#Avantgarde

In die Arena!

von , 4.9.12

Es wird viel diskutiert in Deutschland dieser Tage. Das Land sucht nach seiner Identität. Allabendlich streiten sich kluge Köpfe mit erhitzten Gesichtern darum, was diese Gesellschaft spaltet, was sie noch eint. Politiker aller Couleur, Professoren aus Heidelberg, Autoren aus Lübeck, ehemalige Bundesbanker und zukünftige Piraten diskutieren Chancengleichheit, Privatsphäre, Migration und Zuwanderung. Journalisten und Blogger erörtern das Miteinander von Christentum und Islam, schreiben über die ewige Seuche Rassismus. Es geht um den Zusammenhalt untereinander und darum, wie weit unser Gesellschaftsverständnis gehen kann, wie weit es gehen muss, wie weit es keinesfalls gehen darf. So weit nicht schlecht.

Dieses Gesellschaftsverständnis wiederum sollte die Grundlage für das Amts-Verständnis der Entscheidungsträger bilden. Die Art, wie einige von ihnen derzeit ihr Amt ausüben, spiegelt jedoch in den Augen vieler Deutscher das Gegenteil hiervon: Nämlich das mangelnde Bewusstsein der Gewählten, ihre Wähler zu repräsentieren, woraus sich die Verpflichtung ableitet, für sie und mit ihnen zu arbeiten.

Dem entgegen steht jedoch das bisweilen kuriose Werte- und Selbstverständnis der politischen Klasse. In seiner gallertartigen Konsistenz ist es für viele nicht mehr greifbar. Tugenden wie Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit und Rechtschaffenheit verwackeln im Verlauf der Selbst-Apotheose zunehmend; zurück bleibt Götterspeise, wahlweise in den Geschmacksrichtungen Wulff, Guttenberg, Koch-Mehrin oder Röttgen.

Gleichzeitig wird die Liste der Reizthemen länger, die Komplexität nimmt zu. Stuttgart 21, Gorleben, Mindestlohn, Eurobonds. Um das Regelwerk zu Hartz IV nachzuvollziehen reicht guter Wille alleine nicht aus. Und wer sich ins Dickicht der Überlegungen zur Finanztransaktionssteuer begibt, läuft Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Dabei ist Transparenz gerade Voraussetzung für Verständnis und letztlich auch die Akzeptanz getroffener Entscheidungen: Einbezogen fühlt sich nur, wer Bescheid weiß oder sich jederzeit ein Bild machen kann von innen- wie außenpolitischen Zuständen. Das heißt für die wenigsten Bürger, selbst Politik zu betreiben, wohl aber, der Spur der eigenen Steuergelder im Wüstensand Afghanistans, Iraks oder Libyens bei Bedarf folgen zu können.

Mangelndes Verständnis zwischen Volk und Regierung führt auf Dauer zu Entfremdung. Die anfängliche Unzufriedenheit wandelt sich in Lethargie, es droht ein diffuses Gefühl der Schicksalsergebenheit oder, noch schlimmer, blankes Desinteresse: eine Demokratie, deren eigentliche Hauptdarsteller, die Bürger, zu gelangweilten Zuschauern verkommen. Das ist gefährlich. Es ist zudem beileibe keine neue Erkenntnis – wie auch die Tatsache, dass die Medien alleine dieses Defizit nicht beheben können. Ihre – wichtige – Rolle besteht darin, über die Entscheidungen der Politik zu informieren, sie kritisch zu prüfen, Konsequenzen aufzuzeigen. Vor der Entscheidung steht jedoch die Idee, auf die diese sich gründet. Neben den Politikern selbst sind daher jetzt diejenigen gefragt, die sich Ideen zum Beruf gemacht haben.

 

Der Gesellschaft sind die Intellektuellen abhanden gekommen

Es ist höchste Zeit, dass sich Deutschlands Intellektuelle ihrer Verantwortung bewusst werden. Sie müssen sich ihre Arena zurückerobern. Tatsächlich geht es darum, diese Arena neu zu erobern, denn die alte Garde demokratischer Denker hat ihre Schuldigkeit getan. Gefragt sind junge energische Ideengeber, die bereit sind, in der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit zu kämpfen.

