von Hubertus Gersdorf, 16.6.10
„Die Blockade missliebiger Inhalte durch einen Netzbetreiber ist unzulässig und durch das Grundgesetz nicht gedeckt.“
Ein Kabelnetzbetreiber erschwert oder blockiert den Zugang zu einem Forum, in dem sich seine Kunden und weitere Nutzer kritisch zum Service des Unternehmens äußern. Ein Mobilfunknetzbetreiber sperrt bzw. verbietet im Wege Allgemeiner Geschäftsbedingungen die Nutzung eines VoIP-Dienstes, weil sein Telefongeschäft kannibalisiert wird. Für den Abruf von YouTube oder die Benutzung eines P2P-Dienstes bittet ein Netzbetreiber seine Kunden gesondert zur Kasse, weil das Datenvolumen so hoch ist und große Teile der Bandbreite verschlingt. Ein anderer Netzbetreiber sperrt den Zugang zu YouTube, weil sich YouTube weigert, den vom Netzbetreiber verlangten Preis für den Transport im Netz zu entrichten. Auf das Angebot eines konkurrierenden Videoangebots kann ein Nutzer nicht zugreifen, weil der Netzbetreiber einen eigenen Videodienst betreibt und diesen vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen sucht.
Diese Fälle stammen nicht aus dem Reich realitätsferner Fantasie. Einige bilden traurige Wirklichkeit ab, andere entsprechen einem durchaus realistischen Szenario. Alle diese Beispiele illustrieren die Aktualität, die Brisanz und die Vielgestaltigkeit der Diskussion um die Netzneutralität. Im Kern geht es hierbei um die Frage, ob ein Netzbetreiber verpflichtet ist, im Internet sämtliche Daten gleichberechtigt und unverändert zu übertragen. Oder ist er berechtigt, bestimmte Inhalte, Inhaltsdienste oder Telekommunikationsdienste zu blockieren, einen unterschiedliches Quality of Service für einzelne Dienstgruppen vorzusehen, etwa bestimmte Echtzeitdienste (IPTV, VOD, Gaming etc.) zu priorisieren, oder bei der Entgeltgestaltung auf der Endnutzer- bzw. Dienstanbieterseite zu differenzieren?
Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft hat sich dieses Fundamental-Problems des Internet angenommen. Sie wird die zentrale Aufgabe angehen, das schwierige Spannungs-Verhältnis zwischen der Rezipienten- und Meinungsfreiheit der Nutzer sowie den legitimen ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der Telekommunikations- und Inhalte-Dienstanbieter einerseits und den berechtigten kommerziellen Interessen der Netzbetreiber andererseits sorgfältig zu analysieren und ggf. Regulierungsvorschläge zu unterbreiten, die den unterschiedlichen Interessen angemessen Rechnung tragen.
In ihrer öffentlichen Sitzung am 14. Juni 2010 hat die Enquete-Kommission über das Thema der Netzneutralität das erste Mal beraten. Einig war man sich darin, dass zunächst der schillernde und facettenreiche Begriff der Netzneutralität näher konturiert werden müsse, weil sich erst auf der Grundlage einer klaren Begriffsbestimmung die relevanten Probleme ableiten lassen und diese sachgerecht gelöst werden können. Als sinnvoll wurde es weiter erachtet, die einzelnen Erscheinungsformen einer möglichen Ungleichbehandlung von Dienstanbietern aufzuzeigen, weil die verschiedenen Diskriminierungs-Tatbestände durch spezifische Eigenarten und Besonderheiten kennzeichnet sind, die eine differenzierende Betrachtung unter Verzicht auf nivellierende Einheitslösungen notwendig erscheinen lassen. Als unverzichtbar wurde es schließlich angesehen, zunächst das geltende Recht daraufhin zu konsultieren, ob es hinreichenden Schutz gegen mögliche Diskriminierungen bietet. Erst wenn im geltenden Recht Schutzlücken bestehen, stellt sich die Frage nach neuen Regulierungstatbeständen und ‑instrumenten.
Schutz vor Blockade missliebiger Inhalte durch den Netzbetreiber
Halbwegs Entwarnung kann gegeben werden, soweit es um die Frage geht, ob ein Netzbetreiber den Zugang zu politisch missliebigen Inhalten blockieren darf. Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Die Meinungs- und Informationsfreiheit sind elementare Grundrechte, die nicht zur Disposition der Netzbetreiber stehen. Bereits im Jahr 1969 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass ein Unternehmen unter Ausnutzung seiner wirtschaftlichen Machtstellung die Meinungsfreiheit Dritter nicht beeinträchtigen darf.
In dem bekannten Blinkfüer-Fall, ging es darum, ob der Axel Springer-Verlag Zeitungs- und Zeitschriftenhändlern mit dem Boykott seiner Presseerzeugnisse für den Fall drohen durfte, dass die Händler weiterhin die Wochenzeitung „Blinkfüer“ vertreiben, in der die „ostzonalen Rundfunk- und Fernsehprogramme“ abgedruckt waren. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich klargestellt, dass ein vornehmlich mit wirtschaftlichen Machtmitteln durchgesetzter Boykott missliebiger Zeitungsverlage unzulässig, ja nicht einmal grundrechtlich geschützt ist.
