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Lieber „Standard“ – willst du leben?

von , 9.6.17

Lieber „Standard“ – wie geht es dir?

Ich schreibe dir, weil ich mir seit geraumer Zeit große Sorgen um dich und deine Zukunft mache.

Ob es dich gibt und damit eine Zeitung mehr oder weniger in diesem kleinen Land, betrifft nicht nur dich selbst, sondern uns als Gesellschaft. Wenn es den „Standard“ nicht mehr gibt, fehlt ein wichtiger Teil unserer Medienlandschaft und damit unserer demokratischen Infrastruktur. Es wird niemand nachkommen, der solch ein Zeitungshaus gründet, wie du es bist.

Es wäre eine gefährliche Lücke.

Unsere Beziehung – leider leidenschaftslos

Ich habe dich schon seit Jahren nicht mehr abonniert. Seit Langem schon greife ich sonntags nicht in der Lasche nach dir. Fast nie lese ich dich im Kaffeehaus. Online schaue ich zwar regelmäßig vorbei. Sicher nicht aus Überzeugung.

Verstehe mich nicht falsch. Wir gehören zusammen. Eigentlich. Urban. Liberal. Weltoffen. Wir hätten genug Gemeinsamkeiten. Aber das einzige, was mir richtig große Freunde an dir macht, ist deine Kinowerbung. Aber es ist halt nur die Werbung, es sind nicht deine Produkte, die mich begeistern. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Ich frage mich oft und seit Langem, warum mir deine Produkte keinen Spaß mehr machen, warum sie nicht einzigartig genug und relevant für mich sind.

Ich frage mich, ob du weißt, was du willst. Ob du immer noch weißt, was relevant ist. Ich bin mir bewusst, dass du sehr viele gute Leute und journalistische Schwergewichte in deinem Team hattest und hast. Weißt du deren Fähigkeiten wirklich zu nutzen? Kommen alle gut zur Geltung?

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

Du weißt viel besser als ich, dass eine Redaktion entscheiden muss, welche Themen und Geschichten wann wie viel Aufmerksamkeit und damit Ressourcen zugeteilt bekommen – und welche nicht. Die Indikatoren dieser Entscheidung sind die wesentliche Grundlage deiner Wirkung, deiner Marke und damit deines Erfolgs. Sie machen dich schlagfertig und einzigartig. Oder eben nicht.

Hinterfragst du diese Indikatoren manchmal? Hinterfragst du dich manchmal? Die Welt verändert sich so schnell, aber du versuchst offenbar, der Alte zu bleiben.

Verstehe mich auch hier nicht falsch. Konsequenz und Beständigkeit sind entscheidende Werte – an der richtigen Stelle.

Deine Website ist schon über zwanzig Jahre alt, deine Zeitung wird nächstes Jahr dreißig. Bei einem Menschen stünden jetzt, auch unabhängig von der Außenwelt, ganz wesentliche persönliche Entwicklungsschritte an.

Die Bäcker sind dir voraus

Wie alle Verlagshäuser hast auch du dir Produktionsstraßen für deinen Journalismus gebaut. Deine Maschine läuft, aber dein Produkt entspricht nicht mehr den Anforderungen der Zeit. Verzeih mir die Parallele, aber in der Bäckerei-Branche haben das einige vor Jahren erkannt. Sie haben sich von den Produktionsmechanismen der industriellen Backindustrie abgewendet. Sie haben sich auf die ursprünglichen Tugenden ihres Handwerks rückbesonnen. Nur so ist es ihnen möglich, wirkliche und vor allem individuelle Qualität zu bieten. Jenseits von Backmischungen.

Dabei stehst du ja noch vor einem viel größeren Wettbewerb als jeder Bäcker in diesem Land. Du konkurrierst mit unendlich vielen Informations- und Unterhaltungsangeboten weltweit.

Du sagst „Nachrichten in Echtzeit“. Echt jetzt? Das ist doch 2017 kein Wert mehr für sich. Das bieten alle. Was macht dich besonders? Lachsfarbenes Papier? Die Stimme deines Vaters? Deine Online-Community? Treibt sie dich vor dir her, oder hast du das Ruder in der Hand? Qualitätsjournalismus? Klingt das nicht per se etwas kindisch? Bist du es, der den journalistischen Standard in diesem Land setzt? Oder musst du es „Qualitätsjournalismus“ nennen, um selbst die Gewissheit zu haben, dass dein Produkt wohl eh noch stimmt?

Dein Geschäft ist die Kreativität. Wo ist sie?

Neue Produkte gibt es bei dir so selten wie Relaunches. Experimente scheint es bei dir nicht zu geben. Doch das darf nicht sein und kann nicht sein. Deine Möglichkeiten und Handlungsoptionen sind so vielfältig und vielversprechend, ja aufregend. Stell dir vor, du wärst tatsächlich so, wie es deine Werbung verspricht!

Warum suchst du dir keine Partner? Warum machst du keine Babys? Da draußen brodelt eine der spannendsten Zeiten. Journalistisch. Gesellschaftlich. Technologisch. Eine Party ohne dich. Du machst still und leise „business as usual“ – und dabei ein Produkt, das täglich an Relevanz verliert. Weil es verwechselbar und entbehrlich ist.

Eine Zeitung stirbt mit einem Winseln

Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Eine Zeitung stirbt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln. Wo stehst du? Weißt du, wie du sein willst – in drei Jahren? Hast du eine journalistische Vision für dich? Sind alle mit an Bord? Oder winselst du schon?

Willst du leben?

Dann lass dich selbst, dein Team, uns Leser und das Land es spüren. Jetzt. Wir haben sonst alle ein Problem. Ein großes. Du bist zu wichtig, als dass wir dich verlieren könnten.

In alter Verbundenheit, stiller Zuneigung und großer Sorge,

dein Milo

 

Der Beitrag ist auch auf der Website von Milo Tesselaar erschienen.


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