von Wolfgang Michal, 10.4.14
Die Dimension eines politischen Projekts kann man nur erfassen, wenn man seine Vorgeschichte kennt. Beim transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP ist das nicht anders. Erst im Rückblick wird deutlich, worum es eigentlich geht: um die Eindämmung Russlands und Chinas und die zeitgemäße Erneuerung der transatlantischen Wertegemeinschaft.
Phase 1: Die Wirtschafts-NATO als neue transatlantische Klammer
(1989 – 1998)
Durch den Fall der Mauer und das Ende des Ost-West-Konflikts hatten die transatlantischen Beziehungen ihren bisher stärksten Kitt verloren: die gemeinsame Angst vor dem Kommunismus. Nach dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung brauchte „der Westen“ seine unterschiedlichen Interessen nicht mehr künstlich zu „vereinheitlichen“. Er konnte sie frei formulieren und manche Vertreter Europas taten das auch beherzt (siehe Deutschlands Nein zum Irakkrieg oder Frankreichs Nein zum „Multilateralen Investitionsabkommen“ MAI). Solche Unstimmigkeiten innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft machten den Transatlantikern auf beiden Seiten des Teichs große Sorgen.
Europäische Transatlantiker warfen der amerikanischen Politik z.B. vor, sie würde sich nach dem Ende des Kalten Krieges lieber dem Großraum Asien zuwenden und das alte Europa nur noch mit dem Hintern anschauen. US-amerikanische Transatlantiker kritisierten, Europa wolle sich im Rahmen seines Vereinigungsprozesses von Amerika lösen. Also suchte man gemeinsam nach Abhilfe und fand sie in der Idee einer „Wirtschafts-NATO“, die Europa und Amerika auch in postsowjetischen Zeiten eng aneinander binden sollte.
Nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer verständigten sich der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der damalige EG-Kommissionspräsident Jacques Delors und der amerikanische Außenminister James Baker darauf, dass die Beziehungen zwischen der EU und den USA dringend „vertieft“ werden müssten. So kam es im November 1990 zur Unterzeichnung einer gemeinsamen „Transatlantischen Erklärung“.
In ihr gelobten die USA und die EU, „marktwirtschaftliche Grundsätze zu fördern, dem Protektionismus eine Absage zu erteilen und das multilaterale Handelssystem auszubauen, zu stärken und weiter zu öffnen.“ Dies geschah etwa durch die 1994 mit europäischer und amerikanischer Hilfe aus der Taufe gehobene Welthandelsorganisation WTO. China und Russland blieben zunächst außen vor.
Ein Jahr später, im Dezember 1995, unterzeichneten US-Präsident Bill Clinton, EU-Kommissionspräsident Jacques Santer und der damalige Vorsitzende des Europäischen Rats, Felipe Gonzales, in Madrid die „Neue Transatlantische Agenda“ (NTA). Sie sollte jene diffuse Angst vertreiben, dass „Europa und Amerika angesichts des Fehlens einer einigenden Bedrohung auseinanderdriften könnten“.
Wirtschaftliche Verflechtung und NATO-Integration wurden von nun an immer zusammengedacht, ja sie wurden geradezu siamesische Zwillinge. An der Ausarbeitung der „Agenda“ waren allerdings nicht die zuständigen nationalen Parlamente beteiligt, sondern das demokratisch nicht legitimierte „Transatlantic Business Council“ (TBC), ein illustrer Kreis aus Vertretern von mehr als 70 transnational tätigen Unternehmen.
Im Mai 1998 gab es erste konkrete Ergebnisse: Beim US-EU-Gipfel wurde die „Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft“ offiziell besiegelt, ihr „Aktionsplan“ befasste sich als erstes mit den schwierigen Sektoren Agrarwirtschaft und Biotechnologie. Damals tauchte auch die Idee einer „Transatlantischen Freihandelszone“ auf: „Durch einen schrittweisen Abbau oder die Beseitigung von Hemmnissen für den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“ sollte nach und nach ein gigantischer „transatlantischer Markt“ geschaffen werden.