Nicht anders zu bewerten ist die Zugangsblockade zu missliebigen Inhalten durch einen Netzbetreiber: Er katapultierte sich ins grundrechtliche Abseits, er stellte sich außerhalb der Rechtsordnung. Betroffene Nutzer können hiergegen mit den Mitteln des Zivilrechts vorgehen. Von Ausgeliefertsein und Schutzlosigkeit kann nicht die Rede sein. Gleichwohl erscheint es durchaus diskutabel, ob in diesem Fall schwerwiegender Verletzung der Netzneutralität neben den zivilrechtlichen Schutz noch ein aufsichtsrechtliches Schutzinstrumentarium (BNetzA o.ä.) treten sollte. Hierzu müssten freilich die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden.
Schutz durch Plattformregulierung der Länder
Auch Inhalteanbieter (Rundfunkveranstalter und vergleichbare Telemedien) sind nach geltendem Recht keinesfalls schutzlos gestellt. Ihnen kommt der Schutz der landesrechtlichen Plattformregulierung (§§ 52 ff. RStV; Zugangssatzung der Landesmedienanstalten) zugute. Es gilt sorgsam zu analysieren, wie weit dieser Schutz im Einzelnen reicht und ob ggf. nicht hinnehmbare Schutzlücken bestehen. Es ist wichtig herauszustellen, dass die Plattformregulierung keinen umfassenden Schutz bietet.
Schutzlücken bestehen, weil der Schutz von Telekommunikationsdienstanbietern und Telemedien, die in ihrer Wirkung Rundfunkprogrammen nicht „vergleichbar“ sind, (aus Kompetenzgründen) von der Plattformregulierung der Länder nicht erfasst sind. Gleichwohl lohnt sich eine sorgfältige Analyse, ob nicht die Plattformregulierung als Referenzgebiet für die um die Netzneutralität rankenden Probleme dienen könnte.
Lassen sich die Ordnungsprinzipien der Plattformregulierung, wie beispielsweise Must-Carry-Modell, Verbot der eigenmächtigen Veränderung von Inhalten und der eigenmächtigen Vermarktung von Inhalten durch den Netzbetreiber, Diskriminierungsverbote, auf die Problemfelder der Netzneutralität übertragen?
Schutz durch Telekommunikationsrecht
Und keinesfalls darf man den Schutz durch das Telekommunikationsrecht übersehen. Der EU-Rechtsrahmen im Bereich des Telekommunikationsrechts, der bis Mitte nächsten Jahres umzusetzen ist, geht die Problematik der Netzneutralität (behutsam) an.
Dort heißt es, dass es Endnutzern möglich ist, „Informationen abzurufen oder zu verbreiten oder beliebige Anwendungen und Dienste zu benutzen“ (Art. 8 Absatz 4 Buchstabe g Rahmenrichtlinie 2009). Weiter wird den nationalen Regulierungsbehörden die Aufgabe der Qualitätssicherung zugewiesen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nationalen Regulierungsbehörden in der Lage sind, Mindestanforderungen an die Dienstqualität der Netzbetreiber festzulegen, um „eine Verschlechterung der Dienste und eine Behinderung oder Verlangsamung des Datenverkehrs in den Netzen zu verhindern“ (Art. 22 Absatz 3 Universaldienstrichtlinie 2009).
In erster Linie setzt der EU-Rechtsrahmen jedoch auf Transparenz, soweit Netzbetreiber bestimmte Dienste priorisieren oder in sonstiger Weise von der Netzneutralität abweichen. Netzbetreiber unterliegen in diesem Fall erhöhten Transparenzanforderungen (Art. 20 Absatz 1 Buchstabe b und Art. 21 Absatz 3 Buchstabe c und d Universaldienstrichtlinie 2009). Schließlich ist vorgesehen, dass die Kommission bis Ende 2010 einen Bericht über den Zustand der Netzneutralität vorlegt und ggf. weitere Leitlinien vorschlägt.
Eine weitere Kernfrage wird sein, welche Netzunternehmen zur Netzneutralität verpflichtet werden sollen: Alle Unternehmen oder nur Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht? Hierbei sollte man den Blick auf § 40 TKG richten, der zeigt, dass Netzneutralität keinesfalls ein durchgängiges und absolut geltendes Prinzip ist. Nach dieser Bestimmung können zur freien Betreiberauswahl (Call by Call und Preselection) nur Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht (Deutsche Telekom AG) und nicht alle Netzbetreiber verpflichtet werden. Netzbetreiber ohne Marktmacht müssen also – in Abweichung von der Netzneutralität – eine freie Betreiberauswahl nicht ermöglichen.
Es gibt gute Gründe, diesen asymmetrischen, nur Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht erfassenden Regulierungsansatz zum Leitprinzip einer möglichen Netzneutralitätsregulierung zu machen. Aber um nicht falsch verstanden zu werden: Das gilt nicht für die Blockade missliebiger Inhalte durch einen Netzbetreiber. Dieses Verbot gilt absolut und für jeden Netzbetreiber. Der Schutz der Meinungs- und Informationsfreiheit genießt nach unserer Verfassung einen herausragenden Stellenwert.
Fazit und Ausblick
Man sieht: Auf die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft kommt viel Arbeit zu. Doch auch hier gilt, dass man das Rad nicht neu erfinden muss. Erfahrungen mit und Erkenntnisse aus der Regulierung des Rundfunks- und Telekommunikationsbereichs sollten genutzt werden, um die notwendige Balance zwischen den legitimen Interessen der Netzbetreiber einerseits und den berechtigten Belangen der Nutzer sowie Dienstanbieter andererseits herzustellen.
Prof. Dr. Hubertus Gersdorf ist Inhaber der Gerd Bucerius-Stiftungsprofessur für Kommunikationsrecht an der Universität Rostock und sachverständiges Mitglied der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft.
Ein Video des öffentlichen Teils der Sitzung der Enquete-Kommission kann man auf bundestag.de anschauen.