von Matthias Schwenk, 12.5.09
Auf den ersten Blick ist das ein sehr elegantes Produkt: Auf der Basis von Adobe Air bildet der jetzt von der New York Times vorgestellte “Times Reader 2.0” eine eigenständige Anwendung, die ohne Browser auskommt. Nie zuvor konnte man schöner digital Zeitung lesen.
Allerdings kostet diese Zeitung Geld. Den erforderlichen Reader kann sich jeder noch (hier) kostenlos herunterladen, der Zugang zu den Artikeln erfordert aber ein Abonnement. 14,95 $ pro Monat sind veranschlagt, was deutlich unter den Preisen der Printausgabe liegt. Dafür bekommt man die vollständige Zeitung, die zudem (vergleichbar einer Pdf-Datei) komplett täglich heruntergeladen wird, sodass man sie auch offline lesen kann. Dazu werden jeweils die Ausgaben der letzten 7 Tage vorgehalten, so dass man nichts verpasst, wenn man mal einen oder mehrere Tage nicht zum Lesen kommt.
Diese Form der Zeitung ist das optimale Produkt für Menschen, die auf eine Druckausgabe verzichten wollen (oder müssen, weil es diese vielleicht nicht mehr gibt), dafür aber ein digitales Produkt möchten, das dem gedruckten Vorbild so nahe wie möglich kommt. Der Times Reaeder 2.0 kann ohne Zweifel jenes Gefühl vermitteln, dass man hier nicht auf einer beliebigen Website unterwegs ist, sondern seine Lieblingszeitung liest, Leitmedium und Ankerpunkt der persönlichen Informationsinteressen.
Damit könnte der New York Times ein großer Wurf gelungen sein, der hilft, die digitale Kluft zu überwinden und Menschen an das Internet heranzuführen, die bisher eher Vorbehalte gegenüber neuen Medien hatten. Das werden in erster Linie Leser im mittleren und höheren Alter sein.
Bei den Digital Natives bzw. Digital Immigrants dagegen stösst das Produkt eher auf Unverständnis und Ablehnung. Menschen, die mit Begeisterung im Web surfen, Blogs lesen, auf Social Networks Kontakte pflegen und vielleicht auch noch twittern, haben nichts übrig für so einen goldenen Käfig.
Das zeigt schon der erste Kommentar zur Besprechung auf CrunchGear, der die sehr naheliegende Frage stellt, warum man denn die Zeitung nicht einfach im Browser liest. Nicht nur, dass sie dort kostenlos gelesen werden kann, ihre Artikel können auch verlinkt und im Wege des Social Bookmarking gespeichert werden. Darüber hinaus erlaubt das weborientierte Layout eine Kommentarfunktion (auch wenn sie von der New York Times längst nicht überall eingesetzt wird).
Das Problem liegt also darin, dass mit dem Times Reader 2.0 der Versuch unternommen wird, eine vordigitale Informationskultur mitsamt ihrem Geschäftsmodell ins Internet zu übertragen, während man dort an anderer Stelle sich Schritt für Schritt schon dem neuen Modell hingibt, in dem Offenheit und das Prinzip des Sharings zu den Wesenselementen gehören. Beide Modelle sind für sich genommen legitim und gut. Ob sie aber auch für eine Marke wie die New York Times nach dem Prinzip des “sowohl als auch” funktionieren können, darf hinterfragt werden.
Die größte Unbekannte in dieser Gleichung freilich sind die Kunden für den neuen Reader: Werden sie seinem Modell auf lange Sicht treu bleiben, oder werden sich im Lauf der Zeit bei ihnen Lerneffekte einstellen, mittels derer sie sich vom eher klassisch passiven Medienkonsumenten zu aktiv partizipierenden Netzwerkern entwickeln?
Klar ist jedenfalls, dass die New York Times rasch ein besseres Geschäftsmodell benötigt, denn ihre finanzielle Situation ist nicht einfach. Der Times Reader 2.0 könnte dafür eine sehr gute Übergangslösung sein, sofern er den nötigen Zuspruch findet. Denn selbst wenn seine Kunden Lerneffekte erzielen und von ihm wieder abkommen, könnte er dem Verlag doch helfen, Zeit zu gewinnen. Und das wäre schon viel, im größten medialen Umbruch seit der Erfindung des Buchdrucks.