von Sergius Seebohm, 2.11.14
Sie haben „sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt“, titelte das Neue Deutschland vor fast genau 25 Jahren, am 2. Oktober 1989. Gemeint waren die Menschen, die massenweise die DDR gen Westen verließen. Während der Massenexodus unter den Ostdeutschen zunächst nicht unumstritten war, provozierte die DDR-Führung mit dem herablassenden Kommentar im SED-Parteiorgan neuerliche Fassungslosigkeit: Auf Betreiben Erich Honeckers war dem Text sogar noch extra hinzugefügt worden, man solle den Ausreisewilligen „keine Träne nachweinen“.
Ich vergleiche die Bundesrepublik nicht mit der DDR. Was man aus dem Beispiel trotzdem lernen kann ist, wie viel eine Führung verspielen kann, wenn sie Stimmungen verkennt und Antworten auf drängende Fragen schuldig bleibt.
Und es gibt Fragen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung vertraut dem politischen Personal nicht mehr. Das ist nichts Neues. Hinzu kommt aber ein ebenfalls wachsender Teil der Bevölkerung, der etablierten Medien nicht mehr traut. Egal ob öffentlich-rechtlich oder privat: den „Mainstream“-Medien wird vorgehalten sie machten gemeinsame Sache mit den Macht- und Geldinteressen der „wirklich“ Einflussreichen, seien parteilich, gekauft oder sogar orchestriert von Geheimdiensten und Oligarchen des Westens. Stattdessen vertrauen sie neuen, vermeintlich „unabhängigen“ Publizisten. Die verfolgen ihrerseits ganz eigene Interessen, leben aber seit Jahren vom Habitus der „Aufdecker“ und „Verkünder der Wahrheit“. Ihre Themen schillern von Nato-Kritik und pseudo-volkswirtschaftlich begründeter Ablehnung von Zentralbanken über Impfskepsis und Esoterik bis hin zur Leugnung des Existenzrechts der Bundesrepublik („Reichsbürger“), subtilem Antisemitismus und der Warnung vor „Chemtrails“.
Die Kernbotschaft ist überall dieselbe: „Glaub dem Staat und den etablierten Medien nicht. Die manipulieren Dich im Dienste finsterer Mächte und deren Gier nach Geld und Macht.“
Das „Filter Bubble“-Phänomen als sich selbst verstärkende Echokammer
Viele sagen jetzt, nicht ohne Hochmut: „Das ist doch alles Unsinn. Also können wir das abhaken.“ Ich sage: „Stimmt. Das ist Unsinn. Aber wir können das nicht abhaken.“ Wer das Märchen verbreitet, Politik und Medien in Deutschland seien gesteuert und manipuliert, zerstört die Grundlage auf der wir Diskussionen um unsere Zukunft führen können. Wer so das Vertrauen in unser Zusammenleben erschüttert, vergiftet das Klima, das wir brauchen, um offen, fair und ergebnisorientiert Lösungen zu finden.
Und das erledigt sich nicht von selbst. Die Gruppe derer, die dem etablierten System nicht trauen, wird größer werden. Denn erstens erzeugen die Mechaniken des digitalen Medienkonsums aufgrund des „Filter Bubble“-Phänomens sich selbst verstärkende Echokammern für einmal verfolgte Ansichten. Die Zweifler sind also mit der herkömmlichen Verbreitung von Argumenten kaum erreichbar. Zweitens bringen schlecht moderierte Diskussionen in trollverseuchten Internetforen nichts. Drittens befindet sich die Politik in einer Situation, die der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig als „Transparenzfalle“ bezeichnet hat: Auf Politikverdrossenheit habe der Staat mit umfassender Transparenz und Kommunikation geantwortet. Mit dem Ergebnis, dass die neu verfügbaren Informationen erst recht dazu führen, dass Bürger sich hinter die Fichte geführt fühlen. Auch weil die neue, digitale Medienlandschaft dazu neigt, schneller zu drehen, weniger zu erklären und mehr zu skandalisieren.
Diese verfahrene Kommunikationslage ist bereits dabei, die Tektonik unserer Parteienlandschaft zu verschieben. Die Gefolgschaft der AfD besteht zu erheblichen Teilen aus Menschen, die sich erhoffen, „der Wahrheit“ zum Durchbruch zu verhelfen. Die bisherige Reaktion des etablierten Politikbetriebs hätte nicht kontraproduktiver seien können. Indem Parteistrategen versucht haben, die AfD in die rechte Ecke zu stellen und damit gesellschaftlich zu erledigen, haben sie zehntausende ganz normaler Bürger empört. Denn es gibt etliche Menschen, die angesichts von Euro-Rettung und zahlloser Krisen, von Ukraine bis IS, ein mulmiges Gefühl bekommen – aber wenig Lust haben, deswegen als Nazi hingestellt zu werden. Leichter kann man es der bunten Mischung aus Gutgläubigen, Rattenfängern, Geschäftemachern und Montagsdemonstranten nicht machen. Sie brauchen nur noch melodramatisch zu raunen: „Seht her! Wer Fragen stellt, wird mundtot gemacht.“
Keine Beschwichtigung aus Sorge vor Gegenwind
Deswegen ist bei Politik und Medien ein echtes Umsteuern nötig. Man muss sich erstens schon die Mühe machen, all die absurden Behauptungen und Verdrehungen der Verunsicherungsprofiteure in der Sache zu widerlegen – so wie es Stefan Niggemeier mit dem neuesten Buch von Udo Ulfkotte vorgemacht hat. Man kann zweitens aber auch mutiger Themen setzen, offen dazu stehen, dass unser Staat Interessen hat und für unbequeme Zukunftsentscheidungen werben, statt aus Sorge vor Gegenwind zu beschwichtigen. Fast alle Menschen in Deutschland wissen aus ihrem Berufsalltag, dass immer wieder harte Entscheidungen nötig sind, um zukunftsfähig zu bleiben. Sie werden misstrauisch, wenn man ihnen über ihr Land zu oft sagt: „Das wird schon“.
Wir leben im besten Staat, der je auf deutschem Boden existierte. Natürlich ist auch diese Ordnung nicht fehlerfrei. Aber so ist die Welt. Wir müssen in einer pluralen Gesellschaft dauernd miteinander analysieren, streiten und Entscheidungen fällen, die dann nicht immer allen gefallen. Das mag anstrengend sein, lässt sich aber durch kein – wie auch immer gestricktes – Regime der Welt ersetzen. Es lohnt sich, diese Ordnung zu verteidigen. Die Verteidigung beginnt mit dem Eingeständnis, dass Zweifel an dieser Ordnung wachsen. Wir sollten nicht den Fehler machen, die Zweifler auszugrenzen.