiele aus der jüngeren Politik: die Aussetzung (nicht Abschaffung!) der Wehrpflicht und damit der Umbau der Bundeswehr insgesamt sowie die sogenannte Energiewende. Der Amtsantritt der neuen Ministerin illustriert einen alten Trick politischer Führung: Mach ein riesiges neues Fass auf und erzeuge dadurch die Compliance auf allen anderen überschaubar scheinenden Feldern deines Ressorts. In vorauseilendem Gehorsam, zugleich in tiefster Ungewissheit, was tatsächlich auf sie zukommt, arbeiten alle Ebenen, vorübergehend, wie an straffer Leine geführt. Dafür hat nach der Gesundheitsreform Ulla Schmidts der Gesundheitsfonds anschauliche Beispiele geliefert. Alle Leistungserbringer haben dagegen gezetert, aber als sie sahen, wie Manna-gefüllt dieser Topf ist, erzeugte die schiere Masse eine zeitweise kaum vorstellbare Compliance der gesundheitspolitischen und -wirtschaftlichen Akteure.
Die Energiewende ist für die deutsche Politik und das große Feld politischer Planung ein gutes Beispiel für einen großen – opportunistisch dem Machterhalt dienenden – Gedanken mitsamt der bei der Umsetzung zutage tretenden Kalamitäten. In ein wild verkrautetes Feld von Eisenspänen unterschiedlicher Reinheit wird ein Magnet gehalten, alles scheint sich plötzlich danach zu richten, bis die schiere Schwerkraft den Magneten unter der Last der angezogenen Späne zu Fall bringt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Aufgabe, die Sigmar Gabriel schultern soll, als so groß zu erachten, dass darunter seine politische Führungsaufgabe in der eigenen Partei leiden könnte. Im dreidimensionalen Schachspiel ihres eigenen Machterhalts hat Frau Merkel Herrn Gabriel ins Joch genommen. Bisher sieht es so aus, als beherrsche Gabriel noch beide Baustellen: die Energiereform und ihre operative Umsetzung sowie die eigene Partei. Seine politische Intelligenz weiß zwischen Einzelheiten und Strategie zu unterscheiden.
Selbstwahrnehmung
Wie sieht die Selbstwahrnehmung des politischen Systems aus? Was hören wir auf den (virtuellen) Marktplätzen der Vierten Gewalt über unser politisches System? Zeigt es sich diskursiv und operativ den mutmaßlichen Aufgaben des nächsten Jahrzehnts gewachsen? Hat es sie zutreffend adressiert? Symptomatisch reicht die Analyse der politischen Sprache nicht mehr aus, um diese Fragen sachgerecht zu beantworten. Wir nehmen allenfalls Symptome wahr. Die Kanzlerin sucht ihr Heil in einer Sprache, die alles anspricht und nichts aussagt. Alles Reden, alle Haltungen scheinen dem alleinigen Ziel des Machterhalts untergeordnet, alles, was die Macht gefährden könnte, wird auf Zeit in abgelegene Umlaufbahnen katapultiert (Prüfstande, Kommissionen, Verhandlungen, Dossiers), nur kommt jetzt, scheinbar über Nacht, von einer Seite Unwucht in dieses Jonglage, an der auch Frau Merkel Schaden nehmen könnte.
In der Selbstwahrnehmung des Systems ist ihr größter Vorteil die von ihr ausgestrahlte Unaufgeregtheit, Nüchternheit, bis in den verwaschenen uckermärkischen Sound. Erdung aus allen Poren. In einer hyperkomplexen Welt scheint das ein strategischer Vorteil – weit über die kommunikative Performanz hinaus – zu sein. Selbst ein Schwergewicht wie Gabriel wirkt im Vergleich zu ihr noch zu nervös, noch zu sprunghaft, zu sehr auf den Vorteil bedacht, als dass sie im Rennen zwischen Igel und Hasen je die Hasenrolle übernähme.
Was erst jetzt unter dem Blickwinkel des Neobiedermeiers genauer in den Blick rückt: Ruhe scheint nur noch die erste Regentenpflicht. Sie hat sie verkörpert, bis sie zu einer sich selbst erklärenden Norm geworden ist. Dass sie auch anders kann, zeigte ihre Entfernung Norbert Röttgens. Wir werden es vielleicht schon bald am Beispiel erleben, wie die politische Karriere Hans-Peter Friedrichs umgelenkt wird. Die Hanns Seidel Stiftung mache sich bereit. Der Espenlaubregent Seehofer braucht nur auf das Geburtsdatum von Johann Baptist genannt Hans Zehetmair zu schauen, um einen so fähigen jungen Diener wie Friedrich in dieses Gefäß umzubetten.
