von Juliana Goschler, 23.7.14
Das altbekannte Sommerloch der Printmedien erreicht in diesen Wochen seinen traurigen Tiefpunkt: In der Boulevardpresse werden – immerhin den Anspruch auf Aktualität nicht aufgebend – die Reaktionen auf die äußerst geschmackvolle Siegesfeier der deutschen Fußballherren diskutiert. Im SPIEGEL darf der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff behaupten, er wäre eine Provokation gewesen. Und die FAZ?
Die FAZ veröffentlich sieben “Weckrufe”. Nun sollen aber nicht etwa die Arrivierten, die Privilegierten und Wertebewahrer/innen aus ihrem geruhsamen Schlummer geweckt werden. Nein! Geweckt werden müssen in unserem Land die Jugendlichen. Genauer gesagt, die Studierenden. Denn die sind der FAZ ein Dorn im Auge.
Nun habe ich seit Jahren beruflich jeden Tag mit Studierenden zu tun. Ich sichte ihre Bewerbungen, ich unterrichte sie, ich berate sie, ich betreue ihre Abschlussarbeiten, ich unterschreibe ihre BaFöG-Anträge, ich sitze mit ihnen in Gremien, in der Mensa und im Bus. Und ich kann aus Erfahrung sagen: Das sind ganz normale Menschen.
Sie treten in vielen Varianten auf. Manche sind nett, manche sind engagiert, manche sind klug, manche gewitzt, manche interessant, manche auch alles auf einmal, manche vielleicht auch nichts davon (aber wie sollte ich das abschließend beurteilen können?). Tatsächlich sind sie als Gruppe eher unauffällig in ihrer Diversität. Aber schließlich erreicht heutzutage ungefähr die Hälfte jedes Jahrgangs die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung, warum sollte es also eine einheitliche Gruppe mit klar erkennbaren Merkmalen sein? Eigentlich haben sie alle vor allem ihre Jugend gemeinsam.
Wie also haben sie es geschafft, das FAZ-Feuilleton zu erzürnen?
Sieben “Weckrufe” sind es, die die FAZ an die Studierenden richtet, oder auch sieben Beschwerden. Tragen wir mal zusammen.
Erstens, so Weckruf Nummer 1, benutzen die Studierenden soziale Netzwerke. Lächerlich! Die Lächerlichkeit des studentischen Tuns wird durch die unvermeidlichen Anführungszeichen hervorgehoben: Man “liked” und “befriended” sich, man sammelt “Follower”. Aber das graphematische Naserümpfen über diese Formen der Kommunikation reicht natürlich nicht, man ist ja Feuilleton. Mit Anspruch!
Deshalb muss eine substanziellere Kritik her: Das alles führe zum Verlorengehen des Reizes, “nein” zu sagen, die Negation könne nicht ertragen werden! So wird zumindest vermutet. Ein Beleg dafür sei das Verhalten im Unterricht: Auch dort fehle der Widerspruch. Nun weiß ich ja nicht, in welchen Studienfächern der Autor Jürgen Kaube dies beobachtet haben will. Meint er Biologie, Mathematik oder Maschinenbau? Denn bei allem Respekt vor gepflegtem Dagegenhalten: In den meisten Fällen ist es nicht unbedingt einfach und auch nicht besonders sinnvoll, einem Hochschuldozenten in der Einführung in die Grundlagen des Faches zu widersprechen. Aber natürlich weiß ich schon, dass hier eigentlich nur von Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften die Rede ist – denn nur dort macht diese Art der Diskussionskultur Sinn, deren Verlorengehen beklagt wird.
Der Verdacht liegt nahe, dass der Autor nichts anderes kennt und nichts anderes kann. Vielleicht sollte man dann aber mal Gebrauch von geisteswissenschaftlichen Tugenden machen und zum Beispiel auf Genauigkeit und Begriffsschärfe achten. Zum Beispiel, indem man klar sagt, über wen und was man da eigentlich gerade Urteile fällt.
Der zweite Weckruf prangert einen anderen Missstand an: Die jungen Leute schrieben so viele Bewerbungen mit Lebensläufen! Nervig! Denn weil es so viele Studierende gibt, gibt es auch so viele Lebensläufe. Und darin stünden irgendwie zu wenig originelle Dinge und irgendwie zu viele, da ist sich die Autorin Friederike Haupt selbst nicht so ganz sicher. Denn die Lebensläufe wären praktisch alle identisch, wie von Robotern verfasst und enthielten Berichte über mindestens siebzehn lächerliche Praktika, wo man “in Peru unter Aufsicht des Goethe-Instituts elternlosen Alpakas Zöpfchen geflochten” habe.
Wie genau man mit Anfang zwanzig einen Lebenslauf vorlegen soll, der sich von allen anderen unterscheidet, aber gerade nicht durch ausgefallene Praktika, das sagt uns die freundliche Autorin nicht. Lieber schüttet sie noch ein bisschen poetisch formulierte Häme über junge Leute aus.
Drittens, klagt Weckruf Nummer 3, engagierten sich Studierende politisch, zum Beispiel, indem sie als Abgeordnete im Europaparlament säßen. Aber irgendwie auf die völlig falsche Art und Weise, nämlich “weltoffen, friedlich, tolerant, vielsprachig, mit vielen akademischen Titeln dekoriert, erfolgreich und piepsfrech, idealistisch” und noch mehr so widerliche Dinge. Abstoßend geradezu! Denn das dazugehörige “labern, twittern, viele Freunde sammeln” führe ja direktemang in die Spießigkeit.
