von Klaus Vater, 1.12.16
In einem Bücherportal fand ich zufällig folgende Geschichte: „Im Dezember 2013 führte die Welt am Sonntag ein Interview mit dem Ökonomie-Nobelpreisträger Edmund Phelps. Es ging dort um die Rückkehr traditioneller Werte – und um Abenteuerromane. Denn auf die Frage, was man für mehr Wirtschaftswachstum tun könne, antwortete Phelps – als wäre das ganz selbstverständlich – „Die Lehrpläne in Schulen […] ändern. Lest mehr Abenteuerromane!“ Seine Begründung folgte auf den Fuß: „Damit die Schüler wieder mehr Lust auf Entdeckungen bekommen, so wie vor 100 Jahren.“
Eine erstaunliche Aussage. Abenteuerromane? Ich habe mich ein wenig umgeschaut. Um was geht es in solchen Romanen? Es geht um Kampf, um Dreck unter den Schuhen, um Wind in den Haaren, um Durst und Unterliegen, um Niederlagen, um Tragödie, um Liebe und Enttäuschung („Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib Mir meinen Romeo!“), um Hass und Habgier, Schweiß, Tränen, Blut, um Krankheit und Tod und Kampf und Sieg gegen Unrecht, gegen institutionelle Gewalt, also um Gewalt von Herrschenden, um Naturgewalten. Arno Schmidt war sich 1952 nicht zu schade, einen Abenteuerroman von Hammond Innes („Der weiße Süden“) ins Deutsche zu übersetzen. Louis Bromfields „Der große Regen“ schildert beispielsweise ein zermürbendes Warten auf eine Erlösung von der Dürre durch den Monsun. (Der grosse Regen – Unionsverlag Taschenbücher – April 2012). Bromfield lässt einen Staudamm zerbrechen, worauf eine Flutkatastrophe folgt. Auf Chaos und Zerstörung folgt die Pest. Bromfields Figuren reagieren mit Mut oder Versagen, ängstlich oder mit Scham, sie folgen ihrer Pflicht, Hoffnungen, sie bewähren sich, geben auf. Sie erzählen ihre Geschichten, folgen einer biographischen Landkarte, auf der ihr Weg eingezeichnet ist. Der endlose Regen wäscht heraus, was nichts taugt, was Schicksal ist und er legt frei, was tatsächlich in Bromfields Figuren steckt. Soll heißen: Sturzfluten statt „Feuchtgebiete“.
Was also hat einen so gefragten Ratgeber und Gesprächspartner wie Edmund Phelps bewogen, ausgerechnet auf Abenteuerromane zu verweisen? Empfindet er die Weise, in der heute erzählt wird als blutarm, vielleicht etwas schweflig riechend? Schamlos? Überheblich? Würde er sagen: Taugt alles nichts! Was wird denn da erzählt? Könnte es sein, dass diejenigen, die heute Entdeckerlust entfachen und für lebensvolle Berichte wie Urteile sorgen sollten, versagen? Wohin steuern die heutigen Chef-Interpreten?
Peter Ruhenstroth-Bauer hat dieser Tage auf CARTA einen Text des Handelsblatt-Herausgebers Gabor Steingart aufgegriffen. Ein treffliches Beispiel. Steingart zweifelt in diesem, als „Premium“-Produkt vorgestellten, also laut Duden mit „besonderer, bester Qualität“ ausgestattetem Text an der Fähigkeit des SPD-Politikers Schulz zum Kanzler, weil der zeitweilig alkoholabhängig war und kein Abitur abgelegt hat. Martin Schulz werde hingegen wie ein „Erlöser“ gefeiert, mäkelt Steingart. Ein billiges, denunzierendes Spielchen im elektronischen Zweig einer Institution.
Ich stelle mir für eine Sekunde vor, dieser Martin Schulz würde tatsächlich Bundeskanzler werden, seine Leute im Kanzleramt wollten ihm bei Gelegenheit eine Runde der „Leittiere“ aus den deutschen Medien präsentieren. Und Herr Steingart fände in der Post eine Einladung zu dieser Runde. Geht er nicht hin, geht er hin? Motto der Begegnung: Kanzler trifft Erzeuger geschmacklosen Geschmieres? Schüttelt er dem neuen Kanzler die Hand, sagt: Freue mich, sie zu sehen. Alles Gute. Meine besten Wünsche begleiten sie? Hätte ein Kapitelchen im großen Buch der Peinlichkeiten verdient.
