#Daniel Domscheit-Berg

Wikileaks: Der tiefe Riss

von , 27.9.10

Wikileaks definiert sich als „Open-Source-Nachrichtendienst“, dessen Ziel es ist, „unethisches Verhalten in Regierungen und Unternehmen“ aufzudecken. Jeder kann der Organisation unter dem Schutzmantel vollkommener Anonymität brisante Informationen übergeben; dank aufwendiger Verschlüsselungsvorkehrungen erfahren nicht einmal die Projektverantwortlichen die Identität der Informanten.

Der engagierte Einsatz für mehr Transparenz steht jedoch im krassen Widerspruch zu der eigenen Öffentlichkeitsarbeit: Denn Wikileaks gibt – auch um das eigene Vorhaben nicht unnötig zu gefährden – kaum mehr als eine Handvoll vager Informationen über sich selbst preis. Damit können Außenstehende nicht nachvollziehen, wie unabhängig Wikileaks tatsächlich über die Veröffentlichung eingereichter Geheimdokumente entscheidet. Vielmehr erwarten die Wikileaks-Aktivisten, dass die Bürgerinnen und Bürger den selbsternannten Wächtern der Wahrheit blind vertrauen – auch wenn Wikileaks selbst keiner öffentlichen Kontrolle unterliegt. Hierdurch gerät das Projekt in Konflikt zu den eigenen Wertmaßstäben, ist doch der Anspruch totaler Transparenz mit der vollkommenen Anonymität derer, die sie herbeiführen möchten, nur schwer zu vereinbaren.

Hinzu kommt, dass sich die fehlende Transparenz ironischerweise gegen Wikileaks selbst wenden könnte. Denn aufgrund des strikten Quellenschutzes wird das interne „Peer-Review“-Verfahren früher oder später sehr wahrscheinlich einer Fälschung aufsitzen. Vor allem aber ist Wikileaks nicht davor gefeit, selbst zum Spielball in den politischen Auseinandersetzungen zu werden.

So wurde der Organisation im November letzten Jahres gezielt die E-Mail-Kommunikation der umstrittenen Klimaforscher der Climatic Research Unit der University of East Anglia zugespielt – offenbar mit der Absicht, in der Öffentlichkeit den Verdacht zu schüren, Temperaturmessungen zum Nachweis des Klimawandels seien manipuliert worden. Auf diese Möglichkeit angesprochen, verweisen die Aktivisten stets auf die oberste Priorität, glaubwürdig zu bleiben und sämtliche zugespielten und für authentisch befundenen Inhalte ungefiltert zu veröffentlichen.

Damit aber tritt zu der mangelnden Transparenz ein weiteres Problem: Denn auch wenn das Streben nach unbedingter Wahrheit auf den ersten Blick konsequent erscheint, ignoriert es doch zugleich unerbittlich die Folgen des eigenen Handelns. Das wird nicht zuletzt an den ethischen Kriterien des Journalismus deutlich, mit denen sich Wikileaks gerne schmückt.

Wiederholt reklamierte Julian Assange, der Kopf der Organisation, für die Publikationspolitik von Wikileaks den Status „wissenschaftlichen Journalismus“. Allerdings ist einem investigativen Journalisten die Herkunft der ihm zugespielten Informationen in der Regel bekannt. Daher kann und sollte er nicht nur Rückschlüsse auf die Motive des Informanten ziehen, sondern muss zugleich folgenschwere Publikationsentscheidungen abwägen, um diese am Ende auch gegenüber Dritten verantworten zu können.

Einer solchen Verantwortung entziehen sich die Wikileaks-Aktivisten – mit fatalen Folgen insbesondere dann, wenn es bei den Veröffentlichungen zu „Kollateralschäden“ kommt. Und diese werden bisweilen sogar bewusst in Kauf genommen: So haben Menschenrechtsorganisationen Wikileaks dafür kritisiert, in den jüngst publizierten Kriegsberichten die Namen afghanischer Zivilisten nicht vollständig getilgt zu haben. Amnesty International befürchtet daher, dass es in der Folge zu Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban kommen könnte.

In der Tat räumte Wikileaks freimütig ein, die Identität „Schuldiger“ gezielt veröffentlicht zu haben. Beispielsweise sei, so Julian Assange, der Name des Leiters einer afghanischen Radiostation nicht unkenntlich gemacht worden, da dieser sich von der US-Armee habe bestechen lassen, pro-amerikanische Berichte zu senden.

