#Bildung

Wenn Dummheit Dummheit behauptet und sie produziert

von , 18.8.14

Reinhard Mohr klagt im Internetangebot der Tageszeitung „Die Welt“ über die in seinen Augen völlig unbefriedigenden Kenntnisse vieler Menschen in Deutschland, im Wesentlichen aber von (jugendlichen) Migranten, wenn es um zentrale Daten deutscher Geschichte gehe. Die Therapie, die Mohr gegen Unwissenheit, Relativierung der Naziherrschaft in Deutschland und das „Kiezdeutsch“ empfiehlt: Die Schüler sollten Zeitung lesen und die Schulen verstärkt an Projekten wie „Zeitung in der Schule“ teilnehmen. Ein Schelm, wer bei diesem Ratschlag aus der Tastatur eines Zeitungsjournalisten Böses denkt.

Aber es gibt noch eine zweite Antwort, die etwas versteckt in Mohrs Streitschrift erwähnt wird. Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU Berlin, wird dort mit der Aussage zitiert, die Schule sei „der zentrale Ort gesellschaftlicher Wissensvermittlung“: Was hier versäumt werde, sei nicht wiedergutzumachen.

Die Schule soll es also mal wieder richten, oder, um es genauer zu sagen: Die Schulen sind schuld, dass bestimmte Wissensbestände bei einem gewissen Prozentsatz der Bevölkerung nicht mehr anzutreffen sind (oder nur als Karikatur historischer Wahrheiten). Und wenn die Schulen schuld sind, dann sind es die Lehrerinnen und Lehrer. Die Bildungspolitik kann man dann auch angreifen, und schon sind alle schuldlos. Alle, außer den öffentlichen Bildungsinstitutionen.

So leicht ist es nicht. Gesellschaftliche Erinnerungskultur ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Die Schule als Teil der Gesellschaft hat differenzierte Hintergründe und Wissen zu liefern, das kann nicht bestritten werden, denn tatsächlich ist die Schule nach wie vor kein Ort der von Vorgaben freien Selbstfindung, die von Coaches begleitet wird, sondern auch ein zentraler Ort der Sozialisierung in einer Gesellschaft. Entsprechend ist es natürlich eine Anfrage an die Schulen und die Bildungspolitik, was ihr Anteil an den zugegebener Maßen verheerenden empirischen Ergebnissen ist, wenn es um deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre geht.

Hier soll nun nicht die Frage gestellt werden, welche Rolle die Reduktion des auswendig gelernten Wissens an den Schulen bei der aktuellen Krise des Erinnerns spielt. Es geht weder um „Dummheit“, wie Mohr unterstellt, noch um „Massenverblödung“, wie in der Überschrift des Artikels in der Welt suggeriert wird. Es geht um die Frage, wie eine Gesellschaft eine Erinnerungskultur schafft, in der das einen Platz hat, was ihr wichtig ist.

Mit dieser Frage haben sich die Menschen schon in der Antike beschäftigt. Und an dieser Stelle lohnt wirklich ein Blick in die Geschichte, die über den Horizont der von Mohr berücksichtigten Geschichte hinausgeht. Erinnerung ist immer eine kulturell geformte Erinnerung. In seinen Werken zu Fragen des kulturellen Gedächtnisses hat der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, einer der kompetentesten Experten in Fragen des kollektiven Gedächtnisses in Deutschland, auf diesen Aspekt immer wieder hingewiesen.

Erinnerung und somit die Verfügbarkeit von kollektivem Wissen einer Gesellschaft, das die grundlegenden Werte dieser Gesellschaft von Generation zu Generation weitergibt, ist Arbeit. Diese Arbeit wird heute kaum noch geleistet. Dass in den Schulen die Vermittlung nicht gelingt, liegt oft nicht an den Bemühungen der Schulen, sondern ist ein Resultat der mangelnden Verortung dessen, was in der Schule gelehrt wird, in der gesamtgesellschaftlichen Praxis.

Erinnerung braucht Räume, in der sie stattfinden kann. Nicht umsonst arbeiten klassische Erinnerungstechniken mit genau solchen Räumen, in denen die Wissensbestände abgelegt werden, damit sie erinnert werden können. Analoges gilt für kulturell geformte Erinnerungen. Deshalb haben wir Gedenkstätten. Deshalb gibt es Feier- und Gedenktage. Die meisten unserer Feiertage aber haben einen religiösen Hintergrund, da in den Religionen das Erinnern seit Jahrtausenden eingeübt wird und der Wert von Jahr für Jahr wiederkehrenden Feiertagen in den Religionen fest verankert ist. Die Religionen wissen auch, dass Erinnerung Schneisen benötigt, die den Wald des Alltags lichten und den Blick auf das für die Gemeinschaft grundlegend Wichtige öffnen.

