von Peter Ruhenstroth-Bauer, 26.11.16
„Guten Morgen, auf vielen Titelseiten wird EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der von Brüssel nach Berlin umziehen will, heute wie ein Erlöser gefeiert. Dass viele Medien diesem im Volk weithin unbekannten Mann – der die Zulassung zum Abitur nicht schaffte, wenig später zum Trinker wurde, bevor er als grantelnder Abstinenzler für 22 Jahre im Brüsseler Europaparlament verschwand – plötzlich die Befähigung zur Kanzlerschaft zutrauen, ist nur mit journalistischer Telepathie zu erklären. Einer fühlt, was der andere nicht denkt. Alle beten, was keiner glaubt. Und Schulz, derart berauscht, bereitet sich wahrscheinlich auf die Papstwahl vor. Italienisch spricht er ja schon…“ (Gabor Steingart im Handelsblatt-Newsletter vom 25.11.2016)
Neben seinem Foto wird der Erfolg des Newsletters stolz verkündet: „Jetzt über 500.000 Abonnenten“. Chapeau! Mit seinem „Morning Briefing“ erreicht der Herausgeber des Handelsblattes, Gabor Steingart, eine enorm große Leserschaft. Jeden Morgen pünktlich um sechs wird so auf sogenannte „Premium“-Beiträge der aktuellen Handelsblatt-Ausgabe verwiesen. Der Herausgeber lässt es sich aber natürlich nicht nehmen, daneben auch noch andere politische Ereignisse aufzuspießen und mit ganz eigener Schreibe zu bewerten. Ganz so, wie er es in einem 29-Sekunden-Werbevideo verspricht: „Ich weiß nicht, ob sie das Gefühl kennen? Man schlägt morgens die Augen auf und weiß gar nicht, wo man ist. In welcher Welt bin ich da eigentlich aufgewacht? In einer friedvollen, in einer ökonomisch gesunden Welt? In einer komischen, verrückten und vielleicht auch absurden Welt? Um in Zeiten wie diesen Navigation, Orientierung zu geben, schreibe ich jeden Morgen das Morning Briefing – ich kann die Welt nicht verändern, aber vielleicht kann ich sie erklären…“
Ein großes Versprechen: Navigation, Orientierung und Welterklärung.
Am Freitag, dem 25.November, hat Steingart dann in seiner ihm ganz eigenen Art die Welt „erklärt“. Die Rückkehr des Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz, SPD, auf die nationale politische Bühne war dem Autor gleich die erste Meldung seines Newsletters wert.
Der Erlöser
Damit die Leserschaft auch wirklich wusste, in welcher Welt sie da aufgewacht ist, bewertet Steingart die Berichterstattung der Medien zu Martin Schulz. Sie ist ihm offensichtlich deutlich übertrieben, denn „ auf vielen Titelseiten“, so Steingart, „wird Schulz heute wie einen Erlöser gefeiert.“ Dabei seien die Pressekollegen, so der Handelsblatt-Herausgeber, einem Fehurteil erlegen. Schließlich sei Schulz weiten Teilen der Bevölkerung völlig unbekannt.
Ein Trinker ohne Abitur
Um seine morgendliches Navigationsversprechen einzulösen, liefert er, flott – in Parenthese – ein paar Eigenschaften für den Noch-Parlamentspräsidenten mit, damit das Einordnen leichter fällt: „ der die Zulassung zum Abitur nicht schaffte“ – womit uns klar ist, dass dieser Politiker, zumindest in seinem Bildungsniveau nicht an das des Welterklärers Steingart heranreicht. Aber damit nicht genug, denn, so Steingart weiter, Schulz sei auch noch einer, der „wenig später zum Trinker wurde“. Stimmt. Warum die Alkoholkrankheit, die einen Menschen fast kaputt gemacht hätte und die er vor 36 Jahren erfolgreich bekämpft hat, heute aufs Welterklärertapet muss, bleibt Gabor Steingarts Geheimnis. Schulz selbst spricht offen über seine Sucht, und beschreibt in seiner Biografie, zu Recht mit Stolz, dass er seit dem 26. Juni 1980 keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt habe und sagte dazu in einem Interview mit „Die Bunte“: „Vielleicht kann mein Leben anderen Mut machen, auch ihre Sucht anzugehen“.
