von Doris Raßhofer, 23.3.10
Die Grundmuster hinter der Komplexität modernen Lebens und sozialer Netzwerk zu verstehen und Trends in gesellschaftlichen Dynamiken frühzeitig zu erkennen, das ist die große Leidenschaft von Zukunftsforscher und Organisationspsychologe Prof. Peter Kruse.
Herr Prof. Kruse, ein Teil der Menschheit klagt über eine nicht mehr zu bewältigende Flut von Informationen, ein anderer Teil speist die Flut selbst mit aller Kraft und wachsender Begeisterung. Ist der „Run“ auf die sozialen Netze nur ein kurzfristiger Hype oder Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels?
Peter Kruse: Wir befinden uns mitten in der nächsten Runde der Veränderungen der Gesellschaft durch das Internet. Ich würde mich nicht scheuen sogar von einer Revolution 2.0 zu reden. Schaut man auf die Massen von Menschen, die in den letzten Monaten in die sozialen Netze eingezogen sind, dann haben wir es gewissermaßen mit der ersten großen Völkerwanderung des digitalen Zeitalters zu tun. Der erste Internet-Boom in den 90er Jahren bezog sich auf den Zugang zu Informationen – Sie erinnern sich? AOL, Boris Becker, „ich bin drin“. Die Nutzer waren begeistert von der Vielfalt und Einfachheit, mit der man im Internet findet, was man vorher mühsam suchen musste. Während dieses Zugangs-Booms ist die Vernetzungsdichte explodiert. Aber der wirklich große Schub kam erst im letzten Jahr durch die ernorme Erhöhung des Grades der persönlichen Beteiligung. Zu Anfang haben die meisten Menschen das Internet nur wie Besucher betreten, jetzt sind sie gewissermaßen „mit Haut und Haaren“ eingezogen. Das Internet ist zum eigenständigen Kommunikations- und Kulturraum geworden
Warum haben wir plötzlich solchen Gefallen daran, uns der Öffentlichkeit mit persönlichen Details und privaten Beiträgen zu präsentieren?
Kruse: Ein tiefes Motiv der Menschen für Beteiligung in Netzwerken ist der Wunsch, Spuren zu hinterlassen – und das nicht erst seit es das Internet gibt. Was erhoffen wir uns denn am Ende unserer Tage? Bei anderen Menschen in Erinnerung zu bleiben. Auch der Wunsch nach Kindern spiegelt letztlich in nicht geringen Anteilen diesen Wunsch wider. Da ist natürlich ein Medium recht verführerisch, das jedem verspricht, alltägliches „Gezwitscher“ ebenso sorgfältig zu bewahren wie persönliche Videos oder sorgsam geführte Tagebücher. Insbesondere, wenn man mit seinen Tweets, Bildern oder Blogs im Prinzip jederzeit das Interesse von vielen Millionen Menschen auf sich lenken kann – und das fast ganz ohne die Hilfe der klassischen Massenmedien.
Mit der immer größer werdenden Zahl von Menschen, die sich im Netz miteinander austauschen, tritt neben Information und Selbstdarstellung auch noch ein gesteigertes Bewusstsein für die grundsätzliche Möglichkeit, über Resonanzbildungseffekte Massenbewegungen auszulösen. Und diese dritte Motivlage wird vermutlich die eigentlich Gesellschaft verändernde Kraft des Internets entfalten.
Das Machtverhältnis zwischen Anbieter und Nachfrager verschiebt sich. Ob etwas erfolgreich wird oder nicht, ob etwas Wirkung entfaltet oder nicht, wird zunehmend unabhängiger vom investierten Werbebudget oder von geschickter PR. Scheinbar Nebensächliches kann sich in kürzester Zeit zu einer Welle aufschaukeln – während gleichzeitig eine mit großem Aufwand strategisch platzierte Botschaft weitgehend ungehört verhallt.
Aber was führt zu dieser Machtverschiebung? Die Menschen und die gesellschaftlichen Systeme sind doch die Gleichen geblieben?