Den Europäern konnte es zu dieser Zeit gar nicht schnell genug gehen. Als sich die US-Wirtschaft Ende der neunziger Jahre verstärkt nach Asien und Lateinamerika orientierte, befürchteten die Brüsseler Bürokraten, die EU könne den amerikanischen Investoren keine vergleichbar guten Bedingungen bieten, also keine niedrigen Standards, keine niedrigen Löhne und keine obligatorische Staatshaftung für Vermögensschäden von Investoren.
Ein von OECD, EU und großen Konzernen im Geheimen verhandeltes „Multilaterales Investitionsabkommen“ (MAI) hätte dieses Manko beseitigen sollen, doch Proteste der Bevölkerung, vor allem aber der Widerstand Frankreichs sorgten Ende 1998 für einen vorläufigen Stopp des umstrittenen Vorhabens.
Phase 2: Die Zeit der Entfremdung
(1999 – 2013)
Ende 1998 wechselte in Europas führender Volkswirtschaft, in Deutschland, nach 16 Jahren Kanzlerschaft Helmut Kohls die Regierung. Der neue Kanzler, Gerhard Schröder, legte viel Wert auf gute Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, China und anderen Schwellenländern, deren Bedeutung für Europas Handel stetig zunahm.
Just in dieser Zeit kam es zu einem heftigen Handelskonflikt mit den USA. Es ging – schon damals – um Hormonfleisch und entsprechende Strafzölle: Die EU wollte kein hormonbehandeltes Fleisch importieren, die USA belegten europäische Produkte daraufhin mit Strafzöllen. Vor allem wegen dieses Konflikts scheiterte 1999 die Welthandelskonferenz in Seattle, und es ist sicher kein Zufall, dass die internationalen Proteste, die später auch die Wallstreet und die Banken erfassten (Attac, Occupy, Citizen), hier ihren Ausgang nahmen.
Europa und Amerika entfremdeten sich. Nach den Anschlägen von 2001 konzentrierten sich die USA auf den weltweiten „Krieg gegen den Terror“, während die EU mit der Etablierung ihrer Wirtschafts- und Währungsunion beschäftigt war. (Mancher prominente Transatlantiker vermutete gar, dass sich der Euro zum „Sprengsatz der transatlantischen Beziehungen“ entwickeln könnte.)
Die multilateralen Verhandlungen in der WTO stagnierten. Die aufstrebenden Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (die so genannten BRICS-Staaten) waren jetzt alle in der WTO vertreten und stark genug, sich nicht länger herumschubsen und erpressen zu lassen. Also suchte Amerika sein Heil zunehmend in bilateralen Abmachungen. In alle Himmelsrichtungen sondierte die US-Regierung mögliche Freihandelszonen, die ein bestimmtes Merkmal gemeinsam haben sollten: Die „einzige verbliebene Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) sollte die Kontrolle behalten, in Lateinamerika, in Asien, in Afrika, und eben auch in Europa.
Der immer kostspieliger werdende „Krieg gegen den Terror“ und die weltweite Finanzkrise nötigten die Weltmacht USA schließlich, rasch etwas gegen ihre negative Handelsbilanz und die wachsende Verschuldung zu unternehmen. Amerika musste mehr exportieren. Und der wichtigste Exportpartner war nun mal – trotz aller Globalisierungsanstrengungen – Good Old Europe. US-Präsident Barack Obama konnte nicht anders, als sich wieder stärker der EU zuzuwenden. Im Februar 2013 ließ er seinen Vize Joe Biden das Projekt der „Wirtschafts-NATO“ instinktsicher bei der Münchner Sicherheitskonferenz der NATO-Staaten verkünden.