In Deutschland sind wir bezüglich der Erinnerung dabei einen seltsamen Weg gegangen. Auf der einen Seite haben wir Gedenkstätten geschaffen, die museal abgegrenzte Orte sind und vor allem der zeremoniellen Erinnerung an bestimmten Tagen dienen. Auf der anderen Seite haben wir die Schneisen beseitigt, die die kollektive Katastrophe des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg – geschlagen hat. Symbolträchtig wurde die Dresdner Frauenkirche wieder aufgebaut und damit nicht nur eine Wunde geschlossen, sondern auch die Sichtbarkeit der Katastrophe reduziert. In Frankfurt baut man gerade mittelalterliche Altstadtfassaden wieder auf, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden.

Betrachtet man die offiziellen Feiertage, die als arbeitsfreie Tage wirklich Schneisen im Alltag sein könnten – unabhängig davon, wie sie tatsächlich genutzt werden -, so fällt auf, dass es überraschend wenige gibt, die mit zentralen Ereignissen zusammenhängen und nicht auf einen Sonntag gelegt wurden. Der Volkstrauertag zum Beispiel, der an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft in allen Nationen erinnert, zeichnet sich nur noch dadurch aus, dass er ein stiller Feiertag ist, an dem ein Tanzverbot gilt und zusätzlich wenig beachtete Zeremonien im Bundestag und an zahlreichen Gedenkstätten stattfinden. Der einzige wandernde staatliche Gedenktag, der sich auf ein geschichtliches Ereignis bezieht und der wichtig genug genommen wird, dass er in Form eines arbeitsfreien Tages auch die Wirtschaft betrifft, ist der 3. Oktober.

Weder der 17. Juni – der Tag des Arbeiteraufstandes in der DDR, der vom Militär niedergeschlagen wurde – noch der 20. Juli als Tag des Widerstandes gegen Gewaltherrschaft in Erinnerung an das gescheiterte Attentat auf Hitler werden außerhalb politischer Kreise und Zeitungen noch wahrgenommen. Weder der 13. August als Tag des Mauerbaus findet sonderliche Beachtung in den kollektiven Riten der Gesellschaft, noch der geschichtsträchtigste Tag Deutschlands überhaupt, der 9. November. Am 9. November 1989 fiel der eiserne Vorhang, der Europa in zwei Teile spaltete. 1938 begannen am 9. November die Novemberpogrome gegen die deutschen Juden im Nazideutschland. 1923 gab es mit dem Hitler-Ludendorff-Putsch den ersten Versuch der Nazis, in München an die Macht zu kommen. 1918 begann am 9. November die November-Revolution mit der (doppelten) Ausrufung einer Republik, aus der dann die Weimarer Republik hervorging.

Gerade ein so ambivalenter Feiertag könnte zur Vertiefung von Geschichtskenntnissen beitragen. Darüber hinaus ist noch der 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und des Holocausts zu nennen, der seinen Niederschlag vor allem in offiziellen Veranstaltungen der Politik und in den Medien findet, aber eben keine Schneise des Erinnerns in den Alltag der (arbeitenden) Republik schlägt.

Neben die Vermittlung des Wissens über Ereignisse, das nach wie vor Voraussetzung zum Verständnis der Grundwerte der Bundesrepublik Deutschland ist, müssen also gesellschaftlich immer wiederkehrende Ereignisse der Bewahrung der kulturellen Erinnerung treten, damit dieses Wissen auch präsent bleibt. Die Religionen hätten nicht so lange überlebt, wenn sie alleine von staatlichen Schulen erwartet hätten, dass sie jungen Menschen das Wissen vermitteln.

Jan Assmann zeigt unter anderem, dass neben dem Auswendiglernen von wichtigen historischen Ereignissen diese kommunikativ an die je nachfolgende Generation weitergegeben werden müssen: indem man immer wieder von den Ereignissen redet (Conversational Remembering). Diese Form der Weitergabe findet etwa in Form von Zeitzeugengesprächen statt. Aber wie kann angesichts der abnehmenden Verfügbarkeit von Zeitzeugen zumindest für die Gräueltaten des Nationalsozialismus weiter kommunikativ vermittelt werden, was da in der Geschichte passiert ist?

Was erinnert werden soll, muss sichtbar gemacht werden. Das versuchen wir in Gedenkstätten. Zentral aber für die Verfestigung von Erinnerungen sind Feste der kollektiven Erinnerung, an denen der Tag im Zeichen des Festes steht und eben nicht im Zeichen des Alltags, der sich von den Gedenkveranstaltungen einer kleinen Gruppe von Repräsentanten nicht aufhalten lässt. Das, was als Grundlage einer Gesellschaft erinnert werden soll, muss eine Form der Kanonisierung in Form eines „Vertragstextes“ bekommen. In den Religionen sind das die Heiligen Schriften, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ist es das Grundgesetz.

