#Erinnerung

Shahak Shapira und der #yolocaust: Warum nicht mit Bäm?

von , 23.1.17

„Ca. 10.000 Menschen besuchen täglich das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Viele von ihnen springen, skaten, radeln oder posen mit breiten Lächeln auf den 2711 Betonstelen des rund 19.000 m² großen Bauwerks für die Kamera“, schreibt Shahak Shapira. Dabei fotografieren sie sich gerne und laden ihre Selfies auf Facebook, Instagram, Tinder und Grindr hoch. Dort stoßen die Bilder dem israelische Satiriker und Autor bitter auf, weswegen er das Kunstprojekt #Yolocaust ins Leben ruft.

Das Projekt besteht aus drei Teilen: Einer bereits im Urban Dictionary verzeichneten eingängige Wortkombination aus der umgangssprachlichen, hippen Abkürzung „Yolo“ („you only live once“) und dem Wort Holocaust. Einer guten Handvoll Fotomontagen – stehen fröhliche Touristen eben noch auf grauen Stelen, tanzen sie per Mausklick mit Hilfe von Bildmaterial aus den Vernichtungslagern auf Leichenbergen. Und einem kurzen FAQ, darunter das süffisante, rechtlich gesehen nicht ganz glatt-koschere Angebot, das Bildmaterial zu entfernen, wenn man sich wiedererkennt und plötzlich schämt, und zwar unter der Mail [email protected]. Zack, boing, fertig.

Innerhalb der ersten 24 Stunden wird die Website 1,2 Millionen Mal aufgerufen, Nachrichtensender berichten, Shapira gibt Spiegel Online, FAZ und der Tagesschau Interviews, sein bereits vor Monaten erschienenes Buch „Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen“ klettert die Bestsellerliste ein gutes Stück nach oben. Shapira als Entlarver einer respektlosen Unsitte. Darf das so einfach gehen?

Nein, findet etwa Mirna Funk in einem Beitrag in der „ZEIT“. Shapira irre, wenn er glaube, mit seiner Aktion all jene erreicht zu haben, die die Schnauze voll vom Scheiß-Holocaust hätten, man könne diesen Leuten nicht einfach noch mehr Leichenberge vor den Latz knallen und hoffen, dass sie es dann kapieren. Die allgemeine Erwartungshaltung an dieses Mahnmal werde seit Jahren nicht erfüllt.

Entlarvend?

Tatsächlich ist das Überraschende an der Berichterstattung das Wort „entlarvend“. Seit Fertigstellung des Mahnmals befremden die Donut-Buden, die umherlaufenden, kichernden Touristen viele Menschen. Auch ich tröste mich damit, dass das Denkmal von Deutschen für Deutsche gebaut wurde, ohne Vorgaben für den richtigen Umgang damit.

Schwerer ist der Umgang mit Selfie-süchtigen Besucher, ob am Holocaust-Mahnmal oder gar in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Auschwitz. Was sagen zu der jungen Frau, die sich mit Schmollmund auf Schienen räkelt? Zu unzähligen Victory-Zeichen unter dem „Arbeit macht frei“-Schild? Ich denke ans Schreiben, Mahnen, Einordnen, Mitnehmen, rätsele dazwischen über die Bedeutung der Fahnen, die sich jungen Israelis für ihre Selfies um die Schultern legen, ist es ein Zufall, dass diese Reisen kurz vor dem Eintritt in die Armee organisiert werden?

Während ich noch denke und mich gräme, legt dieser unverschämte Shahak Shapira los. Nimmt alle bekannten Elemente, die Bilder, das Hashtag, das auch gerne von den Touristen selber unter ihre Tweets und Instagram-Posts gesetzt wird, und klatscht es zusammen. Watscht mit perfektem Timing auch noch seinem „Lieblings-Neonazi“, den Chef der AfD Thüringen, Bernd Höcke, ab, der zuvor das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und dem Shapira das Projekt kurzerhand widmet.

Darf man das einfach? Ja. Denn Shapira ersetzt gar nicht den Diskurs, das Einordnen und Mitnehmen der jungen Generation, er stößt das alles nur noch einmal an. Wenn der eine oder andere über das nächste Selfie nachdenkt, wenn ein paar Lehrer einen neuen Zugang für ihre gelangweilten Schüler finden und eben auch die Tagesschau, die Faz, der Spiegel, n-tv und alle anderen über den stechenden Schmerz berichten, den dieses Verhalten bei vielen auslöst, dann hat man eine frische Grundlage für die nachhaltigere Form der Erinnerungskultur, die sich Mirna Funk und andere wünschen. Zumindest für diesen einen kurzen Moment. Danach werden wir einen neuen Effekt brauchen.

 


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