#Antisemitismus

Muss das sein?

Plötzlich ist Israel Teil des alten Kolonialismus, die antisemitische Bildsprache damit relativiert, anders gesehen und irgendwie verständlich. Am Ende landet der Staat Israel quasi automatisch auf der Anklagebank.

von , 28.6.22

Antisemitismus und Holocaust werden fortwährend in kulturelle und historische Kontexte gestellt. Warnung vor einem Irrweg.

Was wird dem »Desaster« genannten Auftakt der Kasseler Documenta folgen? Das Wort Desaster  hat seinen Ursprung im altgriechischen: ἄστρον – der Stern. Damit etwas ein Desaster wird, muss ihm der Fama nach das Schicksal einen ungünstigen Stern beifügen, es  beziehungsweise unter einen schlimmen Stern stellen. So erklärt man vom Wortstamm her das Desaster. Der deutsche Stern, also der, der donnerstags über Hamburg aufgeht, dessen Auflage aber in der Vergangenheit rasant nieder ging, guckt wegen des Documenta- Desasters in die Zukunft: »Wahrscheinlich müssen im 21. Jahrhundert solche wiederkehrenden Beleidigungen und Provokationen ertragen und kulturhistorisch eingeordnet werden«, hieß in dem Blatt.

Muss das sein? Müssen wir?

Beleidigungen und Provokationen antisemitischer Art haben Ursprünge: In unseren Breiten vor allem den Holocaust, die systematische Vernichtung der Juden Europas. Jetzt ist oft zu hören und zu lesen, man müsse den Kontext beachten. Kontext  ist zum Schlüsselwort der Antisemitismus – Kommunikation geworden.

Verteidiger der Documenta aus den Gruppen der Künstler und Künstlerinnen sagen: Es sei wahr, dass man bildhaft Wiedergegebenes als antisemitisch deuten kann. Wenn das so geschehe, dann bestehe Antisemitismus lediglich im »Kontext« der jüngeren deutschen Geschichte. Betrachte man aber Deutschland und Europa von außen und aus der Sicht früherer Kolonien, dann sei dieser Kontext nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres gegeben. Eine ähnliche Sicht bot die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (B90/Grüne). Sie antwortete auf Kritik des Zentralrats der Juden an antisemitischen Darstellungen auf der Documenta: »Ich habe den Eindruck, dass auf den Panels eine reichhaltige Expertise zum Umgang mit Antisemitismus im kulturellen Kontext vertreten ist…«.

Ob sich unter der Fülle der Erzeugnisse der bis in den September laufenden Documenta statt ein oder zwei oder mehr antisemitische Werke befinden, ist nicht ausgeschlossen. Auf der offiziellen Ebene der Auseinandersetzung scheint man sich jedenfalls auf den »Kontext« geeinigt zu haben. Soll heißen: Antisemitisches müsse im Zusammenhang mit anderem gesehen, verstanden, begriffen – und womöglich akzeptiert werden.

Es ist in etwa so wie beim Hütchen Spiel: Zack-Zack-Zack, Zack! Nach blitzschnellem Hin und Her und täuschenden Bewegungen  fragt man sich zweifelnd: Ja, haben die tatsächlich Antisemtisches im Sinn gehabt? Oder haben die Künstler und Künstlerinnen sich lediglich vergaloppiert? Und dann ist  ja da noch der Kolonialismus! Zack, Zack, Zack  – und Israel  ist plötzlich Teil des alten Kolonialismus, die antisemitische Bildsprache damit relativiert, anders gesehen und irgendwie verständlich. Einfach gesagt: Am Ende landet der Staat Israel quasi automatisch auf der Anklagebank.

Die Situation in der sich all das abspielt, stattfindet, ist diffus, also kaum geordnet und zudem widersprüchlich. In die Auseinandersetzung über  Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen von Kolonialismus werden individuelle machtpolitische wie kollektive machtpolitische Einflüsse, geopolitische und ethnopolitische Aspekte, Genderfragen, Geschlechter-Diskussion, die Rolle der Sprache als Herrschaftsinstrument oder als Emanzipations-Treiberin, die Möglichkeiten von Forschung und Wissenschaft, Entschädigungsforderungen und museale Ansprüche einbezogen. Widersprüchlich ist die Situation beispielsweise, weil in einigen Ländern Afrikas Teile der Führungseliten teilstaatliche russische Söldnerkontingente anfordern, während andere Teile  aus solchen Kontingenten im Osten Europas einen regelrechten Kolonialkrieg gegen das ukrainische Volk führen.

Schiebt man all das beiseite, bleibt:

– Israel ist der Staat, der Juden in aller Welt Sicherheit bietet.

– Werden jüdische Kinder, Frauen und Männern bedroht, sei es in Algerien, Frankreich oder in der russischen Föderation, erdrückt sie Angst, weil mal wieder jemandem die Kippa vom Kopf geschlagen wurde, sei es in Neukölln oder im alten Köln, dann können diese Menschen nach Israel.

– Was Juden zu tragen haben, das ist in den Worten des 2015 verstorbenen jüdischen Historikers Robert Solomon Wistrich »the longest Hatred«, den es in der Geschichte der Menschheit gibt.

Und aus diesem und anderen Gründen darf es in Deutschland kein Herumspielen mit irgendwelchen »Kontexten« geben, die am Ende nur beschönigen sollen, was eigentlich alle Welt wissen kann. Ich erinnere deswegen an Jean Amerys Essay der ehrbare Antisemitismus aus dem Juli 1969 (Die Zeit):

»Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen. Und hiermit gelangen wir an den Punkt, wo es ein Ende hat mit jeder berichtenden oder analysierenden Objektivität und wo das Engagement keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit ist, sondern eine Sache der Existenz, das Wort in mancherlei Bedeutung verstanden.«

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