Offenbar macht Assange keinen Unterschied zwischen der Veröffentlichung geheimer Wirtschaftsvereinbarungen innerhalb eines Rechtsstaats – wie beispielsweise der Toll-Collect-Verträge – und der Verbreitung von Geheimdienstinformationen in einem Kriegsgebiet, die den dortigen Konflikt schüren könnten. Entscheidend aber ist, dass sich Wikileaks zum Richter über die Schuld von Einzelpersonen aufschwingt – und auf diese Weise selbst zum Kombattanten wird, wenn die unfreiwillig ans Licht Gezerrten vor aller Augen an den Pranger gestellt werden und dadurch – im schlimmsten Fall – am Ende gar mit ihrem Leben bezahlen.

Damit aber nicht genug: Geht es nach Julian Assange, sollen die „Leaks“ zudem noch öffentlichkeitswirksam – und damit spendenwirksam – vermarktet werden.  Gerade dieser Vorstoß dürfte erheblich zu einer Verschärfung des Streits unter den Wikileaks-Aktivisten geführt haben. So begründet “Daniel Schmitt” seinen Rückzug auch damit, dass sich die Organisation – und allen voran Assange – zunehmend auf große, aufsehenerregende Veröffentlichungen konzentriere.

Diese Fokussierung hat seinen gute Grund. Nach eigenen Angaben hat Wikileaks seit Anfang dieses Jahres mehr als eine Mio. US-Dollar an Spendengeldern gesammelt – und damit weit mehr als die erforderlichen 200.000 Euro, welche die operativen Mindestkosten eines Jahres decken. Finanzielle Sorgen muss sich Wikileaks somit derzeit nicht machen. Die Organisation gibt zwar nicht preis, aus welchen Quellen die finanziellen Zuwendungen stammen. Allerdings hat Wikileaks eine transparentere Buchhaltung angekündigt und zumindest die Finanzierungsstrukturen öffentlicher gemacht.

Fest steht, dass die hohen Spendeneinnahmen nicht zuletzt mit Hilfe spektakulärer Enthüllungen erzielt wurden. Für besonders große Aufmerksamkeit sorgte das im vergangenen April veröffentlichte 18minütige Video „Collateral Murder“. Es zeigt, wie elf Zivilisten, darunter zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters, durch einen Helikopter der US-Armee beschossen und getötet werden. Die Veröffentlichung zahlte sich für Wikileaks auch finanziell aus: Innerhalb weniger Tage flossen mehr als 150.000 Euro auf das Spendenkonto der Organisation.

Mit Erfolgen dieser Art droht Wikileaks jedoch mehr und mehr in den Sog einer „Aufmerksamkeitsökonomie“ zu geraten, die zulasten der postulierten Neutralität geht. So entschied sich Julian Assange bei der Publikation des Videos bewusst für den reißerischen Titel „Collateral Murder“, der sich an die euphemistische Bezeichnung „collateral damage“ (Kollateralschaden) anlehnt. Der Titel „Permission to Engage“ („Erlaubnis zum Angriff“) hingegen wurde verworfen, um eine stärkere mediale Wirkung zu erzielen.

Diese Begründung erinnert eher an die verkaufsfördernden Methoden der Regenbogenpresse als an wissenschaftlichen Journalismus. Ungeachtet dessen sagt Assange euphorisch ein „neues Finanzierungsmodell für Journalismus“ voraus – und denkt bereits darüber nach, brisante Informationen vorab exklusiv an höchstbietende Medienpartner zu verkaufen.

Offenbar scheint allen voran Julian Assange nicht bereit, aus Fehlern zu lernen. Vielmehr dürfte er sich nun mit der “Suspendierung” “Daniel Schmitts” gegen seine internen Kritiker durchgesetzt haben und seinem Ziel der Ökonomisierung ein gutes Stück näher gekommen sein – die freilich zu weiteren Einschränkungen der Transparenz und der Neutralität des Wikileaks-Projekts führen wird.

Wenn somit die Kombattantenschaft zukünftig auch noch als Sensationsmeldung an den Meistbietenden verkauft wird, droht nicht nur die Philosophie der Transparenz den neuen Geschäftszielen untergeordnet zu werden. Vor allem aber wären Wikileaks hehre Ziele damit endgültig ad absurdum geführt.

Der Text basiert auf einem längeren Debattenbeitrag, der in wenigen Tagen in den „Blättern für deutsche und internationale Politik10/2010 erscheinen wird.

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