#Ablenkung

Rettet die Reportage!

von , 27.6.13

Wer wollte das nicht: Hinausgehen, etwas erleben und es dann so in Worte fassen, dass die Leser gebannt sind. Dass sie sich anrühren lassen. Dass sie lachen oder weinen, je nachdem, ob das Thema ein lustiges ist oder ein trauriges. Welcher junge Journalist träumt nicht davon, die ganz große Reportage zu schreiben?

Die Reportage, das sei die „Königsdisziplin“ des Journalismus, heißt es oft – ein blödes Wort. Ist Journalismus denn kein aufklärerisches, zutiefst republikanisches Gewerbe oder sollte es zumindest sein? Feudale Kategorien darf es dann für seine Genres nicht geben.

Könige sollte es im 21. Jahrhundert ohnehin nicht mehr geben, und es gibt auch nur noch wenige davon. Auch der Königsdisziplin geht es angeblich schlecht. Glaubt man ihren Verteidigern, ist die Reportage vom Aussterben bedroht und kann so richtig nur noch in Schutzgebieten überleben: In den Einreichungen für unzählige Preise und auch in einer vor zwei Jahren in der Schweiz gegründeten edlen Zeitschrift in Leinen; sie trägt den so einfachen wie programmatischen Titel „Reportagen“.

Ein schönes Heft, ganz ohne Zweifel. Man liest es gerne, aber man muss es nicht lesen. Man muss nicht wissen, warum sich ein etwas dicklicher Schweizer die Pfunde im Hallenbad herunterstrampelte, um dann über den Ärmelkanal schwimmen zu wollen und nach wenigen Kilometern zu scheitern. Genauso wenig muss man zwingend dabei sein, wenn ein Reporter in China drei Taxifahrerinnen sucht, die er vor ein paar Jahren einmal kennengelernt hat. Es gibt Wichtigeres zu berichten aus China.

Und aus Aleppo würde man gerne Reflektierteres lesen als den Erlebnisbericht eines Fotografen, der selbst zugibt, nichts von Syrien zu wissen und auch nicht schreiben zu können; der nach einer Woche Vorbereitung einfach hingefahren ist, weil er auch einmal Krieg erleben wollte. Das sind keine bösartig aus vielen Texten herausgesuchten Beispiele, das ist die Hälfte des Hefts vom vergangenen März. Wo bleibt da die Relevanz? Solche Themen sind nicht eben republikanisch im Sinne der res publica. Aber die Form der Texte ist so schön.

3.000 Abonnenten hat das Blatt nach den vom Verlag veröffentlichten Mediadaten. Das ist nicht viel. Aber für einen Überraschungsband mit Erzählungen wiederum nicht schlecht. Denn das sind die dort versammelten Reportagen im Grunde: Literarische Erzählungen mit dem besonderen Kick, dass sie wahr sind, dass sie sich so oder ähnlich zugetragen haben. Und sie sind ein Hinweis darauf, dass so mancher Journalist vielleicht doch lieber Romancier wäre. Es gibt ja Erfolgsstories von Reportern, die es später zum Literaturnobelpreis gebracht haben: Ernest Hemingway, Gabriel García Márquez.

Unter Journalisten, die von der ganz großen Reportage träumen, ist der „Reportagen“-Gründer und -Chefredaktor Daniel Puntas Bernet hoch angesehen. Im vergangenen Jahr durfte er das Heft beim Workshop des deutschen „Reporterforums“ in Hamburg präsentieren. Bei diesem Treffen sind sie einmal im Jahr versammelt, die Großreporter von „Spiegel“ und „Stern“ und „Geo“ und diejenigen, die es gerne wären. Sie hegen und pflegen ihr Genre, und liest man die Protokolle des letzten Treffens, so ist das gar nicht leicht. Denn der Leser läuft davon – auch vor der Reportage.

„Man muss sich den Leser von heute vorstellen wie einen jungen Hund“, erzählte Cordt Schnibben vom „Spiegel“ den Teilnehmern. Und weiter, zitiert nach dem im Internet veröffentlichten zusammenfassenden Protokoll der Veranstaltung: „Wie einen jungen Hund, der nicht still sitzen kann, der spielen will, der ins Netz will, zu Facebook, zu Twitter, der unsere alten Printjournalisten-Tricks längst kennt, mit denen wir ihn einfangen wollen …“ Aha!