Der bewundernswerte Erfolg des Menschen Martin Schulz im Kampf gegen den suchtkranken Martin Schulz lässt Steingart allerdings nicht gelten. Er macht ihn in seinem kleinen morgendlichen Navigationsstück zum „grantelnden Abstinenzler, der für 22 Jahre im Brüsseler Europaparlament verschwand“.
Journalistische Telepathie
Warum ein Schulabbrecher, ehemaliger Trinker und einer, der im EU-Parlament „verschwand“ die Befähigung zur Kanzlerschaft haben soll, ist dem Handelsblatt-Herausgeber ein vollkommenes Rätsel. Er erklärt sich dieses doch so auf der Hand liegende Fehlurteil seiner vielen Pressekollegen mit „journalistischer Telepathie“. „Einer fühlt, was der andere nicht denkt. Alle beten, was keiner glaubt.“ Und beim Stichwort „glauben“ fließt dem Autor zu allem Überfluss auch ein vermeintlich hübsches Bonmot aus der Feder: Schulz bereite sich, von der Presse so gelobt, wohl auf die Papstwahl vor, denn italienisch spreche er ja schon. Richtig, da hat Schulz, der fließend fünf Sprachen spricht, möglicherweise dem Handelsblatt-Herausgeber etwas voraus.
Wie Streichers Geist fröhlich Urständ feiert
Es läuft etwas schief bei uns, wenn der Herausgeber einer weithin nicht unbekannten Wirtschafts- und Finanzzeitung in sechs Sätzen einen Politiker so menschenverachtend beschreibt. Das, was da als journalistisch flotter morgendlicher Anreißer daherkommt, ist in Wahrheit eine ganz bewusste Grenzüberschreitung. Sie muss Empörung und lauten Widerspruch bei all denen hervorrufen, die sich Sorgen um die gesellschaftspolitische Entwicklung und auch die journalistische Berichterstattung in Deutschland machen. Da wird in kurzem Staccato einer niedergemacht. Ein Politiker, also einer, bei dessen Kritik man sich des Beifalls des Publikums schnell sicher sein kann. Hier aber kommt hinzu, dass in Stürmer-Manier alles in ein Konzentrat gegossen wird, dass den Menschen Schulz in sechs Sätzen erledigt. Man kann zu dem Politiker Schulz stehen wie man will. Viele Portraits über Martin Schulz berichten von seinen Schwächen; so seinem Drang, als „Rampensau“ immer nur ganz vorne stehen zu wollen. Man kennt aber auch seine Stärken, die ihm im Europaparlament auch von Parlamentariern anderer Fraktionen zugesprochen werden: einer, der dem Europaparament in schwierigen Zeiten ein Gesicht gegeben hat.
Wenn wir zulassen, dass wieder so über Parlamentarier geschrieben wird, können wir uns schon bald auf die nächsten „Einordnungen“ des Herausgebers freuen. Da steht dann sicher der schwule Staatssekretär, der behinderte Minister oder der Türke im Parlament auf der Tagesordnung.
Steingart weiß, was er schreibt. Vor zehn Tagen, als Frank-Walter Steinmeier offizieller Bundespräsidentenkandidat von drei Parteien wurde, twitterte Steingart: „Präsidentenwahl ohne Wahl. Die Führung in Nordkorea dürfte neidisch auf uns sein.“ Sein Text ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die „das etablierte Establishment und ihre Politiker“ verteufeln.
Manch einer reibt sich verwundert die Augen, wenn er bei den letzten Wahlen und den bald wöchentlichen Meinungsumfragen die Erfolgskurve der AfD sieht. Postfaktisches Zeitalter, rassistischer und sexistischer Wahlkampf à la Trump und jetzt auch noch einen täglichen Welterklärer, der diese Entwicklung mit seinen Zuspitzungen schleichend weiter forciert.
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