Kruse: Wir haben in den Netzen eine kritische Masse erreicht und optimale Voraussetzungen für Aufschaukelungseffekte geschaffen. Das führt zu einer Euphorie des Möglichen.
Können Sie das erklären?
Kruse: Für Aufschaukelungseffekte in Netzwerken sind drei Voraussetzungen wichtig. Man braucht eine große Zahl von möglichst vielfältig miteinander verbundenen Menschen, die außerdem auch häufig ohne äußere Anregung aktiv werden und Impulse anderer durch gezieltes Aufgreifen verstärken. Man braucht das Zusammentreffen von hoher Vernetzungsdichte, großer Spontanaktivität und kreisenden Erregungen. Die Vernetzungsdichte ist schon lange hoch, aber durch das Social Web hat die Menge der aktiven Mitspieler im Internet eine kritische Größenordnung erreicht und durch Formen positiver Rückkoppelung à la Re-Tweet bei Twitter ist zur Dynamik der Netzwerke noch einmal ein Turbolader zugeschaltet worden. Das Internet ist inzwischen eine ständige Aufforderung an den berühmten Schmetterling der Chaostheorie, wieder einmal mit seinem Flügelschlag das Wetter zu beeinflussen: kleine Ursache – große Wirkung.
Menschen wittern also die Chance, Gehör zu finden oder gar die Welt zu verändern?
Kruse: Denken Sie beispielsweise an die Online-Petition gegen das „Zugangserschwerungsgesetz“, die Franziska Heine eher nebenbei ins Netz stellte und die dann völlig überraschend binnen kürzester Zeit fast 150.000 Unterstützer in Deutschland mobilisierte. Was für ein Gefühl, als „normaler Bürger“ unvermittelt ins Rad der Geschichte zu greifen. Das ist vielleicht noch am ehesten mit einem Lottogewinn vergleichbar. Nicht jeder Tippschein gewinnt, aber wer die richtige Kombination trifft, über den schüttet sich das Füllhorn aus. Treffen sie mit einer Aktivität im Internet ins Herz der Zeit, dann kennt die Wirkung einfach keine Grenzen mehr. Da kann es schon mal passieren, dass die private Rache eines enttäuschten Fluggastes die Aktie einer Fluggesellschaft um 10% einbrechen lässt. So geschehen bei United Airlines im letzten Jahr. Die dreitausend Euro teure Gitarre des Sängers Dave Carrol fiel ruppigen Packern auf dem Flughafen zum Opfer. United Airlines verweigerte eine Wiedergutmachung. Der Sänger komponierte daraufhin ein Schmählied, das inzwischen über 8 Millionen Mal auf YouTube angesehen wurde. Der Firmenwert von United Airlines schrumpfte um ca. 180 Millionen Dollar – Bingo!
Ist das Internet eine Art Königsmacher?
Kruse (lacht): Ja, nur viel kreativer und deutlich authentischer als „Deutschland sucht den Superstar“. Erst habe ich zwei Follower, dann 20, dann 2000. Die drei Top-Twitterer haben zusammen bereits mehr Follower als Österreich Einwohner. Man kann nicht nur Spuren hinterlassen, sondern man kann aus der Nische, aus dem „Long Tail“ heraus, Wirkung in der Realität erzeugen. Das ist natürlich reizvoll. Früher brauchte man dafür die Massenmedien mit ihren Distributionsapparaten und zumeist wurde dort nur der Mainstream verstärkt. Plötzlich gibt es ein Werkzeug, über das jede Nische in die Mitte der Gesellschaft vordringen kann. Das bringt auch Politiker zunehmend ins Grübeln.
Sie sagen, die Menschen wollen Spuren hinterlassen. Doch ist es genau dieser Charme des Systems, der derzeit für heftige Kritik und Angst sorgt.
Kruse: Ja, viele wünschen sich, Spuren zu hinterlassen, aber natürlich ohne jedes Risiko. Das ist nicht logisch, aber psycho-logisch. Ich will alles, ich will alles und zwar sofort. Genuss ohne Reue. Wirkung ohne Nebenwirkung. Schön wär’s. Das Netz verbindet die Flüchtigkeit des Gesprächs mit der Permanenz des Buches. Im Netz ist die Aussage „was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“ kein guter Rat. Die Rückverfolgung meiner Spuren ist nur begrenzt durch den zur Verfügung gestellten Speicherplatz.
