von Julia Thurnau, 15.5.16
Eine Off-Theater-Produktion kostet im Schnitt 15 000 – 60 0000 Euro, bringt aber maximal Eintrittskartenpreis x Zuschauerzahl ein – sie kann also ohne Staatliche Förderung kaum bestehen. Üblicherweise finden frei produzierte Projekte Obdach in staatlich geförderten Spielstätten und treten dafür 30-40 Prozent des Eintritts an die Spielstätte ab.
Kommt ein Mann zur Welt von Martin Heckmanns ist die neunte Produktion der freien Theater-Company Enkidu Events und die neunte Inszenierung der Regisseurin und Produzentin Beatrice Murmann. Mit Eigenmitteln, Spenden und Gratisarbeit hält sich die zehn- bis fünfzehnköpfige Theater-Company ohne staatliche Förderung über Wasser.
Nun betrete ich zum ersten Mal den Berliner Acker Stadt Palast. Die Betreiber sind heute Abend Kassierer und Baristas, versorgen uns 50 Zuschauer in der Enge des Einlasses mit Getränken und Schokolade. Bald darauf betreten wir ehrfurchtsvoll die Intimität eines kleinen, modern ausgestatteten Theaters.
Über einer quadratischen Fläche aus lindgrünen Turnmatten hängen vier weiße Vertikaltücher.
Nach und nach kommen diese Kokons in Bewegung, beginnen Töne, bald Worte von sich zu geben. Langsam und hilflos kommt ein Mann zur Welt (gespielt von Oliver Kube). Er wird sodann von drei atemlosen, aufgeregten Stimmen, die aus den verbleibenden Vertikaltüchern tönen, bombardiert. Laut, hektisch und atemlos schlüpfen diese Dämonen (hingebungsvoll gespielt von Meri Koivisto, Anete Colacioppo und Yuri Garate) aus ihren Kokons und turnen auf beziehungsweise in Brunos Kopf herum.
Mit zunehmendem Alter wird auch Bruno immer aufgeregter, lauter, atemloser. Fast hektisch reißt er uns Zuschauer mit. Wir erleben mit ihm seine ersten sexuellen Erfahrungen, den ersten von ihm geschriebenen Musik-Hit, seine große Liebe (zärtlich gespielt von Christiane Marx), seine Eskapaden und schließlich seinen einsamen Lebensabend.
Doch eigentlich erlebe ich alles durch die „Stimmen“. Abwechselnd Vater, Mutter, Lehrerin, erste Geliebte oder Patentante weihen sie mich in Intimitäten ein, verraten Brunos vergangene Verletzungen und seine Ängste der Gegenwart. Bald sind sie mir näher als er, diese Stimmen des immer arroganter und egoistischer werdenden Bruno, die nie Ruhe geben. Sie verraten mir alles… in keiner Reihenfolge… und das gefällt mir. Wäre die Welt ein wenig besser, wenn ich die Gedanken aller hören könnte? Im Sinne der Transparenzgesellschaft wäre es jedenfalls.
Stimmen im Kopf gibt es.
Doch unhörbar, heimlich. Kommt ihre Existenz ans Licht, wird der Mensch aus dem Betrieb gezogen und medikamentös versorgt. Zumindest in unserer westlichen Gesellschaft wird alles getan, um Stimmen im Kopf beizukommen. Sie haben keine Existenzberechtigung. In weiten Teilen Afrikas und Indiens jedoch werden sie ganz anders wahrgenommen – als helfend oder sogar göttlich. So konnte nachgewiesen werden, dass die Aggressivität der Dämonen oder, je nach Sichtweise, Götter im Kopf mit der jeweiligen kulturellen Umgebung variieren, so dass nun auch in der modernen westlichen Medizin der Gedanke zulässig ist, die Stimmen könnten zum Beispiel eine Schutzfunktion ausüben.
Die meisten Autoren und Regisseure findet man in ihren Protagonisten wieder.
Auch wenn sie keine Stimmen im Kopf zu haben scheint, kann ich der Regisseurin die Atemlosigkeit, Schnelligkeit, Nervosität des Stückes, den radikalen Bruch mit der Intimität des winzigen Palastes zuordnen: Hechel, schnauf, kreisch – dreimal Luft geholt und schon ist es vorbei, das schöne aufregende Leben.
Der Endlichkeit des Daseins begegnet Beatrice Murmann mit einer 80 Minuten kurzen Inszenierung, mit Tempo. Schneller sein als der Tod.
Dabei hätte ich mir mehr Raum gewünscht für die Ruhe der Protagonistin. Brunos große Liebe ist mit unendlicher Zärtlichkeit und Geduld ein Leben lang immer wieder für den aufgeregten Kerl da. Sie sagt ihm, was er vor lauter Stimmen (oder Ego?) nicht hören kann und lässt ihn leider – im Publikum des kleinen Theaters verschwindend – immer wieder allein mit sich, seinem Ego und seinen Stimmen, auf den lindgrünen Turnmatten, die seine Welt bedeuten.
Hat der „Stupid white man“ an sich seine eigenen Stimmen im Kopf?
Und zwingt deswegen der Welt sein hektisches, atemloses, kapitalistisches System auf? Mit dieser Frage beschäftigt verlasse ich ganz langsam den Saal, nein das kleine, intime Theater.
„Kommt ein Mann zur Welt“ in der Inszenierung von Beatrice Murmann ist zu sehen am:
29.5 um 17.30, Performing Arts Festival, Acker Stadt Palast
27 & 28.5, 20.00 h, AmbulatoriumTheater, RAW-Gelände, Friedrichshain.
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