Sekunde vorbei. Noch läuft es anders. Es bildete sich eine merkwürdige, dünkelhafte „Koalition“. Denn nun hat sich auch der Herausgeber der NachDenkSeiten Albrecht Müller des Martin Schulz angenommen. Er nennt Steingarts denunziatorisch zielenden Text unter all den Berichten über Schulz eine „rühmliche Ausnahme“. Es sei „bedrückend“, im konservativen Bereich suchen zu müssen, um jemanden zu finden, der nicht der „Selbstgleichschaltung“ der deutschen Medien anheimgefallen sei.
Eigentlich ist es immer noch ein weiter Weg vom Geschrei über eine „Lügenpresse“ der Pegida-Leute bis hin zur Behauptung, die Medien stünden unter „Selbstgleichschaltung“. Müller hat die Abkürzung genommen.
Der dritte Herausgeber dieser Tage ist Stefan Aust, ein Mann anderen Kalibers als die beiden zuvor Genannten. Er beschäftigte sich am 21. November auf Welt.de mit Folgen der Bereitschaft von Frau Merkel, sich erneut um die Kanzlerschaft zu bewerben. Diese vierte Bewerbung scheint Stefan Aust bis in die Tiefen seines Seins zu erschüttern. Anders kann ich mir die Aussage nicht erklären, dass die Friedhöfe voll von Menschen lägen, die glaubten, dass ohne sie die Welt nicht leben könne.
Weil der Autor diese Ansicht so ernsthaft vertritt, ist die Frage angebracht: Stimmt das überhaupt? Antwort einer meiner Söhne, den ich zuvor gefragt hatte: Ja, wo sollen die denn sonst liegen, Papa, wenn nicht auf Friedhöfen? Und wenn die erst mal unter der Erde liegen, dann kannst du die von denen nicht mehr unterscheiden, die sich nicht für unersetzbar gehalten haben. Weil ich offenkundig ungläubig geguckt habe, wollte er mich foppen: Vielleicht liegen die gar nicht auf Friedhöfen! Sondern wurden von Teddy Roosevelt als Gelbfieberopfer in der Nähe des Panamakanals begraben, also tatsächlich unter Abbey und Martha Brewsters Kellerboden, wie in Frank Capras Streifen „Arsen und Spitzenhäubchen“ anzuschauen ist.
Ein Blick ins Handelsblatt vom 28. November, machte mir den ironischen Hinweis meines Sohnes richtig sympathisch. Denn dort las ich aus der Feder vom erwähnten Gabor St. – wieder in der Rubrik „Morning Briefing“, also mit Premium-Anspruch – die wegweisenden Sätze: „Draußen herrscht Vorweihnachtsstimmung. Im Innersten der Bundesrepublik aber werden in diesen Tagen Machtfragen gestellt.“ Draußen und drinnen? Vom Innersten zum Äußersten? Gabor ad oder post Portas? Post memoriam hominum sind solche Sätze Premium-Quatsch.
Stefan Aust vertritt im Weiteren die Meinung, dass der Wechsel das Wesen der Demokratie sei, und dass die Demokratie in Deutschland Gefahr laufe, sich aus Angst vor dem Tod (erneute Kandidatur Angela Merkels) selber das Leben zu nehmen. Das sind Worte wie Meilensteine. Schwer und schier unverrückbar. Ich glaube freilich nicht, dass der Wechsel d a s Wesen der Demokratie ist. Der Wechsel ist Teil der Demokratie. Aber muss er deswegen „das Wesen“ sein?
Wollen wir heute ernsthaft darüber debattieren, ob in Deutschland die Demokratie in der Gefahr stehe, sich selber das Licht auszublasen, weil sich eine amtierende Bundeskanzlerin noch mal bewirbt?