Die Lust Spuren zu hinterlassen unterliegt daher der gleichen Balance von Rendite und Risiko, wie die meisten anderen interessanten Lebensbereiche. Wenn ich möchte, dass das Netz von mir Notiz nimmt, dann ist der Preis der Transparenz kaum zu vermeiden. Man muss ja nicht alles ins Netz stellen und es auch nicht jedem zugänglich machen. Aber mit jeder Beschränkung reduziert sich die potentielle Wirkungskraft – keine einfache Entscheidung.
Wie gehen Sie damit um? Was geben Sie im Netz preis?
Kruse: Meist nur etwas, hinter dem ich stehe und das mir auch wichtig ist. Ich bin beispielsweise ein eher spärlicher Twitterer. Aber wenn ich twittere, dann will ich das auch genau so formuliert haben. Die Aussage „sitze gerade mit Gustav in Wien und trinke Kaffee“ gehört bei mir eher nicht dazu. Für die Fangemeinde von Robby Williams wäre eine solche Aussage ihres Stars vielleicht hinreichend bedeutungsvoll. Für meinen Kaffeekonsum interessiert sich kein Schwein. Damit muss ich wohl leben.
Ich habe vor den scheinbar so flüchtigen Interaktionen im Netz durchaus Ehrfurcht, weil sie gar nicht flüchtig sind, sondern Geschichten schreiben. Wenn ich ein Buch verfasse, gebe ich mir ja auch Mühe. Ich persönlich finde es wenig sinnvoll, dieses Netz mit Informationen zu überfrachten, deren Wertigkeit gerade mal eine SMS rechtfertigt, da nur für wenige Adressaten interessant. Das Soziale Netz ist ein schnelles Medium, ein wilder Strom von Real Time Informationen, aber deshalb nicht zwingend anspruchslos und trivial. Ich würde ja auch nicht für jeden Unsinn ins Auto steigen und Ressourcen verschwenden.
Noch wirkt jedoch vieles trivial. Was muss passieren, dass die geforderte Qualität ins Netz einzieht?
Kruse: Das ist sicherlich richtig und teilweise auch durchaus absichtsvoll. Aber das Gefühl der Oberflächlichkeit ist nur Symptom für eine tiefer liegende Problematik. Über Hyperlinks können sich Informationen im Internet radikal aus ihrem Kontext lösen. Und Information ohne Kontext sind sehr schwer nachzuvollziehen. Manchmal wird dann für den Empfänger völlig bedeutungslos, was für den Absender noch sehr wertvoll und aussagekräftig erschien.
Ganz gemein wird es, wenn man versucht, auf der Basis von 140 Zeichen ironisch zu sein. Die Tatsache, dass es uns normalerweise gut gelingt, eine Ironie von einer Faktenaussage zu unterscheiden, setzt die Teilhabe an einem gemeinsamen inhaltlichen oder kulturellen Hintergrund voraus. Ohne Unterton und Kontext bleibt beispielsweise die Aussage „Dieter Bohlen ist einer der größten deutschen Künstler“ ein eindeutiges Loblied. Das Ganze wird besonders bedenklich, wenn sich Menschen auf eine Fremdsprache einigen, ohne aus der zugehörigen Erlebniswelt zu kommen. Dann reden zwar alle eine Sprache wie Englisch und erzeugen dennoch mehr Verwirrung als beim Turmbau zu Babel.
Ist „social tagging“ dafür eine Hilfe bzw. dagegen eine Lösung?