Ja, da legt der Autor Jan Grossarth schon den Finger in die Wunde! Zum Glück würde er selbst nie “labern”, er schreibt ja für die FAZ! Allerdings muss ich hier heimlich gestehen, dass mich persönlich weltoffenes Twittern weniger stört als derart wirre Kommentare.
Viertens, so schließlich der nächste Weckruf, tun die Studierenden etwas, womit sicherlich kaum jemand gerechnet hat: Sie studieren nämlich. Ein Skandal, nun endlich aufgedeckt durch den investigativen Journalismus eines Axel Wermelskirchen. Dabei sammeln sie, halten Sie sich fest, “Bachelor-Punkte”. Gemeint sind wahrscheinlich Kredit- bzw. Leistungspunkte, aber die Kenntnis solcher Feinheiten kann man natürlich von Qualitätsjournalisten nicht verlangen. Durch dieses Studieren jedenfalls sitzen die Studierenden viel in “müffelnden WG-Zimmern” und Bibliotheken, werden gar zu “Grottenolmen” von trauriger bleicher Farbe. Außer, sie sind gerade am Badesee, was sie wohl auch machen, aber irgendwie auch nicht auf die richtige Art, denn dort wird Entspannung nur “performed”.
Ich gehe mal davon aus, dass der Autor dieses Weckrufs seine tiefsinnigen Texte ausschließlich im Freien verfasst und dann in seiner Freizeit schnell in geschlossene Räume geht, damit er ja nicht in den Verdacht gerät, Outdoorsiness zu performen. Ein echter Rebell!
Fünftens, weiß der nächste Weckruf zu berichten, sagten die Studierenden immer “genau”. So als Abschluss eines Gesprächsbeitrags. Wem das jetzt überhaupt nicht bekannt vorkommt: Es geht auch hier nicht um alle Studierenden. Sondern nur um solche, die sich um ein Praktikum in der Redaktion bewerben, in der auch Autor Matthias Alexander arbeitet. Und dieses Genau-Sagen weise darauf hin, dass diese jungen Menschen lange, aber unbefriedigend schwadronierten, “ihren eigenen dünnen Gedanken noch ein wenig Substanz ablauschen” wollten. Auch mit Fakten nähmen sie es nicht so genau.
Es gibt bei diesem Weckruf zwei Möglichkeiten: Entweder ist das sowieso alles Quatsch. Oder die Frankfurter Lokalredaktion der FAZ zieht Leute tatsächlich magisch an, die gerne auf der Basis dünner Gedanken und faktenfrei schwadronieren. Das würde einiges erklären.
Sechstens, so konstatiert Rainer Hank im sechsten Weckruf, hätte die Jugend von heute keine Gegner. Statt dessen “Toleranzgesäusel” ohne Standpunkt. Er dagegen berichtet von endlosen Kämpfen von Trotzkisten gegen Maoisten gegen Marxisten-Leninisten. Und diese Kämpfe hätten ihm gezeigt, was es heiße, ein Risiko einzugehen und etwas zu wagen. An dieser Stelle ist meine Ironie wohl überflüssig.
Schließlich und endlich, so der siebte und letzte Weckruf, würden die Studierenden nichts mehr erfinden: Sie würden zwar Handys benutzen, aber diese nicht weiterentwickeln! Hat man so etwas schon gehört! Immerhin ist der Autor dieses Weckrufs, Georg Giersberg, nicht nur kritisch gegenüber den Studierenden. Nein, auch die Eltern hätten Schuld: Schließlich hätten sie durch ihr schlechtes Vorbild – indem sie mit ihren schlechten Mathematik- und Physikkenntnissen kokettierten – die mangelnde Technikbegeisterung der Jugend zu verantworten.
Außerdem “versäumten es Elternhäuser, Schule und Wirtschaft statt begeisterter Handynutzer auch begeisterte Handyerfinder auszubilden”. Ich werde mir dies als Mutter natürlich zu Herzen nehmen und zukünftig meine Kinder zu Handyerfindern ausbilden. Ich bin mir zwar nicht sicher, wozu man heutzutage ein Handy “erfinden” sollte. Aber es ist sicher ein befriedigendes Gefühl, am selbst konstruierten Telefonapparat zu sitzen und Leute zu interviewen und am eigens gebastelten Computer mit selbst angelöteter Internetantenne Pressemeldungen entgegenzunehmen, die man dann in das selbst programmierte Redaktionssystem eingibt, so wie es sicher in der Wirtschaftsredaktion der FAZ, wo Giersberg arbeitet, gang und gäbe ist.
Lassen Sie mich nun abschließend auch noch ein Wort an die Studierenden von heute richten:
Liebe Studierende! Selbst wenn einige von Euch nicht gleichzeitig Handys erfinden und Marx und Mao auswendig zitieren können, wenn ihr manchmal “genau” sagt, obwohl ihr nichts Genaues wisst, selbst wenn ihr bleich am Badesee Alpakas frisiert und darüber aus dem Europaparlament twittert, ohne dabei jemals Widerspruch zu wagen: Ihr seid mir so unglaublich viel lieber als FAZ-Redakteure.
Prof. Dr. Juliana Goschler ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität Oldenburg. Crosspost von Dr. Mutti
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