#Experten

Journalismus in einer Post-Fact-Society

von , 10.9.12

Der aktuelle Wahlkampf in den USA ist eine weitere Wegmarke auf dem Pfad zur Post-Fact-Society, eine schwer übersehbare. Weil beide Parteien auf die Wahrheit wenig geben, wird vor allem eine Rolle nochmals wichtiger: die des Fact Checkers.

Das verändert auch den Journalismus, in zweierlei Hinsicht: Die Rolle des Faktenprüfers wandert immer mehr vom Back Office (das, was in Deutschland “Dokumentation” genannt wird), ins Front End. Und: Die Ära des in den USA bereits länger kritisierten He-said-she-said-Journalismus, bei dem einfach Standpunkte beider Seiten unkommentiert weitergegeben werden, geht ihrem Ende entgegen. Die Glaubwürdigkeitskrise der Politik sorgt also auch dafür, dass journalistische Glaubwürdigkeit neu definiert wird.

Ich möchte diese Entwicklung kurz ins Extreme weiterdenken und annehmen, dass sich künftig auch viele Institutionen und Experten in diesem freischwebenden Raum befinden, also nicht per se als glaubwürdig gelten können – was sie ja bereits heute nicht immer sind: Konsequenterweise müssten Redaktionen dann noch stärker selbst die Überprüfung und Bewertung komplexer Sachverhalte wie Modellrechnungen, Statistiken, Prognosen übernehmen.

Beim Beispiel der Altersarmutsberechnung von Ursula von der Leyen wären dann eben keine “Rentenexperten”, sondern die SZ (Disclaimer: für deren Online-Ausgabe ich arbeite) selbst die Autorität, die diese Zahlen überprüft hat. Schnell wären wir bei ganzen Abteilungen solcher “neuen” Fact Checker, deren Rolle sich nicht auf die Kontrolle der journalistischen Arbeit konzentrierte, sondern auf die Prüfung von Aussagen im öffentlichen Diskurs. Eine Medienmarke würde dann eine Art Hybrid aus Redaktion und Think Tank sein.

Natürlich ist ein solches Szenario vorerst nicht realistisch, zumal in Deutschland, wo die Medienwelt noch eine andere als in den USA ist. Allerdings sehen wir schon jetzt, dass sich viele Prüfpflichten immer weniger auf den klassischen “Experten” abwälzen lassen. Genau deshalb spielt die persönliche Community und deren Wissen für einen Autor eine so große Rolle – letztlich bilden sich durch den Dialog im Netz im Idealfall nichts anderes als Ad-Hoc-Think-Tanks.

Es gibt allerdings eine bittere gesellschaftliche Ironie, die im Begriff Post-Fact-Society mitschwingt: Alle Anstrengungen von Medienmarken, Autoren, Bloggern, ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu erreichen, ist in dem Moment vergebens, in dem der Einzelne sowieso nur das glaubt, was er glauben will.

Bereits jetzt sehen wir dies bei vielen ideologisch gefärbten Debatten, und ich bin mir sicher, dass wir auch in Deutschland in absehbarer Zeit die Figur eines Großpopulisten erleben werden, der jenseits aller Fakten argumentieren und damit Erfolg haben wird. Von der Leyens Rentenrechnung und die diversen Wendungen eines Horst Seehofer sind nur kleine Vorboten.
 
Crosspost von Kopfzeiler

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