Hetzmeute
Damit kommen wir zurück zu dem Fall Sebastian Edathys. Ein kanadischer Ermittlungsbefund findet auf dem Dienstweg nach Wiesbaden. Über die technischen Details, die Frage der Bilder oder Filme und wie sie rechtlich zu bewerten sind, hat dieses Interview hinreichend normativ Auskunft gegeben. Die gleichsam wie durch Appetenzsignale für Stichlinge aufregbare Öffentlichkeit macht sich den strafrechtlichen Vorhalt aber ungeprüft zueigen. Es gehört zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen, dass Aktivisten und Blogger aus eigenen Opportunitätskriterien – statt den Sachverhalt zu prüfen – Edathy vorverurteilen, indem sie seine bisherigen innenpolitischen Wegmarken in Erinnerung rufen: Er sei in von ihm selbst mit herbeigeführte Fallen getappt. Schadenfreude – unter der politischen Kultur des Neobiedermeiers die Identifikation mit der absoluten Macht: Jetzt triffts den Richtigen. Und wenn’s nicht so wäre, wie müssten wir dann den Kollegen fefe rehabilitieren? Ginge das noch?
Moralische Festigkeit zeichnet sich offenbar nicht mehr dadurch aus, dass rechtsstaatliche Kriterien wie die Unschuldsvermutung noch irgendeine Rolle spielten. Massenweise wird Unfug ausgekübelt. Nicht Analyse prägt die Kommunikation der zwitschernden oder bloggenden Vorverurteiler. Vielmehr zeigt sich selbst bei sonst bedacht argumentierenden Kollegen die Bereitschaft, umstandslos den Blickwinkel der politischen Führung zu übernehmen. Du hast keine Chance, aber nutze sie, oder Catch 22 als Referenz illustrieren den Distanzverlust. Denn die politische Führung, nach Maßgabe einer neobiedermeierischen do ut des-Logik, siehe Friedrich, operiert allein nach politischer Opportunität und nicht nach Recht und Gesetz.
Hier auf die Idee zu kommen (Catch 22), es gelte, Schaden von der Politik abzuwenden, steht in einer Tradition, die hier erst kürzlich auch eine Rolle gespielt hat, nur wird sich selbst Carl Schmitt darüber im Grab umdrehen.
Was ist im Fall Edathys bisher bekannt: Ein Dienstgeheimnis wird verletzt. Das geschieht am Rand von Koalitionsverhandlungen, also in der Wiege der nächsten Regierung. Der Bruch der rechtsstaatlichen Norm wirkt “als vertrauensbildende Maßnahme”, wie ein Akt vorweg genommener Kumpanei. Das Durchstechen von Informationen, gleich welcher Provenienz oder Relevanz, ist nicht etwa zufällig, sondern wirkt als Routine. Damit die Politik keinen Schaden erleide (etwa, weil ein zu höheren Posten gehandelter Parteifreund als Minister oder Staatssekretär der Regierung kurz nach Amtsantritt den ersten Skandal bescheren könnte), wird bedenkenlos das Prinzip des Rechtsstaats politischer Opportunität geopfert. Nur: Seit wann erzeugt die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen, gleich gegen wen, einen übergesetzlichen Notstand? Nach wessen Kriterien? In welcher normativen Rückkoppelung an das System der Gewaltenteilung? Aus welcher Idee makellos über jeden Anruch von Skandal erhabener politischer Praxis? Politisches Denken dieser Provenienz lautet: Der Führer schützt das Recht, indem er sich vor dem Recht schützt. Die über diesen Sachverhalt in Mengen gezwitscherten Tweets scheinen das Denken durch Bellen vor sich selbst zu bewahren.
Das betrachte ich als Vollendung unseres politischen Neobiedermeiers. Absolute Macht wird durch absolute Unterwerfung unter ihre Opportunitäten vorauseilend legitimiert. Egal, was oder wer darüber auf der Strecke bleibt. Die Willkür, heute durch beliebige Manipulationen bezeug- oder belegbare Kompromate in Verkehr zu bringen (ganz zu schweigen von der Insuffizienz digitaler Beweisführung) betrachte ich unter diesem Blickwinkel als Symptom für einen sich von Normen ablösenden Maßnahmenstaat. Die unzureichende normative Erdung auf Seiten der Bürgergesellschaft trägt das ihrige dazu bei, dieses System zu seiner Vollendung gelangen zu lassen.
Der Heilige Sebastian kommt in Erinnerung. Er musste zweimal getötet werden, ehe er darüber zum Heiligen werden durfte. Was für ein Desaster! Ich sage ausdrücklich nichts über Sebastian Edathy. Wie könnte ich das? Sein Fall illustriert die Verrottung der politischen Kultur in Deutschland. Das ist die Lage.