#Alexandre Kojève

Vorkriegszeit · Agamben als Wiedergänger Kojèves

von , 14.4.13

Mein Ausgangspunkt ist ein Essay von Giorgio Agamben, der in der Libération erschien, in dem Agamben sich auf einen Essay bezieht, den Alexandre Kojève  nach dem Zweiten Weltkrieg für General de Gaulle schrieb. Schauen wir uns dieses Stück und seine seitherige Resonanz an.

Zwei Gefahren bedrohen Frankreich: eine unmittelbare, in Gestalt eines bald wieder zu bestimmender ökonomischer Macht gelangenden Deutschlands als Speerspitze einer angloamerikanisch-protestantischen Kontinentalmacht, eine in größerer Ferne liegende in Gestalt eines Dritten Weltkriegs, der erneut auf französischem Boden ausgetragen würde und Frankreich vernichten könnte. Die Gefahr mag nicht so realistisch erschienen sein. In den strategischen Dispositiven der französischen Politik sich dennoch darauf einzustellen, erforderte politische Neutralität und eine Politik, die Frankreich sowohl politisch als auch wirtschaftlich gegenüber Deutschland als führende Macht auf dem Kontinent behaupten sollte.

Kontrapunkt für Kojève ist die seit dem Mittelalter verfolgte deutsche Reichsidee, eine damit verbundene chronische politische Verspätung, die in der Drittes-Reich-Idee des NS auf die Franzosen wie die teutonische miserable Übersetzung des revolutionären Leitmotivs von 1789 wirkte: ein Volk, ein Reich, ein Führer als das kakophone Echo der “einen und unteilbaren Republik”.

Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs bezeichnet zugleich in einer langfristigen Perspektive das Ende des Nationalstaats in seiner überlieferten Form. Um den künftigen Herausforderungen gewachsen zu sein, muss die Idee des Nationalstaats aufgehen in einer größeren politischen Formation, wie auch immer sie zu nennen sein würde. Europa bedurfte einer politischen Verfassung. Denn Frankreich sah sich als Ergebnis des zweiten Weltkriegs in einer Zange zwischen dem stalinistischen Sowjetreich und einem transnationalen angloamerikanischen Weltreich. Deutschland werde sich bald auf dessen Seite schlagen, schon aufgrund der protestantischen Dominanz preußischer Tradition.

Ein politisch isoliertes Frankreich sieht sich vor der Alternative, entweder in einem der beiden Machtblöcke aufzugehen oder aber sich auf die Tradition der lateinisch-katholischen Kräfte zurückzubesinnen, das ein von Frankreich geführtes Bündnis der lateinisch-katholisch geprägten europäischen Staaten verlangt. Portugal könne infolge der engen Bindungen an England nicht dazu gerechnet werden. Global betrachtet könnte ein Lateinisches Imperium aber sowohl für Lateinamerika als auch für die von Frankreich und Italien gehaltenen einstigen Kolonien in Afrika attraktiv sein.

Ich kürze das hier brachial ab. Für meine Zwecke reicht es aus, auf zwei Sachverhalte zu verweisen: Den Wendehals-Marxisten Kojève interessiert die politische Verfassung nicht die Bohne. Kein Wort von Demokratie. Keine Kritik an Franco. Keine Kritik am kolonialen Regime. Keine Religionsfreiheit unter katholischer Dominanz.

 

Vorzeichenwechsel: Französischer Irrationalismus

Und nun kommt 68 Jahre später Agamben mit diesem alten Hut zur Libération. Nebenbei erinnert mich das an das taz.lab von 2012, wo Pascal Bruckner, moderiert von Thierry Chervel, einen ähnlichen Vorzeichenwechsel weg von der französischen Rationalität und Ingenieurskunst hin zu einer irrational wirkenden Selbstbeschränkung predigte. Schon damals hatte ich als Zuhörer danach gefragt, was dazu geführt haben konnte, dass überlieferte kulturelle Patterns mit einem Mal ihre Träger austauschten: die romantischen irrationalen Deutschen als Leuchtfeuer europäischer Rationalität und die Franzosen als Vordenker eines neuen Obskurantismus, der ihnen nicht gut zu Gesicht steht.