Kruse: Man hatte einige Hoffnung, dass es über „social tagging“ gelingt, das Bedeutungsproblem im Internet zu entschärfen. Man dachte, dass auf diesem Weg eine Art empirische Ontologie entsteht. Aber die Menschen verwenden Sprache im Internet viel zu undiszipliniert. Ohne einen erläuternden Kontext ist man sich nie sicher, wie ein als „tag“ genutztes Wort gemeint ist. Was nützt der „tag: Theater“, wenn der eine darunter die Seiten von Scheidungsanwälten verwaltet, weil er gerade „Theater“ in seiner Beziehung hat, und der andere das Schauspielprogramm in seiner Stadt verlinkt.
Das ist auch nach wie vor das große Defizit von Suchmaschinen. Man bekommt häufig einfach nicht das, was man gesucht hat oder zumindest viel Unsinniges zusätzlich. Mir fällt dazu immer der Film „Nell“ mit Jodie Foster ein, in dem die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die mit einer aphasischen Mutter und einer Zwillingsschwester allein im Wald aufwächst und mit ihrer Schwester eine „Privat“-Sprache entwickelt hat, die nur die Beiden verstehen. Als die Schwester stirbt, bleibt sie mit „ihrer“ Sprache allein zurück. Als sie auf andere Menschen trifft, wird sie für geistig zurückgeblieben gehalten. Erst im Laufe des Filmes, über einen quälenden Prozess der Kontext- und Bedeutungsklärung wird klar, dass sie emotional hoch differenziert und bei weitem nicht zurückgeblieben ist.
Sprache verliert ihre Funktion ohne einen geteilten Kontext der Wortverwendung. Das hat schon Ludwig Wittgenstein sehr pessimistisch gemacht, was das gegenseitige Verstehen der Menschen angeht.
Dieses Semantik-Problem, ohne dessen Lösung auch eine Bewertung von Information nur sehr rudimentär möglich ist, ist so etwas wie ein Geburtsfehler des Internet. Ohne automatisches Sprachverstehen bleibt das Netz wohl dauerhaft unter seinen Möglichkeiten. Man kann halt nicht mit vielen hundert Millionen Menschen eine tragfähige gemeinsame Kultur aushandeln, die auch nur annähernd die Differenziertheit hat, die uns im normalen Alltagsleben so selbstverständlich zur Verfügung steht. Kleinere Subnetzwerke können das Bedeutungs- und damit das Bewertungsproblem über Kontext klärende Diskurse bewältigen, das große Ganze schafft das nicht.
Und die Bewertung ist unerlässlich für die Einordnung der Millionen an Infos – was ist relevant, was ist richtig. Haben Sie hier eine hilfreiche Strategie?
Kruse: Eigentlich bleibt nur das persönliche Bemühen um ein möglichst breites Allgemeinwissen und um die Fähigkeit, sich in viele verschiedene Lebensperspektiven einfühlen zu können. Netzwerkkompetenz steigt mit der Fähigkeit zu Querdenken und Empathie. Wir brauchen wieder stärker das Bemühen um ein Studium Generale – und das nicht, weil sich konservative Bildungsbürger in die Vergangenheit zurücksehnen, sondern weil die Leistungsträger von Morgen darauf angewiesen sind, die Komplexität des Real Time Web sinnvoll reduzieren zu können. Im Netz ist derjenige besonders wertvoll, der Muster erkennt und Information sicher bewerten kann.
Menschen, die die vielen kleinen Info-Happen in ein größeres Bild einordnen können?
Kruse: Die ununterbrochen dahinströmende Informationsflut des Real Time Web erzwingt eine radikale Änderung der Strategie der Informationsverarbeitung. Die Psychologen nennen die alternative Strategie „frei schwebende Aufmerksamkeit“. Es geht nicht mehr darum, jedes Detail in der Lawine vorbei purzelnder einzelner Steinchen wahrzunehmen, sondern darum, die Steinchen schnell und sinnvoll in einen übergeordneten und wenn möglich sinnvollen Zusammenhang einzufügen. Was früher Domäne der Redaktionen, Trendforscher und Berater war, wird immer mehr zur existenziellen Aufgabe von uns Allen. Die Informationen im Internet sind nicht mehr nur das Rohmaterial für Experten, sondern eine permanente Herausforderung für jeden Nutzer. Ob die vom Nutzer zusammengefügten Puzzles dann einen Mehrwert haben oder nicht, hängt davon ab, wie groß dessen Fähigkeit ist, viele Informationen aufzunehmen und zu bewerten.
