von Tobias Endler, 9.9.16
Aktuell gehen hinter geschlossenen Türen nur wenige Beobachter auf republikanischer wie demokratischer Seite davon aus, dass die Vereinigten Staaten nach den Wahlen rasch zu alter Funktionstüchtigkeit zurückfinden. Es ist perfide, dass Trumps Wirkung über den 8. November hinaus anhalten wird, gleich ob er verliert oder nicht – überraschend ist es nicht. Der geborene Populist ist der Katalysator eines destruktiven Trends, der sich schon länger abgezeichnet und seine Kandidatur erst möglich gemacht hatte. Trump hat diese Entwicklungen lediglich verdichtet und beschleunigt. So gesehen ist ihm sein Triumph nicht mehr zu nehmen, er hat dem amerikanischen Volk samt seinem urdemokratischen Selbstverständnis eine herbe Niederlage beigebracht.
Viele Republikaner fügen sich derweil in ihr Schicksal und setzen auf einen Neustart nach den Wahlen, zu dem sich die Partei durchringen werde, sobald das Ausmaß der Verwüstung sichtbar wird. Wer will, kann freilich schon jetzt erkennen, wie rissig die ideologischen Grundfesten der Grand Old Party geworden sind, der konservative Wertekanon, die Liberalität in Wirtschaftsfragen, das Modell abschreckender Stärke in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seit Anfang der 80er Jahre haben diese Grundfesten ein Dach getragen, das die Partei weit gespannt hatte, von den Evangelikalen und der Arbeiterschaft am einen Ende bis hin zum libertären Großunternehmertum am anderen. Trump bringt nun das gesamte Gebäude ins Wanken: Zweifach geschieden, sprachlich verroht, kein Bezug zur Kirche, mit laxer Einstellung zur Abtreibung – das sind nicht die Werte der Altvorderen der Partei. Gegen den Freihandel, gegen eine proaktive oder gar offen interventionistische Außenpolitik: Trump steht mit den Wirtschaftsliberalen genauso auf Kriegsfuß wie mit den neokonservativen Falken der GOP.
Den Partei-Granden ist freilich klar: In den knapp eineinhalb Jahren zwischen Frühsommer 2015, als er seine Kandidatur verkündete, und Spätherbst 2016 wird der Politneuling Trump der ehrwürdigen Partei Lincolns einschneidende Änderungen aufgezwungen haben, die nachhallen werden. Die Republikaner werden ihre Einstellung zu Freihandel und illegaler Einwanderung in den Niedriglohnsektor ändern (letzteres wurde bisher oftmals stillschweigend hingenommen, weil die großen Unternehmen davon profitieren; viele Arbeiter sehen diesen Trend aber als bedrohlich für ihren Job an und tun dies auch lautstark kund). Sie werden außerdem ihr Mantra des Widerstands gegen einen interventionistischen Staat aufweichen, weil gerade die älteren Wähler im Land zunehmend auf soziale Leistungen angewiesen sind. Die Menschen erkennen, dass die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt nicht zuletzt mit einer der heiligen Kühe der Republikaner zusammenhängt, der Deregulierung, und diese sind endlich bereit, jene Kuh zu schlachten. Mit zur Schlachtbank geführt wird das bisher eherne Prinzip der Steuererleichterungen für die Reichen, welches der Basis nicht mehr länger zu vermitteln ist. Kurz: Es zeichnet sich ab, dass viele Anhänger der Konservativen künftig schlicht wieder in ihrem Interesse statt gegen ihre Interessen wählen – und damit ein Paradox entschärfen werden, das der US-Journalist Thomas Frank bereits vor über einem Jahrzehnt identifiziert hatte.