Was es bedeutet, wenn Erinnerungsmechanismen automatisiert stattfinden, kann man dieser Tage im Rahmen der Gedenkfeiern zur hundertsten Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs beobachten. Es gab politisch relevante Veranstaltungen an unterschiedlichen Orten, über die auch in den Medien berichtet wurde. Es gab aber keinen Einschnitt in den Alltag, indem anlässlich dieses besonderen Jahrestages die Räder stillgestanden hätten und so wirklich jede und jeder mitbekommen hätte, dass etwas Besonderes passiert sein muss.

Man lässt eher anlässlich einer Fußballweltmeisterschaft den Unterricht an Schulen später anfangen, statt darüber zu diskutieren, wie man zur Sicherung der Erinnerung an zentrale Ereignisse der Geschichte wirklich für alle Bürgerinnen und Bürger potentiell erfahrbare Schneisen in den Alltag legen kann.

Stattdessen schaffen wir Festivitäten und damit verbundene Nachteile für die Wirtschaft ab. Das gilt auch für lokale Festivitäten. In Frankfurt z. B. gab es über viele Jahrzehnte am Dienstag nach Pfingsten den Wäldchestag. An diesem Tag hatten einst die Dienstboten frei, die an Ostern hatten arbeiten müssen. Man zog in den Frankfurter Stadtwald und feierte. Das Fest gibt es bis heute, aber die Tradition, dass der Pfingstdienstag-Nachmittag arbeitsfrei ist, wurde von der Wirtschaft mehr und mehr zurückgedrängt. Das Ergebnis: Es weiß zwar fast jeder, dass es den Wäldchestag als Volksfest gibt, aber kaum noch einer weiß, warum es dieses Fest gibt.

Überhaupt sind es die Feste, die zentral für die Erinnerung, aber auch für die Integration sind. Reinhard Mohr lässt in seinem Artikel in der Welt vom 17. August den Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky zu Wort kommen, der beklagt, dass, je niedriger der Bildungsstand sei, umso geringer auch das Interesse an Geschichte ausfalle. Im nächsten Satz wird klar, dass vor allem der „niedrige Bildungsstand“ von Migranten gemeint ist, die sich nicht als Deutsche verstünden und fragten, was sie mit deutscher Geschichte zu tun hätten.

Auch hier sind wir wieder bei den Festen. Wir haben nach wie vor keine gesetzlichen Feiertage, die als Antwort auf die mittlerweile religiöse Vielfalt in Deutschland allgemein gelten würden. Aber jeder, der sich bemüht, um diese Feiertage zu wissen und den Mitbürgern an den Feiertagen zeigt, dass man um diese weiß und Glückwünsche ausspricht, erlebt, wie sehr diese Form der Integration geschätzt wird.

Es ist höchste Zeit, nicht nur – wenn auch völlig zu Recht – zu fordern, dass zentrale Ereignisse deutscher Geschichte im Bewusstsein aller dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen verankert sind, sondern auch vor den kollektiven Erinnerungen der Menschen Respekt zu zeigen, die unsere Gesellschaft bereichern bzw. bereichern können, wenn sie integriert werden – und sich selbst integrieren, wenn also Integration nicht nur als Bringschuld gesehen wird, sondern als Bewegung, die beide Seiten verändert.

Reinhard Mohr greift empirische Daten auf und verbindet diese mit Klischees und Vorurteilen. Wenn Intellektuelle in Deutschland so gearbeitet haben, hat dies allzu oft überhaupt erst zu Dummheit mit tödlichen Folgen geführt. Dummheit meint hier, dass scheinbare Fakten wenig differenziert und dafür äußerst einseitig popularisiert werden. Die zugrunde liegenden Zusammenhänge aber werden, bewusst oder unbewusst, ausgeblendet.

Doch genau diese Zusammenhänge sind es, die eine Reduktion der Verantwortung für das Nichtwissen um bestimmte historische Ereignisse auf die Schule und das Desinteresse so genannter bildungsferner Schichten nicht nur nicht erlauben, sondern angesichts der deutschen Geschichte geradezu verbieten.

Das gebildete Deutschland schafft sich ab? Sollte Reinhard Mohrs Beitrag zu dieser Diskussion allzu positiv rezipiert werden, wäre das tatsächlich ein Beleg für diese These. Denn von differenziertem Wissen Mohrs um geschichtliche Prozesse der Überlieferung kulturell geformter und formender Erinnerung ist in diesem Artikel nichts zu finden.

 
In diesem Beitrag nehme ich Bezug auf Jan Assmann, „Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien“, München 2000, und besonders auf „Die kontrapräsentische Erinnerung und die normative Vergangenheit: das Deuteronomium“ (S. 28–34).

Torsten Larbig bloggt auf Herr Larbig

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