F.D. Roosevelt wurde 1932 zum Präsidenten gewählt, 1936 erneut, 1940 ebenfalls und 1944 wiederum. Haben die USA damals aufgehört, Demokratie zu sein? Waren sie schwach? Untätig? Unfähig? Roosevelts Regierung war so stark, dass sie Hunderttausende junge Männer nach Europa schicken konnte, um den Nazis den Garaus zu machen. Nach der vierten Wahl. Viele Tausende sind dafür gestorben. Allein im Westen, an der Grenze zu Belgien, im Hürtgenwald 12 000. Das kann, wer will, bei Kurt Vonnegut, bei Heinrich Böll oder bei Ernst Hemingway nachlesen („Über den Fluss und in die Wälder“).
Wollen wir heute ernsthaft darüber debattieren, ob in Deutschland die Demokratie in der Gefahr stehe, sich selber das Licht auszublasen, weil sich eine amtierende Bundeskanzlerin noch mal bewirbt?
Werfen wir einen Blick auf ein weiteres „Morning Briefing“. Dieses Mal auf Spiegel Online am 23. November aus der Feder des stellvertretenden Chefredakteurs Dirk Kurbjuweit; eines jugendlich gebliebenen Mannes, dem beträchtliche journalistische Fähigkeiten nachgesagt werden. Wie das Handelsblatt auch präsentiert Spiegel Online Schreibende auf kleinen, irgendwie niedlich wirkenden Portraits, nicht unähnlich jenen winzigen Jungmänner-Portraits, die in vergoldeten ovalen Medaillons steckten, und die weilend von jungen Frauen an einem Kettchen hängend um den Hals getragen wurden – manche Burschen schauen heute wie damals aus ihren Konterfeis in die Welt als hätten sie eben ihren Schulkakao verschüttet.
Kurbjuweit riet der Bundeskanzlerin, nur ja der Generaldebatte des Bundestages über den Haushalt fern zu bleiben, weil sie für das was komme eine Fehlbesetzung sei. Der Duden verbindet das Wort „Fehl…“ mit dem Eigenschaftswort „ungeeignet“ und das Wort „…besetzung“ mit dem Wort Rolle. Was bedeutet, dass die Bundeskanzlerin in dem Stück, was nach Auffassung Kurbjuweits gespielt wird, nichts zu suchen hat. Gebraucht werde, so der briefende Autor, jemand der „jenen Bürgern, die dem Rechtspopulismus zuneigen, ein Angebot macht, damit sie zurückkehren“, zurückkehrten in die Demokratie. Welcher Art oder Natur das Angebot sein sollte, erfahren „Gebriefte“ nicht.
Was könnte das sein, was Menschen in die Demokratie zurückholt? Es kann sich nicht um eine freundliche Aufforderung handeln, sich zusammen zu hocken und miteinander zu reden, also Demokraten und zeitweilige Nichtdemokraten. Solche Angebote gibt es mittlerweile zu Hauf, von Parteien, Kirchen, Bürgerinitiativen, Verbänden. Mensch muss lediglich die Lokalseiten seiner Zeitung durchblättern oder auf Facebook stöbern, um zu begreifen, dass dauernd über und mit und von Rechtspopulisten geredet wird. Ausufernd. Nicht nur auf der Ebene der gemeinen Bürger, sondern auch im Radio und erst recht bei den „Big Four“ des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, also bei Will, Plasberg, Maischberger und Illner. Wie viele Rechtspopulisten heute an lokalen Gesprächen teilhaben, weiß ich nicht. In den Talkshows sitzen sie jedenfalls ständig herum. Mich beschleicht der Eindruck, dass sich einige Rechtspopulisten in Talkshows allmählich so fühlen können wie BVB-Fans beim Heimspiel.
Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang eine WDR-Sendung am 17. November. Unter der Leitung von Bettina Böttinger redeten überwiegend Normalos zur Frage „Die da oben, wir hier unten – warum sind Trump, AfD und Co so erfolgreich?“
Da ich davon ausgehe, dass der WDR sich etwas dabei denkt, wenn er Sendungen mit einer Überschrift versieht, schaue ich mir selbige genauer an. Der Gegensatz springt ins Auge: „Die da oben“ und „wir hier unten“. „Die da oben“ – das setzt Bilder frei. Jeder hat sie im Kopf: Die Reichen und Schönen auf ihren Jachten. Die Reichen und die Szene auf den Filmbällen oder in den ersten Reihen der Preisverleihungs-Soaps. Die Herren der Banken. Politiker und – innen neben ihren Karossen, vor den Kameras. Das „Wir hier unten“ erzeugt ebenfalls Bilder. Menschen, die vor einer Tafel Lebensmittel in ihre Taschen packen. Menschen auf den Fluren der Jobcenter, Protestierende.