Das transatlantische Verhältnis sollte sich wieder bessern – doch exakt in jenem Moment, in dem die EU-Mitgliedstaaten der EU-Kommission den Verhandlungsauftrag für die Wirtschafts-NATO erteilten (Juni 2013), wurde der NSA-Skandal publik. Angesichts der enthüllten Politik- und Wirtschaftsspionage wurden die Annäherungsversuche der USA an das alte Europa als doppelzüngig empfunden. Forderungen nach einem Stopp der TTIP-Verhandlungen wurden laut. Edward Snowden hatte einen Keil zwischen Amerika und Europa getrieben. Und Wladimir Putin nutzte die Gelegenheit und gewährte dem Whistleblower Asyl.
Phase 3: Die Wiederherstellung der alten Ost-West-Konfrontation
(2014 – ?)
In dieser schwierigen Situation kamen die Proteste der Ukrainer auf dem Kiewer Maidan wie gerufen.
Die Proteste waren entstanden, als die russische Regierung die zaghaft eingeleitete Westorientierung ihres Nachbarlandes durch das Angebot von billigem Gas und billigen Krediten in letzter Minute gestoppt hatte: Das bereits unterschriftsreife Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU wurde von der Regierung Janukowitsch fallengelassen und für das Linsengericht einer Zollunion mit Russland eingetauscht.
Die EU-Strategen nahmen diese Entwicklung dankbar und erleichtert hin, denn eine Integration der Ukraine hätte die EU enorm viel Geld gekostet. Die US-Regierung aber packte die Gelegenheit beim Schopf („Fuck the EU“) und machte Weltpolitik. Das heißt, sie schuf Fakten, ohne über die Folgen lange nachzudenken.
Mit tatkräftiger Unterstützung amerikanischer Dienste und Stiftungen (die seit vielen Jahren in der Ukraine arbeiten) wurde die unfähige Regierung Janukowitsch im Februar 2014 von einer entschlossenen Menschenmenge aus dem Amt geputscht.
Die absehbare Reaktion – die „Heimholung“ der Krim durch Russland – und die fortgesetzte Tatenlosigkeit der EU ermöglichten es der US-Regierung, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: 1. das europäisch-amerikanische Zerwürfnis über Nacht durch einen handfesten russisch-europäischen Konflikt zu ersetzen, und 2. die (in Europa umstrittene) Idee einer Wirtschafts-NATO zu stärken. Die geforderten Wirtschaftssanktionen würden die Geschäfte zwischen den beiden „Regionalmächten“ Russland und Europa unterminieren und die EU dazu bringen, sich wieder stärker an „westlichen“ Interessen zu orientieren. Positiver Nebeneffekt: Europa könnte mehr Produkte (Flüssiggas? Chlorhühnchen?) und Dienstleistungen aus den USA importieren.
Die Annexion der Krim durch Russland war also ein Glücksfall für die transatlantische Wertegemeinschaft. Nicht nur könnte die Durchsetzung des umstrittenen Freihandels-Abkommens TTIP jetzt etwas leichter vonstatten gehen, auch das „ungute Schaukeln der Europäer zwischen Ost und West“ wäre durch die neue Konfrontationslage erst einmal gebremst.
Vor die Wahl gestellt, die EU wegen der Krim in ein „alteuropäisches“ Westeuropa und ein „neuamerikanisches“ Osteuropa spalten zu lassen oder als Ganzes an die Seite der USA zurückzukehren, werden die Brüsseler Spitzen sicher Letzteres wählen. Und so könnte das Chlorhühnchen schon bald zum neuen Freiheitssymbol des Westens aufsteigen.
Zwischen Europa und den USA wird seit Juli 2013 das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP verhandelt. Der Abbau von Handelshemmnissen wirkt sich auf europäische Qualitätsstandards aus – von Lebensmitteln und Energie über Datenschutz, Arbeit und Soziales bis zur Kultur. Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt, das Spiel der Interessen ist schwer zu durchschauen. Unser Themenschwerpunkt möchte mit einer Reihe von Beiträgen mehr Licht ins Dunkel bringen.