von Klaus-Peter Schöppner, 8.9.10
Deutschland streitet wie selten. Doch die aktuelle Aufgeregtheit ist wahrscheinlich nicht nur dem Spalterthema „Migration“ geschuldet: Es tut sich grundsätzlich etwas im Meinungsklima der Bundesrepublik. Die Integrationsdebatte spaltet derzeit die Deutschen so intensiv, weil sie das grundlegende Unwohlsein vor allem der eher konservativen Kreise symbolisiert: Es geht um die immer weiter auseinanderklaffende Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Es geht um ein Diktat, das immer mehr Deutschen suspekt vorkommt: Das Diktat des Staates. Es geht um das Diktat der „Gutmenschen“.
Die von Thilo Sarrazin angestoßene Migrationsdebatte könnte die Politik in Deutschland gleich doppelt verändern. Und zwar grundlegend.
Die entscheidenden Fragen: Nimmt die Union ihre Wähler noch mit, oder tut sich etwas am rechten Parteiflügel, bildet sich da wohlmöglich eine sechste Partei?
Die zweite: Unterwerfen sich die Deutschen weiterhin dem Diktat des Wünschenswerten – und verlieren sie dabei den Sinn für das Reale immer mehr aus den Augen? Oder trauen sich nun immer mehr, auch dort offene Aussprache zu fordern, wo sie es bislang unter dem Diktat des politischen Mainstreams nicht wagten: Nämlich das für viele überbordende Sozial- und Reglementierungsdiktat in Frage zu stellen.
Gut möglich, dass das Thema Ausländer nur der aktuelle Vorbote eine neuer Bewegung, der deutschen „Tea-Party“, ist. Die eine zu „gutmenschliche“ Politik, bei der sich der Staat in alles einmischt, ablehnt. Eine, die Leistung nicht mehr anerkennt, eine die zu wenig die „Geber“ – und zu viel die „Nehmer“ berücksichtigt, eine die glaubt, man könne immer mehr von den „Rechtschaffenden“ erwarten. Deutschland ist für viele Unionswähler ungerecht geworden.
Eine Partei, die „auch Leistung muss zählen“ auf ihre Fahnen schreibt, hätte nach Umfragen ein Potential von ca. 20 Prozent.
Nie waren Unionsanhänger politisch heimatloser als derzeit: Fast ein Drittel ihrer Wähler vom September 2009 würde die CDU heute nicht wiederwählen. Aber im Gegensatz zu früher votieren die Abtrünnigen nicht mehr für andere Parteien: Jeder fünfte CDU-Wähler der letzten Bundestagswahl ist inzwischen ins Lager der Nichtwählern gewechselt.
Ein Riesen-Vakuum ist da entstanden: In Scharen wissen Konservative heute nicht mehr, wer für sie noch wählbar ist. Die fast 20 Prozent Deutschen, die sich vorstellen können, eine rechte Partei zu wählen, wollen keine extrem rechte, keine fremdenfeindliche oder Protestpartei, sondern eine Partei rechts von der aktuellen „sozialdemokratisierten“ CDU. Eine Partei, die Friedrich Merz neben Ursula von der Leyen im Kampf um die beste Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik stellt, den „normalen“ Familien politische Anerkennung einräumt, für die Energie nicht nur grün ist, die in der Bildung auch Leistung fördert, nach Tabak nicht auch noch das Bier verbietet – und in der Ausländerpolitik die Sarrazinsche Forderung nach Bringschuld einklagt.
Die Union hat als größte Volkspartei das politische Ziel der „Ambivalenz“, des gesunden Interessenausgleichs zwischen Geben und Nehmen zuungunsten ihrer Stammwähler verlassen, und wird nun dafür abgestraft. Das Geordnete, das Christliche, das Wertehaftige, die Leistung besitzen keine Lobby mehr. Die Union hat für viele klammheimlich Abschied genommen vom konservativ-christlichen Markenkern: Deutschland ist für viele Unionswähler ungerecht zu Lasten der „Rechtschaffenden“ geworden.
Der aktuelle Streit um die Migration macht das deutlich: Auch Ausländerpolitik ist ambivalent, sie sollte zu gleichen Teilen fördern wie fordern. 70 Prozent das so nicht gegeben: Migranten werden nach Bürgeransicht vom Staat weit besser behandelt, als viele andere Problemgruppen. Die Ausländer seien eine der wenigen gesellschaftlichen Gruppen, um die sich Berlin zu viel kümmert: 45 Prozent sehen sie bevorzugt, bei Arbeitslosen und Arbeitern haben nur 10, bei Alleinerziehenden nur 12 Prozent diesen Eindruck.
Zu viel Laissez-faire, verbunden mit großen Zukunftsängsten – über 80 Prozent der Deutschen erwarten für sich trotz scheinbarem Wirtschaftsaufschwung eine mittelfristige Schlechterstellung – haben bereits zu einem Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Einstellung zur Migration geführt: Noch vor zehn Jahren wollten wir vor allen die Ausländer aufnehmen, die es benötigten, heute mehrheitlich diejenigen, die wir benötigen.
So könnte die Integrationsdebatte zum Vorboten eines generellen Bewusstseins- und Artikulationswandels eher konservativer Kreise werden. Einer, der auch die eigenen Interessen wahrgenommen haben will.
Klaus-Peter Schöppner ist Geschäftsführer der TNS Emnid Politik- & Sozialforschung GmbH.