Aus dieser Warte könnte man dem Wüten Trumps gar etwas Positives abgewinnen. Deutlich bedrohlicher als für die Republikanische Partei erscheinen die Folgen des Tornados hingegen für das Land als Ganzes. In der US-amerikanischen Politiklandschaft wurde im Verlauf der letzten 15 Monate mit großer Wucht an den Wurzeln des demokratischen Selbstverständnisses gezerrt, und es ist noch nicht ausgemacht, wann die Debattenkultur der Nation, die konstruktive Auseinandersetzung im Diskurs wieder vollständig nachgewachsen ist. Die Schneise der Verwüstung ist gravierend, und dies ist umso gefährlicher, als sie zwar tief geht, für den Durchschnittsbürger, eingebunden in die Strapazen und Sorgen des Alltags – Arbeitsplatz, Hypotheken, Ratenzahlungen – aber nicht unbedingt auf Anhieb zu erkennen ist. Bei genauerer Betrachtung fällt dreierlei ins Auge:
Zunächst eine Verschiebung des Spektrums politischer Visionen ins Reaktionäre, zu beobachten im Politbiotop Washington D.C. und vor allem in den führenden konservativen Think Tanks der Hauptstadt und ihren medialen Kanälen. Während sich die dortige Intelligenzia in großen Teilen lautstark von Trump abgrenzt, halten einige Strategen – schon aus machttaktischen Überlegungen – gewisse Leitlinien und Handlungsentwürfe wieder für salonfähig, die längst überholt schienen. Beispiel Außen- und Sicherheitspolitik: Unterstützung erfährt Trump etwa vom früheren UN-Botschafter der USA, John Bolton, aber auch von Gillian Turner, einst Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats unter G.W. Bush und Obama, sowie dem Investor Peter Thiel (Paypal). Beispiel Immigration: Hier äußern sich selbst ansonsten erklärte Trump-Gegner wie Rich Lowry (National Review) und David Frum (The Atlantic) positiv. Beim Thema Freihandel wird sich Hillary Clinton ihrem Konkurrenten um das höchste Amt im Staat annähern müssen, um einige seiner Unterstützer in ihr Lager zu locken oder zumindest Unentschlossene von der Stimme für Trump abzuhalten. Faktisch hat Clinton bereits eine Kehrtwende vollzogen: Sie, die das transpazifische Handelsabkommen TPP lange Zeit unterstützt hatte, lehnt es nun ab, und damit implizit auch TTIP.
Darüber hinaus wird eine Gewöhnung aller am politischen Meinungsfindungsprozess Beteiligten an das Ordinäre und auch Vulgäre sichtbar, und zwar bei Bürgern mit oder ohne politisches Amt oder meinungsbildender Funktion. Das sprachliche Niveau der Auseinandersetzung ist gesunken, mancher beleidigende Bezug und herabwürdigende Kommentar wenn nicht passabel, so doch akzeptabel geworden. Trump gibt mit seinen brutalen verbalen Angriffen (die teils an einen Aufruf zu konkreter physischer Gewalt grenzen) das Tempo vor, lotet die Grenzen des Sagbaren aus. Und die Angegriffenen sehen sich gezwungen, sich ebenfalls mit harten Bandagen zu verteidigen: Die TV-Journalistin Megyn Kelly muss sich mit Trumps frauenfeindlichen Andeutungen auseinandersetzen, Marco Rubio mit sexuellen Anspielungen, die politischen Entscheiderkreise Washingtons mit Trumps unverhohlener Elitenfeindlichkeit. In Donalds Welt sind Mexikaner Vergewaltiger, Muslime Terroristen und Menschen, die bei seinen Veranstaltungen protestieren, einer Tracht Prügel wert. Umgekehrt ist der – gewählte – Spitzenkandidat der Republikaner für seine Gegner bestenfalls ein Idiot, andernorts ein rassistischer „Hetzer“ (Der Spiegel), gegen den „auch der robusteste Bierzeltredner wie ein hochseriöser Politprofi“ (Cicero) wirke. Argumentative Auseinandersetzung sieht anders aus.
Schließlich schreitet die Infizierung der Debatte mit Lügen und Falschaussagen weiter voran; Fakten verlieren laufend an Bedeutung. Die Gefahr, dass der diskursive Schlagabtausch am Ende ganz zum Erliegen kommt, ist durchaus real. Acht von zehn Aussagen, die Trump tätigt, sind nachgewiesenermaßen falsch bzw. grob verzerrend, wie die Washington Post nachweist – eine Zahl, die sprachlos macht.