Agamben holt Kojève umstandslos aus der Wiedervorlage heraus. Die EU entfalte ihr Regime ungeachtet besonderer  historischer Gemeinsamkeiten der lateinisch-katholisch geprägten Regionen. Kojève habe die Zukunft zutreffend beschrieben. Kehren wir zurück zu seiner Blaupause, weil sie es ermöglicht, unsere Werte gegen ein ökonomisches Regime zu verteidigen, das unsere Werte und Traditionen nicht nur missachtet, sondern zu Grunde zu richten droht. Es sei sinnlos, von Griechen und Italienern zu verlangen, wie die Deutschen zu leben. Selbst wenn das möglich wäre, würde es das lateinisch-katholische Erbe vernichten.

Europa verfüge über keine politische Verfassung, jedenfalls nicht über eine durch Volksabstimmungen beglaubigte Verfassung. Ehe der Kontinent sich selbst  erneut in Trümmer zerlegt, sei es an der Zeit, Kojèves Idee gründlich zu prüfen und die Realisierbarkeit eines Lateinischen Imperiums ins Auge zu fassen.

Plötzlich sticht durch diese Wendehalsoperation ein Aspekt der französischen (europäischen) Politik ins Auge, der unter den Vorzeichen des Binnenmarkts immer seine besondere Position behaupten konnte: die französische Agrarpolitik, LA FRANCE PROFONDE, deren Verteidigung auf europäischen Konferenzen Bruno Le Maire, Sarkozys Landwirtschaftsminister, in seinen kürzlich vorgelegten Erinnerungen JOURS DE POUVOIR sehr detailreich beschreibt. Für die lateinisch-katholische Rückbesinnung gibt es in Frankreich, auch in Spanien und in Italien, eine soziale kulturelle Basis. Die französischen Massendemonstrationen gegen die Homoehe haben es in den letzten Monaten vor Augen geführt.

 

Zurück in die Ruinen

Was bedeutet diese Entwicklung? Was ist davon zu halten, wenn aus dem Denken eines Walter Benjamin-Wiedergängers und eines wendehalsigen Stalinisten von 1945 eine Blaupause für ein Imperium pötzlich europaweit diskutiert wird, während die deutsche Kanzlerin weder in ihrer Politik noch in ihrer Partei irgendein klitzekleines Zeichen politischen Denkens ins Feld führen könnte, das über die banale Durchsetzung der Küchenphilosophie einer schwäbischen Hausfrau hinausreicht? Was ist davon zu halten, wenn diese gedankliche Blutgrätsche Resonanz im rechtsradikalen Denken findet, das Anders Breivik ebenso wie der Fjordman als auch ein schräger Blog zu seinem Leitthema erhoben haben?

Die deutsche Europa-Politik krankt daran, dass sie für absolut erklärte ökonomische Imperative durchsetzen will, koste es, was es wolle, und selbst die staatstragende Opposition zieht in diesem Kurs mit (beschränkt sich auf grummelnde Anmerkungen im Kleingedruckten). Die sogenannte Linke schießt sich unterdessen selbst ins Bein, obschon sie mit ihrer deutschen Jeanne d´Arc Frau Wagenknecht über das Potenzial verfügt, Politik und Ökonomie zusammen zu denken. Wagenknecht wiederholt, was Ernst Bloch nach dem Untergang Weimars der Linken vorwarf: Was sie tut, ist richtig, was sie nicht tut, ist falsch.

Was für ein Desaster! Das politische Denken in europäischen Dimensionen schrumpft zurück auf Grimassen höhnischer Masken. Die Totenköpfe lassen grüßen.
 

Crosspost vom Rhetorik-Blog

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