#Dummheitsvermutung

Twitter-Prognosen: so what?

von , 1.9.09

Seitdem am Sonntag nachmittag bereits vorab Zahlen zu den Landtagswahlen per Twitter verbreitet wurden, herrscht Aufregung. Spiegel Online meldete sogar, die “Wahlergebnisse” seien “vorab durchgesickert”.  Das wäre tatsächlich ein großes Problem gewesen, denn Ergebnisse stehen bei demokratischen Wahlen bekanntlich nicht vorab fest. Tatsächlich ging es nicht um Ergebnisse, auch nicht um Hochrechnungen, sondern um Prognosen, die auf Befragungen nach der Wahl (Exit Polls) beruhen. Bundeswahlleiter Roderich Engler erinnerte daran, dass dies ein Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz (§32) sei und hat jetzt einen restriktiven Umgang mit Nachwahlbefragungen angemahnt, Wolfgang Bosbach (CDU) sieht bereits die Demokratie in Gefahr.

Ob die Zahlen nun tatsächlich durchgesickert oder einfach ein Hoax sind (so die Vermutung bei F!XMBR) – Fakt ist: Solange es keine offizielle Prognose gibt, kann niemand wissen, ob via Twitter verbreitete Zahlen glaubwürdig sind. Jeder kann theoretisch beliebige “Prognosen” erfinden (oder alte variieren) und durch die Welt twittern, ganz wie es ihm gefällt. Ohne dass vor 18 Uhr über deren Glaubwürdigkeit geurteilt werden könnte.

Nehmen wir an, die vorläufige Prognose bei Twitter beruhte tatsächlich auf den Daten aus den Exit Polls.
In diesem Fall liegt der Kern des Problems nicht bei Twitter, sondern bei den Befragungen selbst. Die einfachste Möglichkeit, wäre also schlicht: keine Exit Polls mehr. Positiver Nebeneffekt: Der Wahlabend wäre unterhaltsamer, wenn tatsächlich einmal nicht nur das Publikum, sondern auch die Politik selbst von den Zahlen wirklich überrascht würde.

Ebensogut aber ließe sich fragen, ob bei unüberprüfbaren Twitter-Prognosen tatsächlich eine große Gefahr besteht, die Wahl zu beeinflussen. Wer aufgrund irgendwelcher Zahlen irgendwo im Internet seine Wahlentscheidung spontan ändert, ist im besten Fall naiv: Selbst für eine taktisch scheinbar kluge Last-Minute-Änderung der Wahlentscheidung gäbe es keine andere Grundlage als unüberprüfbare Zahlen. Das testweise Verbreiten von Hoaxen ist fast ein Sport, man denke etwa an den eingeschmuggelten “Wilhelm” im Wikipedia-Eintrag über Karl-Theodor zu Guttenberg. Bei Wahlen werden wir da sicherlich noch einiges erleben.

Tatsächlich wird die Diskussion aber gar nicht von naiven Wählern, sondern von Politikern, Wahlleitern und Journalisten geführt. Die halten sich für klug – aber die Anderen, da weiß man ja nicht. So erweist sich die Diskussion als Fortschreibung der Dummheitsvermutung – also der Annahme, der Adressat eines Kommunikationsaktes sei dumm, man selber aber nicht (siehe dazu den wunderbaren Leserartikel bei Zeit Online). Und das ist vielleicht die größere Gefahr.

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