Doch hat es der grandiose Selbstdarsteller geschafft, einen Kult um seine Person und Bewegung herum aufzubauen, der weit über die normale Unterstützung für einen Kandidaten hinausgeht (und in scharfem Kontrast zu Hillarys Dauerproblem steht, Begeisterung zu entfachen). In der Trumpschen Echokammer hat nur einer recht, und zwar immer. Der Autor von The Art of the Deal (das er freilich nicht selbst geschrieben hat) hat mittlerweile eine ganze Reihe Bankrotterklärungen und spektakulär gescheiterte Geschäftsmodelle aufzuweisen, doch das ficht seine Anhänger nicht an. Geht es nach ihnen, wäre Trump – in ihren Augen ein legendär erfolgreicher Businessman, der sein Reich von Grund auf aufgebaut hat – ohne weiteres in der Lage, die Supermacht Amerika genauso erfolgreich zu manövrieren. Ja, auch um den damaligen Jungstar unter den Senatoren, Barack Obama, war 2008 ein regelrechter Kult entstanden; bei den Anhängern von Bernie Sanders gab es im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2016 Ähnliches zu berichten. Doch brachten sowohl Obama als auch Sanders letztlich ihre Fans dazu, zumindest mit Clinton auszukommen (wenn auch nicht von ihr begeistert zu sein). Trump ist ein anderes Kaliber und unversöhnlich. Er wird Hillary in den nächsten acht Wochen zwingen, ebenfalls rhetorisch schmutziger zu agieren.
Trump total: Wenn der Sturm sich gelegt hat, beginnen die Aufräumarbeiten. Das wird dauern.
Nachtrag
Von dieser Seite des Atlantiks aus betrachten viele die hier skizzierten Entwicklungen fast unwillkürlich mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Fassungslosigkeit. Gelegentlich wird – nicht zuletzt in der deutschen Berichterstattung – gerne ein Quäntchen Überlegenheitsgefühl beigemengt. Dabei ist (auch milde) Häme über die Naivität der Trump-Unterstützer oder gleich den US-Amerikaner als solchen, in dessen Öffentlichkeit sich das spektakuläre Wahlszenario dieser Tage entfaltet, nicht angebracht. Hierfür drei Gründe:
Erstens ist Trumps Niederlage erst am 9. November besiegelt. In den Umfragen liegt The Donald nach wie vor gut im Rennen, teilweise fällt der Abstand zwischen ihm und Clinton in den Bereich der Fehlermarge. Sollte Trump tatsächlich gewinnen, wird der Rest der Welt ein Auskommen mit ihm finden müssen. Schon deshalb wäre eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Positionen sehr viel konstruktiver als spöttische Ignoranz. Zudem: Wenn Trump verliert, wird ein Teil seines Erbes auch die Präsidentschaft Hillary Clintons bestimmen – siehe oben. Sein bisheriger Triumphzug ist weniger ein persönliches Verdienst als ein Indikator für das Frustrationslevel der US-Bevölkerung: Die gefühlte Distanz und Bezuglosigkeit zu den von ihr gewählten politischen Entscheidern ist enorm. Hier ist die Parallele zu den aktuellen deutschen Verhältnissen klar ersichtlich: In Mecklenburg-Vorpommern geht die AfD damit hausieren, Merkel von der Insel Rügen zu „vertreiben,“ schließlich habe die Regierung in Berlin mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts mehr zu tun: Sounds familiar?
Statt uns über die Ahnungslosigkeit und Gutgläubigkeit der Amerikaner zu mokieren, sollten wir die bestehenden Parallelen zu unserer eigenen Politik und Gesellschaft sehen und den US-amerikanischen Wahlkampf 2016 als Warnung verstehen, wohin so etwas führen kann. An dieser Stelle kommt häufig der Einwand, dies sei nicht zu vergleichen, schließlich gäbe es in Deutschland keinen ernstzunehmenden populistischen Kandidaten für das mächtigste Amt im Staate, die Kanzlerschaft. Das ist korrekt, noch gibt es diesen Kandidaten nicht. Allerdings hat die AfD – eine Partei, die erst vor dreieinhalb Jahren gegründet wurde – in MV die Volkspartei CDU hinter sich gelassen, das sollte uns zu denken geben. Derweil haben wir das Glück, dass sich unser Wahlsystem in einigen zentralen Punkten von dem der USA unterscheidet und es daher großspurige Seiteneinsteiger vom Schlage Trumps hierzulande weniger einfach haben.
