von Redaktion Carta, 6.7.12
Rund 180 Wirtschaftsprofessoren (von etwa 5000 in ganz Deutschland) haben ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen Offenen Brief geschrieben:
„Die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin auf dem Gipfeltreffen der EU-Länder gezwungen sah, waren falsch. Wir, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder, sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge. Die Bankschulden sind fast dreimal so groß wie die Staatsschulden und liegen in den fünf Krisenländern im Bereich von mehreren Billionen Euro. Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden, zumal riesige Verluste aus der Finanzierung der inflationären Wirtschaftsblasen der südlichen Länder absehbar sind. Banken müssen scheitern dürfen. Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, gibt es nur eine Gruppe, die die Lasten tragen sollte und auch kann: die Gläubiger selber, denn sie sind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen und nur sie verfügen über das notwendige Vermögen.
Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und den Missbrauch durch eine gemeinsame Bankenaufsicht verhindern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die Schuldnerländer über die strukturelle Mehrheit im Euroraum verfügen. Wenn die soliden Länder der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmen, werden sie immer wieder Pressionen ausgesetzt sein, die Haftungssummen zu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall aufzuweichen. Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind vorprogrammiert. Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet; geholfen wird statt dessen der Wall Street, der City of London – auch einigen Investoren in Deutschland – und einer Reihe maroder in- und ausländischer Banken, die nun weiter zu Lasten der Bürger anderer Länder, die mit all dem wenig zu tun haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen. Die Sozialisierung der Schulden löst nicht dauerhaft die aktuellen Probleme; sie führt dazu, dass unter dem Deckmantel der Solidarität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und volkswirtschaftlich zentrale Investitionsentscheidungen verzerrt werden.“
Daraufhin wurden die Unterzeichner von linken und liberalen Kritikern als deutschnationale Stammtischprofessoren abgewatscht. Diese Kritik kommt zum einen aus transatlantischen Kreisen, zum anderen von deutschen Volkswirten, die nicht nur Deutschland, sondern das große Ganze im Blick haben. Im Handelsblatt erschien deshalb heute prompt ein Gegenmanifest, unterzeichnet u.a. von Bert Rürup, Peter Bofinger, Gustav Horn und Thomas Straubhaar:
„Die Länder der Euro-Zone sind durch eine systemische Krise mit zwei Wurzeln (Staatsschulden und unterkapitalisierte Banken) herausgefordert. Auf die damit aufgeworfenen Fragen lassen sich keine einfachen Antworten finden. Die Krisenpolitik steht notgedrungen im Streit unterschiedlicher Einschätzungen und Sichtweisen, zumal nicht auf Lehrbuchweisheiten zurückgegriffen werden kann. Die Öffentlichkeit ist vor diesem Hintergrund durch Sorgen und Ängste geprägt, die sich mehr aus unbestimmten Gefühlen als aus sachlichen Informationen speisen. In einer solchen Situation kann es nicht die Aufgabe von Ökonomen sein, mit Behauptungen, fragwürdigen Argumenten und in einer von nationalen Klischees geprägten Sprache die Öffentlichkeit durch einen Aufruf weiter zu verunsichern. So werden in diesem Text insbesondere Ängste und Emotionen vor einer Bankenunion geschürt, ohne dass dies mit den erforderlichen Fakten unterlegt wird…“
Finanzminister Wolfgang Schäuble im RBB-Inforadio über die 180 Regierungskritiker:
„Finanzwissenschaftler sollten eigentlich mit dem Begriff Bankenschulden verantwortlich umgehen.“ Stattdessen werde eine Verwirrung der Öffentlichkeit betrieben. „Ich finde das empörend.“
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin:
“Statt Argumente vorzubringen, werden Ängste geschürt. Statt präziser Analyse werden dumpfe Ressentiments bedient.“
Dennis Snower, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft:
“Der Aufruf schürt lediglich Ängste und zeigt keinen einzigen Weg zur Lösung der Probleme auf. Darüber hinaus schadet er dem Ansehen Deutschlands in Europa.“
Peter Bofinger, Mitglied im Sachverständigenrat:
“Das ist schlimmste Stammtisch-Ökonomie… Deutsche Ökonomen sind gut im Jammern – das ist in der aktuellen Lage aber absolut kontraproduktiv.“
Und im Zeit-Blog Herdentrieb heißt es:
„Was die deutschen Ökonomen hier betreiben ist Panikmache und Irreführung. Für diesen Aufruf gibt es nur einen sinnvollen Ort: Ablage P wie Papierkorb.“
Olaf Storbeck hat bereits gestern den Entwurf des Aufrufs mit der tatsächlich erschienenen Fassung verglichen:
Interessant ist, dass sich der bei der FAZ veröffentlichte Aufruf in einigen Nuancen von der Vorab-Version unterscheidet – offenbar hat es hinter den Kulissen noch ein ziemliches Ringen um die Formulierungen gegeben, das dann dazu führten, dass der Aufruf an einigen Stellen ein bisschen entschärft wurde.
– und kommentiert heute die Antwort der Rürup-Gruppe
Normalerweise liegen sie wirtschaftspolitisch meilenweit auseinander [..] Umso bemerkenswerter ist es, dass sie alle eine vom Ex-Wirtschaftsweisen Bert Rürup initiierte Replik zum gestern in der FAZ erschienenen Ökonomenaufruf unterzeichnet haben.
Die Financial Times Deutschland widmet dem Ökonomenstreit heute sehr viel Aufmerksamkeit und hat die verschiedenen Standpunkte übersichtlich aufbereitet. Das Handelsblatt hat außerdem die Stimmen im Netz gesammelt. Überschrift: „Ökonomenstreit wirbelt das Netz auf“. Wirklich?
Wiederum Olaf Storbeck listet unter Ökonomen-Zoff geht in die nächste Runde vorsichtshalber die Chronologie in einer Zeittafel auf – mittlerweile gibt es ein drittes offenes Schreiben: Am Freitagabend “haben 15 namhafte Wirtschaftswissenschaftler eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht”.
Albrecht Müller schreibt in seinem Beitrag: Die wilde Debatte der Professoren um den letzten EU-Gipfel lenkt ab vom Wesentlichen”:
„Was mit dem Gipfel allerdings erreicht wurde, ist das Eröffnen eines neuen Nebenkriegsschauplatzes, der Medien und Publikum von den zwei eigentlich zentralen Themen ablenkt und dadurch verhindert, dass sie sinnvoll bearbeitet werden: die Regulierung der Finanzmärkte und die nicht-deflationäre Wiederangleichung der Wettbewerbsfähigkeit der EWU-Mitgliedsstaaten.“
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