Neben Querdenken und Empathie wird es immer wichtiger, auch eine möglichst große Aufmerksamkeitsspanne zu trainieren. Wie lange können Sie bei einer Sache bleiben, ohne Langeweile zu empfinden? Wie viele Informationen können gleichzeitig auf Sie einströmen, ohne dass Sie aus Überforderungsgefühl abschalten? Viele junge Menschen haben überhaupt kein Problem mit dem Überforderungsgefühl durch parallele Informationsströme, aber sie sind über die schnelle Taktung von MTV & Co. nicht mehr daran gewöhnt, sich längere Zeit aufmerksam einer Sache zu widmen. Ihre Aufmerksamkeit wird in erster Linie über den Orientierungsreflex gesteuert, den das Neue auslöst. Für qualitative Musterbildung ist das nicht genug. Was nützt mir die Fähigkeit, entspannt zwischen vielen News-Tickern zu wechseln, wenn ich die Informationen nicht angemessen einordnen kann?
Die interessanten Infos gilt es irgendwie aus dem permanenten Strom an Infos herauszufiltern. Bei der Informationsmenge im Internet kein leichtes Unterfangen, eher wie die Stecknadel im Heuhaufen finden.
Kruse: Es ist keine Sisyphus-Aufgabe, sondern eine Frage der Informationsverarbeitungsstrategie. Wenn sie die Informationen detailliert nachvollziehen wollen, wie beim Lesen eines Buches – detailsicher bei Kontext und Zitat – dann platzt ihnen irgendwann die Birne. Es gilt Unschärfen zu akzeptieren.
Nämlich wie?
Kruse: Schwimmen, nicht filtern. Dann spürt man die Strömung, die Dynamik der Welt. Wenn jemand anfängt zu twittern, frag ich mich immer: nutzt er Twitter als PR-Instrument, will er kontrollieren oder will er wirklich mitschwimmen, möchte er Teil dieser Dynamik werden? Es geht darum, angekoppelt zu sein, es geht um die Lust an der Unkalkulierbarkeit. Es ist eine Form zu leben, anstrengend aber anregend – eine Bereicherung. Wer „Herr oder Frau der Lage“ bleiben will, für den ist das Internet inzwischen ein sehr unangenehmes Medium. Wer einen Ameisenhaufen aufräumen möchte, wird sich schnell überfordert fühlen. Wer aber beobachtet, welche Wege die Ameisen gehen und wie sie ihren Staat organisieren, für den ist das ein faszinierendes Geschehen. Aber, wem es dennoch auf Dauer nicht gelingt, Muster zu erkennen, der läuft Gefahr einfach ins driften zu geraten. Das verbraucht nur viel Zeit und bringt nichts und ist noch am ehesten der unproduktiven Gedankenflucht in einem psychotischen Schub vergleichbar.
…dann hängen Leute stundenlang im Netz ohne Ziel.
Kruse. Aber das ist nicht die Schuld des Netzes, die Netze machen nur das Angebot dazu. Die Psychose muss ich schon selbst in den Griff bekommen. Genie und Wahnsinn liegen mal wieder nah beieinander.
Ein weiterer Verantwortungsruck?
Kruse: Ja, über die Netzwerke gerät der gesellschaftliche Status der Experten unter Druck und generell haben es alle „gatekeeper“ immer schwerer, ihre Autorität zu wahren. Das Internet erzwingt einen ehrlichen Umgang mit Kompetenz. Das gilt natürlich auch für die Nutzer. Wer Macht übernimmt, übernimmt Verantwortung. Wir sind verantwortlich für das, was wir ins Netz stellen und für das, was wir aus dem Netz übernehmen. Deshalb noch mal: Die Verbesserung von Bildung ist gegenwärtig eine Aufgabe höchster Priorität. Das Netz ist nur so klug wie sein mittlerer User.