Ist das unser Land? Nur noch oben und unten. Das Copyright auf dieses Zerrbild hatte doch Frau Sahra Wagenknecht. Ist das Copyright auf den WDR übergegangen? Es ist jedenfalls ein Zerrbild, erzeugt vom WDR und bezahlt von all denen, die nicht im Zerrbild leben. Die Folgen waren bereits in der Sendung zu besichtigen. Irrsinn live. Der anwesende CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet antwortete auf Vorwürfe wegen einer Bürgerferne „der Politik“ mit dem Hinweis auf seinen Lebenslauf: Als sehr junger Mensch in die Partei. Mitarbeit in städtischen Gremien, Wahl in den Stadtrat, Beschäftigung mit vielen Themen. Ein Teil der WDR-Gäste anwesenden quittierte das nur noch mit Lachen. Und als eine Frau mittleren Alters sagte, sie verstünde die ständige Kritik am Land und an den Verhältnissen nicht, weil es den meisten Menschen gut gehe, jedenfalls besser als früher, erntete sie sture Ablehnung und durchaus lebhaften Protest.
Vielleicht sollten wir beim Angebot, das Herr Kurbjuweit fordert, etwas weiter ausgreifen. Vielleicht sollte eine Medaille gestiftet werden, auf die „Wir haben Dich nicht vergessen“ eingestanzt wurde. Zu verleihen an so verdiente Vorkämpfer wie Herrn Bachmann, der ja so sehr danach lechzt, ernstgenommen werden. Möglicherweise kann die Bahn AG einen Beitrag leisten: Eine Bahncard 65 für von Verlassenheit zermürbte Rechtspopulisten. Am Ende könnten dann Bands wie Faustrecht oder Absurd vor dem nächsten Fußball-Länderspiel für die National-Musik sorgen.
Ferner gestand Dirk Kurbjuweit, dass er morgens sofort aufs Smartphone gucke, um zu erfahren, was Trump mal wieder angestellt habe oder auch bei welchen Terminen Ivanka dabei gewesen sein soll und mit welcher Legitimation. Ich gestehe, dass ich morgens zuerst die Katze füttere und dann die Kaffeemaschine anwerfe. Aber wo Ivanka war (Ivanka wer?), interessiert mich nicht. Er sei daher noch nie so ratlos gewesen wie derzeit, verrät der stellvertretende Spiegel-Chef, um anschließend mit rasch wiedergewonnener, sozusagen taufrischer Gewissheit zu schreiben: „Rassistische Sprüche, wie man sie aus Trumps Lager kennt, sind kein Problem für Oettinger. Er hat schon Chinesen ‚Schlitzaugen’ genannt.“ Man mag Herrn Oettinger mögen oder nicht, ihn für den falschen Mann am falschen Platz halten. Ihn allerdings in einen Topf zusammen mit Tea Party, Ku Klux Klan und aryan Fans zu werfen, das ist ziemlich gaga. Das ist das Gegenteil von premium. Das riecht schweflig und nach faulen Eiern.
Ich brauche frische Luft nach all dem abgestandenen Zeugs, das ich konsumiert habe; bedanke mich artig im Geiste bei Professor Phelps für die Anregung. Heute lasse ich Spiegel Online und Handelsblatt links liegen, greife ins Bücherregal, schlage Hammond Innes spannendem Abenteuerroman „Tod auf Leukas“ auf. Da lese ich: „Die Sterne standen schon am Himmel. Ich ging durch Amsterdam, ohne viel auf den Verkehr zu achten. In Gedanken war ich bereits auf See.“ Jetzt geht es mir besser.
Was Sie tun können, um CARTA zu unterstützen? Folgen, liken und teilen Sie uns auf Facebook und Twitter. Oder spenden Sie an den CARTA e.V. Wenn Sie regelmäßig über neue Texte und Debatten auf CARTA informiert werden wollen, abonnieren Sie bitte unseren Newsletter.