Scrollt man auf der Seite ein bisschen weiter nach unten, trifft man auf den Vortrag von Schnibbens „Spiegel“-Kollegen Ullrich Fichtner. Und der beginnt nach diesem Protokoll so: „Wir müssen uns die Leser heute vorstellen wie einen wohlhabenden, gesetzten Menschen, der an seinem Geburtstag immer hört: Was soll ich dir schenken? Du hast doch schon alles. Mit anderen Worten: Die Leser wissen schon das meiste …“

Schnibben und Fichtner sind ganz ohne Zweifel gute Schreiber. Aber für wen schreiben sie nun? Für junge verspielte Hunde oder für wohlhabende, gesetzte Menschen? Das Erstaunliche: es ist letztlich egal. Denn beide kommen zum selben Schluss. Fichtners gesetzte Menschen „haben – quasi im Vorbeisurfen – schon so viele News, so viel Alltagswissen aufgesammelt, dass wir Journalisten uns ernsthaft fragen müssen, wie wir sie da noch überraschen können“. Und Schnibbens junger Hund ist einer, „der die Behäbigkeit, mit der einst ein Egon Erwin Kisch erzählte, nicht erträgt, der überrascht werden will“.

Da haben wir es: Der Leser von heute will überrascht werden. So neu ist das gar nicht. Schon Henri Nannen selig wollte den Lesern mit dem „Stern“ jede Woche eine neue „Wundertüte“ präsentieren, und er war damit sehr erfolgreich. Damals, als noch in Blei gesetzt wurde und es kein Internet gab. Aber wie überrascht man die Leser von heute, die entweder alles schon zu wissen glauben oder lieber bei Twitter und Facebook schnüffeln? Schnibben weiß es: „Journalisten brauchen darum heute ein verschärftes Verständnis von Dramaturgie, und einer der zentralen Begriffe des neuen Erzählens lautet: Regelverletzung. Das Gegenteil von dem zu machen, was an der Journalistenschule gelehrt wird.“

Es ist schon richtig: In Lehrbüchern über die Reportage steht so mancher Humbug. So wird einem, zum Beispiel, fast durchweg das historische Präsens empfohlen. Das sei lebhafter, näher beim Leser. Mit dem Präsens fühle er sich gerade so, als sei er dabei; in Echtzeit gewissermaßen. Als ob der Leser nicht wüsste, dass der Reporter in der Vergangenheit draußen im Feld war, dass er sich danach an einen Computer gesetzt und geschrieben hat, dass dieser Text gedruckt wurde und versandt und dass er ihn frühestens einen Tag später in den Händen hält. Die großen Reporter der Vergangenheit haben das respektiert. Kisch, Hemingway, Kapuscinski schrieben ihre Reportagen fast durchweg in der Vergangenheitsform. Heute ist hechelndes Präsens die Norm.

Aber Schnibben meint ja gerade, die Leser von heute, diese jungen Hunde, würden einen Erzählstil, wie Kisch ihn pflegte, nicht mehr ertragen. Er fordert stattdessen „dramaturgische Intelligenz“, eine Inszenierung der Wirklichkeit also, möglichst steil natürlich, mit richtigen Regelverletzungen. Auf dass man dem Leser ein überraschtes „huch!“ entlocke. Nicht mit den Inhalten, sondern mit der Art der Inszenierung.

Ist das noch Journalismus? Oder eher gedrucktes Skandaltheater?

Die Reportage wurde einmal erfunden, um Menschen von Welten zu erzählen, die sie nicht kannten. Henry Morton Stanley etwa berichtete im 19. Jahrhundert den Engländern vom ihnen damals noch weitgehend unbekannten Afrika. Da hatten sie etwas zu staunen. Heute glauben wir, alles zu kennen, alles – „quasi im Vorbeisurfen“ – schon einmal gesehen zu haben. Dabei gaukelt man uns nur etwas vor. Politiker und andere Mächtige haben ihre Spindoktoren und PR-Agenturen, die eine Welt in ihrem Sinn vor uns ausbreiten (und Nachrichten fallen oft genug darauf herein). Sie inszenieren die Wirklichkeit. Sollen wir das in der Reportage – mit „dramaturgischer Intelligenz“ – nun auch tun? Um zusammen mit all diesen Gauklern in der Glaubwürdigkeitskrise zu versinken?

Sollten wir nicht. Wir sollten einfach nur genauer hinsehen. Jede Politik hat konkrete Auswirkungen im konkreten Leben konkreter Menschen. Zu denen müssen wir gehen. Wir müssen sie begleiten, ihnen zuhören, lesen, abgleichen, Zusammenhänge erkennen und verstehen. Und das müssen wir dann erzählen. So, wie wir es verstanden haben. Ganz einfach. Dann wird eine gute Reportage daraus. Eine, die mehr ist als beeindruckender Schein.

Kisch hat das so gesagt: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.“ Das galt schon vor über einem halben Jahrhundert, und das gilt noch viel mehr heute, da Spindoktoren und PR-Agenturen unser Weltbild basteln. Sie verkaufen nur schöne Rezepte auf Hochglanzpapier. Wir sollten den Lesern vom Pudding geben, der beim Kochen tatsächlich herauskommt. Sie werden staunen.
 
Toni Keppeler schreibt auf latinomedia. Dieser Beitrag ist in kunst & kultur 3/2013 erschienen.

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