Welche Auswirkungen werden das Netz und der „Machtwechsel“ auf die Demokratie haben? Sie sagten einmal „Wenn das Netz etwas will, setzt es sich durch“.
Kruse: Positiv lässt sich vermuten, dass es das Netz jedem Diktator schwer machen wird, seine Machtposition zu erhalten. Das Netz kann man nicht steuern und langfristig auch kaum gezielt manipulieren. Wer ohne resonanzfähig zu sein mit allen Mitteln seine Interessen durchsetzen möchte, hat im Netz letztlich keine Chance.
Eigentlich ist das Internet die bislang radikalste Form der Demokratisierung der Gesellschaft. Die Angst der Mächtigen vor dem Plebiszit ist durchaus gerechtfertigt – bezogen auf Status ohne Mehrwert und bezogen auf jedwede Form von „hidden agenda“. Was für Experten generell gilt, wird besonders für die Politik wichtig. In der Gegenwart der Netzwerke kann direktere Beteiligung an Entscheidungsfindungsprozessen kaum noch verwehrt werden. Die Demokratie wird ohne Zweifel direkter werden – mit oder ohne Unterstützung der etablierten Parteien. Beim öffentlichen Agenda-Setting ist der Einfluss der Netze bereits Realität, in der Parteipolitik wird noch gefremdelt.
Und was ist mit neuen Machtinstanzen wie Google?
Kruse: Firmen wie Google als neue Weltmächte auszurufen, ignoriert die Dynamik und Größe der Netze. Selbst Google hat bislang nur geschafft, einen Bruchteil der Daten im Netz zu indizieren. Ob Google seine Position zukünftig halten kann oder nicht, hängt mehr von der Masse der User ab als von Google. Ich finde es persönlich sehr irritierend, wenn man glaubt im Netz hätten Marken die gleiche stabilisierende Kraft wie außerhalb des Netzes. Es ist kein Zufall, dass die professionellen Akteure im Netz immer mehr versuchen, auch mit eigenen Produkten wie E-books oder Smartphones Teil der Offline-Wirtschaft zu werden.
Schauen sie sich mal die bekanntesten Internet-Firmen von vor fünf Jahren und von heute an: das Internet ist eine „untreue Tomate“. Wenn Google aus irgendeinem Grund seine Attraktivität einbüßt, dann zieht die Karawane weiter. Die Idee, über den Besitz von Daten oben zu bleiben, ist genauso wenig sicher, wie der Versuch, seine Position dauerhaft über Userzahlen garantieren zu wollen. Die eigentliche Währung im Netz ist nicht die Menge der Nutzer oder gespeicherter Informationen, sondern die Aufmerksamkeit durch Attraktivität.
Sie sehen also im Web 2.0 noch keine Gefahren auf uns zukommen?
Kruse: Solange die kreative Zusammenfassung und Musterbildung an Menschen geknüpft ist und das automatische Sprachverstehen noch in den Kinderschuhen steckt, erstickt jeder „große Bruder“ am Problem der Semantik. Erst wenn Bedeutung automatisch erkannt werden kann, erreicht das Netz als System eine neue Qualitätsstufe und damit auch ein neues Gefährdungspotential. Web 2.0 ist soweit noch ganz handhabbar. Das Missbrauchspotential eines semantischen Web 3.0 würde mich da schon deutlich mehr ins Schwitzen bringen.
Früher war man Teil einer Seilschaft, heute hat man 350 Facebook-Freunde. Wie hat sich der Begriff „Netzwerk“ verändert?
Kruse: In Wirtschaft und Politik redet man häufig von Beziehungsnetzwerken, bei denen die gegenseitige Förderung der beteiligten Partner im Vordergrund steht. Diese Netzwerke sind schon länger auf dem absteigenden Ast. Nicht zuletzt weil die Menschen häufig schneller ihre Positionen wechseln, als sich der Mehrwert einer Beziehung realisieren lässt. Diese persönlichen Netzwerke verändern sich auch ohne Internet schon seit längerem in Richtung auf den Attraktivitätsfaktor Kompetenz.
Was macht den Unterschied?