Zweitens nähert sich das subjektiv empfundene „Verunsicherungslevel“ bei der Bevölkerung in Deutschland wie auch in Europa insgesamt dem US-amerikanischen an: Krisen, die bisher eher abstrakt und nicht als unmittelbare Bedrohung für den persönlichen Alltag registriert wurden, sind dem Einzelnen nun sehr präsent. Die Herausforderung der Flüchtlingsbewegungen, sinkende Reallöhne und schwindende Kaufkraft, doch vor allem eine sich verschärfende Vertrauenskrise in die politische wie wirtschaftliche Elite: Der Abgasskandal bei VW, bei Porsche, bei Opel, der ADAC-Skandal um den Gelben Engel, der Skandal um die Vergabe der WM 2006, der nicht enden wollende Skandal um die Deutsche Bank, der absolut endlose Skandal um Missbrauch in der katholischen Kirche, der beinahe vergessene Bertelsmann/Middelhoff-Skandal, der Unverfrorenheitsskandal um die Abgeordnete Petra Hinz, der potenzielle Skandal um Justizminister Heiko Maas und netzpolitik.org – scheinbar ist niemandem in einer Machtposition mehr zu trauen. Wenig überraschend bewertet in der aktuellen Allensbach-Umfrage vom September 2016 Deutschlands Generation Mitte das eigene Leben zwar noch immer als überwiegend positiv, die gesellschaftliche Lage und Entwicklung im Land aber überwiegend negativ. In den Worten von Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher: „Die Verunsicherung der 30- bis 59-Jährigen ist gewachsen, ihr Zukunftsoptimismus steil zurückgegangen.“ Keine Frage, die Versuchung wächst, seine Stimme demjenigen zu geben, der vorgibt, mit diesem Schlamassel aufzuräumen.
Drittens gibt es in der hiesigen Medienlandschaft im Vergleich zu den Vereinigten Staaten das bessere, weil effektivere Korrektiv. Das muss allerdings nicht so bleiben. Während die Spitzenqualität einzelner US-Medien unbestritten ist (New Yorker, New York Times, Wall Street Journal, NPR), leidet die Branche seit Jahren an der wachsenden Parzellierung in ideologische Lager. Im Fernsehen besonders ausgeprägt (Fox, MSNBC) und auch bei den Zeitschriften und Magazinen schon lange präsent (Mother Jones links, National Review rechts), orientiert sich auch das vermeintlich so demokratische Internet mit zahlreichen Blogforen in Richtung Grabenkämpfe (AlterNet, Hot Air, Breitbart und andere). Erschwerend hinzu kommt der Einfluss aus der Wirtschaft gesteuerter Partikularinteressen auf die Schwerpunktlegung in der Berichterstattung (Microsoft bei MSNBC, Rupert Murdoch bei Fox). Die vermeintlich größte Katastrophe in diesem Zusammenhang, eine Präsidentschaftskandidatur des Mediensultans Michael Bloomberg, ist dieses Mal noch ausgeblieben; hier wäre die Hofberichterstattung gleich inklusive gewesen.
Eine weitere gefährliche Variante: Die Medien beschäftigen sich mit sich selbst. Was zunächst wirkt wie ein Mechanismus der Selbstreflexion innerhalb der Profession ist tatsächlich ein einziger großer Revierkampf um das prominenteste Argument und die größte Zuhörerschaft (jüngstes Beispiel ist Krugmans Einlassung in der New York Times: Dort wirft er seinen Kollegen vor, zu sehr mit sich und ihren Spekulationen beschäftigt zu sein – und bastelt genau daraus einen Artikel). Damit fehlt wertvoller Raum für eine kritische Auseinandersetzung über die Positionen und letztlich die Amtstauglichkeit der Spitzenkandidaten Trump und Clinton.
Die ideologische Lagerbildung, die Einflussnahme aus der Wirtschaft, das Schwimmen im eigenen Saft: Vor dem Hintergrund, welche enormen Summen im US-Mediensektor täglich umgesetzt werden und welche Zuschauerzahlen dieses Vorgehen generieren kann, dürfte die Versuchung für die hierzulande agierenden Sender und Redaktionshäuser stetig wachsen, ebenfalls auf diesem Weg weiterzugehen. Dabei sollte uns die Situation in den USA eine Warnung sein – und wir dankbar dafür, dass diese im Wahljahr 2016 deutlicher hervortritt denn je.
Im Dossier #Election2016 beschäftigt sich Carta mit den Kandidaten, Kampagnen und Konzepten von Demokraten und Republikanern. Wohin bewegen sich die Vereinigten Staaten von Amerika? Und welche Rolle wird Europa, wird Deutschland zukünftig spielen?
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