Kruse: Im Kompetenznetzwerk fragt man nicht, wer vernetzt sich mit wem, sondern warum? Man verbindet sich mit interessanten Fähigkeiten und Inhalten – und das nur solange, wie die Fähigkeit oder der Inhalt attraktiv genug sind. Ist das Interesse erloschen, wird die Verbindung einfach gelöst. Heute ist man ein zentraler Netzwerkknoten und schon kurze Zeit später möglicherweise bereits nicht mehr wichtig. Kompetenznetzwerke sind brutal ehrlich. Die Halbwertszeit einer Berühmtheit ist gering, wenn sie aufhört sich zu entwickeln.
Hat irgendwie eine verletzende Komponente, finden Sie nicht?
Kruse: Ja, Kompetenznetze sind kalt aber auch sehr klar. Als Teilnehmer in Kompetenznetzwerken bin ich so gut wie nicht zu enttäuschen. Wenn ich nichts anzubieten habe, das im Netz resonanzfähig ist, dann ist es kein Problem ignoriert zu werden. Es freut mich zwar, wenn andere das, was ich anbiete, wichtig genug finden, um es zu abbonieren, aber es ist nicht meine Basismotivation. Ich bringe Inhalte ins Netz, weil sie mir persönlich wichtig sind. Ich zentriere mich auf die eigene Faszination, denn Authentizität ist bereits für sich genommen etwas Wertvolles. Bekomme ich dann partout keine Resonanz, dann beruhige ich meinen Narzismus im Zweifelsfall mit der Überlegung, dass die Welt einfach noch nicht reif für mich ist (lacht).
Wie können sich denn Unternehmen auf diese Veränderung vorbereiten, wie sieht das Angebot für einen Nachfragemarkt aus?
Kruse: Was ich wirklich hasse ist der Begriff Web 2.0-Strategie. Weil das zwei ins sich widersprüchliche Begriffe sind – ein Oxymoron. Strategie ist laut Definition das planvolle Erreichen eines Ziels unter Kenntnis der Mittel und Wege. Das gibt es im Netz aber nicht. Wenn Firmen von Web 2.0-Strategie reden, dann versuchen sie ein dynamisches System mit statischen Mechanismen zu beherrschen. Auch hier wieder: Es bleibt nichts anderes, als ehrliche Botschaften zu versenden und aufrichtige Gesprächsangebote zu machen. Leander Wattig, ein einflussreicher Blogger in Deutschland, hat die einzig mögliche Erfolgsstrategie im Social Weg schlagend auf den Punkt gebracht: Bitte…Danke.
Was ist die wichtigste Voraussetzung für Resonanzfähigkeit?
Kruse: Empathie. Versuchen Sie einfach so intensiv wie möglich in die Kulturen einzutauchen. Gute Unternehmer haben das immer schon gekonnt. Sie haben ein Gefühl dafür entwickelt, wohin sich die Märkte entwickeln und dann ihre jeweilige Wette platziert. Professionelles Unternehmertum lebt von der Fähigkeit sensibler Wahrnehmung und erst danach von der Fähigkeit zielstrebiger Umsetzung. Für Management ist es genau anders herum.
Brauche ich für diese „unternehmerische Wahrnehmung“ zwingend das Netz? Gute Unternehmer gab es ja schon immer, auch lange vor dem Web.
Kruse: Natürlich weisen einem auch die klassischen Medien den Weg. Aber ich hatte noch nie so sehr das Gefühl, an Zeitströmungen angekoppelt zu sein wie durch das Internet. Viele Nachrichten hole ich mir nach wie vor aus den „alten“ Medien. Ich bin immer noch passionierter Zeitungsleser. Aber die Strömungen der Zeit kann ich nirgends so früh und so umfassend erleben wie im Netz. Oft komme ich mir vor, wie ein großer Bartenwal, der durch planktonreiche Gewässer schwimmt und von morgens bis abends Nahrhaftes herausfiltert. Obwohl man sich dafür ständig bewegen muss, bleibt genügend übrig, um sich eine Speckschwarte zuzulegen.
Ich will in erster Linie selbst verstehen – selbst die Muster erkennen. Manchmal vergesse ich dann fast meine Erkenntnisse zur Diskussion zu stellen. Das Verstehen von Zusammenhängen ist eines der wertvollsten Dinge für mich. Da hat man manchmal das Gefühl, für einen kurzen Moment vom Weltgeist geküsst zu werden. Wenn man sich beispielsweise Zwölftonmusik anhört, ist der Kopf zuerst auch ziemlich überfordert und die Töne scheinen nicht zusammen zu passen. Dann irgendwann, wenn man sich lange genug der Frustration aussetzt, erkennt das Gehirn die Muster und die Schönheit der Musik entfaltet sich. Das hat schon etwas Erhabenes und ist ein Wert in sich.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ein Geschäftsmodell aussehen könnte, das die Kreativität nährt, die das Netz speist? Und was wäre, wenn irgendwann niemand mehr einfach umsonst mitmacht, weil sich keiner mehr die Gratisbeiträge leisten kann oder will?
Kruse: Solange die Leute Reputation im Netz noch als Währung begreifen, wird das nicht passieren. Auch in den „emerging markets“ existiert sicher noch genug gebefreudiges Kreativpotenzial, um das Web noch eine ganze Zeit umsonst zu befeuern. Aber die Frage nach lebensfähigen Geschäftsmodellen wird mit dem Social Web immer drängender. Werbeeinnahmen sind da ebenso wenig eine Lösung wie Datenverkauf, solange es sich nicht um Bankdaten aus der Schweiz handelt. Die stehen natürlich krisensicher hoch im Kurs.
Was halten Sie von den aktuellen Paid Content-Ideen?
Kruse: Jede Restriktion im Zugang ist eigentlich unangemessen für das Netz. Wie wertvoll müssen Inhalte sein und immer wieder werden, um auf Dauer den alten Warencharakter der Information wieder zu beleben. Ich denke das Netz wird mit den Paid-Content-Anbietern Hase und Igel spielen. Die Nutzer versuchen die Barrieren zu umgehen und die Anbieter versuchen sie immer weiter zu erhöhen. Es reicht schon einfaches statistisches Denken, um zu schätzen, wer da die Nase vorn haben wird. Eher würde mir eine Währung gefallen, die auf einer Art emotionaler Belohungspunkte basiert. Immer, wenn ein Beitrag auf Resonanz stößt, gehen minimale Beträge auf das Konto des Anbieters. Denkbar wäre vielleicht so etwas wie eine generelle Flatrate pro Person, die sich automatisch über das Verhalten im Netz auf die besuchten Inhalte verteilt.
Das würde auch die Qualität sichern – nur das Beste würde angeklickt und bezahlt.
Kruse: Na ja, nicht unbedingt das Beste, aber definitionsgemäß das Resonanzfähigste, das was die Leute dazu verlockt hat, Aufmerksamkeit zu schenken. Von mir aus können das auch Trivialitäten sein.
Würden Sie in ein solches Modell jährlich 1000 Euro einzahlen?
Kruse: Ich würde mit meinem Beitrag auch noch deutlich höher gehen. Noch nie in meinem Leben habe ich im Verhältnis zum Aufwand so viel für so wenig bekommen wie im Internet. Das Web ist ein Kulturraum, dessen Wert man kaum überschätzen kann. Ich denke es käme einer harten Bestrafung gleich, wenn man vom Zugang abgeschnitten wird. Lassen Sie uns gemeinsam alles dafür tun, dass das Internet ohne jede Einschränkung ein selbstverständliches Allgemeingut für alle Menschen wird und bleibt. Das Internet ist noch jung und für viele positive Überraschungen gut.
Doris Raßhofer ist stellvertretende Chefredakteurin des Monatsmagazins “Bestseller” vom österreichischen Horizont. Eine Kurzversion des Interviews ist bereits im aktuellen Bestseller Austria (PDF) erschienen.
Passend dazu eine kurze Anleitung zum Umgang mit dem Informationsfluss von Martin Weigert bei netzwertig.com.