Auch dies ist nicht neu. Schon im Herbst 2008 hatte Thea Dorn im Spiegel festgestellt, dass hierzulande die Intellektuellen „der Gesellschaft abhanden gekommen“ seien, eine traurige, aber zutreffende Beobachtung.[1] Dorn macht es sich mit der Erklärung hierfür jedoch zu einfach: Ihrer Meinung nach können es die Alten einfach besser. Da es von ihnen nicht mehr viele gebe und keine klugen, kampfeslustigen Köpfe nachwüchsen, veröde die intellektuelle Landschaft. Dorns Argumentation muss man nicht zustimmen. Wichtiger ist, dass sie durch ihren Essay in einem der führenden Magazine Deutschlands die eigene These widerlegt. Als öffentliche Intellektuelle verlässt sie ihr ursprüngliches Wirkungsfeld, in dem sie sich Expertise und einen Ruf erworben hat, und äußert sich nun prominent zu einem gesellschaftsrelevanten Thema. Die Art, wie die Autorin das Dilemma sieht, und auf was sie es zurückführt, illustriert jedoch das eigentliche Problem: die in unseren Breiten vorherrschende ungesunde Überhöhung der Intellektuellen-Tätigkeit. Der Sockel ist hoch, und es dauert ein halbes Denkerleben lang, ihn zu erklimmen. Wer seinen Platz dort oben erst einmal eingenommen hat, darf allerdings nie wieder hinuntergestoßen werden.

 

Die Heldenverehrung der Medien

Richard David Precht erkennt diesen doppelten Konstruktionsfehler. Er bezichtigt in seiner Replik auf Dorns Artikel die Medien der Heldenverehrung. In einer seit Jahrzehnten zementierten Intellektuellenkultur seien bereits alle Plätze belegt, andere Stimmen kämen gar nicht erst zum Zug. Genau dies gelingt Deutschlands derzeit öffentlichstem Intellektuellen jedoch vortrefflich – auch sein Artikel wurde im Spiegel abgedruckt, demnächst bekommt er eine eigene Sendung im ZDF.[2]

Der Fernsehphilosoph und die Autorin stehen also in diesem Punkt ihrem eigenen Argument im Weg. Gleichwohl benennt Precht das Problem, wenn er sich auch mit Lösungsvorschlägen zurückhält. Dabei registriert er die Heilserwartung, die an die wenigen verbliebenen ‚zweisprachigen’ Intellektuellen seitens der Bevölkerung herangetragen wird – so gerade auch an ihn. Auf einer Podiumsveranstaltung der Universität Heidelberg im Dezember 2011 gab Precht zu verstehen, dass ihm die öffentliche Erwartung, eine Erklärung für praktisch alle aktuellen zeitgenössischen Phänomene bieten zu können, bisweilen Angst mache. Dabei gibt die Tatsache, dass sich der Bestsellerautor als Messias für öffentliche Fragen überfordert fühlt, doch Anlass zur Hoffnung für die Situation als Ganzes: Deutschland will seine Intellektuellen. Diese Chance muss genutzt werden. Wege gibt es genug.

Knapp vier Jahre später ist die Situation hierzulande unverändert. Und genau wie vor vier Jahren stehen auch in diesem Herbst in Amerika wieder Wahlen an. Es lohnt sich, dieses Mal einen Blick über den Tellerrand zu werfen, um unser hausgemachtes Problem anzugehen. Jenseits der irrwitzigen Vorwahlschlacht und der Hahnenkämpfe zwischen Obama und Romney lässt sich derzeit das amerikanische Debattenverständnis am besten beobachten – und Einiges davon lernen.

 

Debatte heißt nicht Zerstrittenheit

Die größte Herausforderung besteht darin, der öffentlichen Debatte in Deutschland ein neues Image zu verschaffen. Noch immer ist der Streit der Meinungen negativ belegt: Es scheint schwer vorstellbar, dass Auseinandersetzung gleichzeitig kontrovers und konstruktiv sein kann. Jede Debatte ist auch ein Duell, das wird auch und gerade im angelsächsischen Ausland so wahrgenommen. Im Land der Dichter und Denker herrscht jedoch die Ansicht vor, dass dieses Duell nur auf zwei verschiedene Arten enden kann: Eine der beiden Seiten setzt sich durch und bringt die jeweils andere zum Verstummen. Der Sieger trägt die Meinungshoheit in der Streitfrage davon.

Wir übersehen dabei, dass der Sieger auch die bestmögliche Lösung des Problems sein kann. Diese Lösung kristallisiert sich in einer dritten Variante eben genau aus der Kontroverse heraus – in diesen Breiten bisher noch eine schwer vorstellbare Konstruktion, auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA, aber Teil des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Ausdrücklich eingeschlossen hierbei der politische Wanderzirkus, der alle vier Jahre aufs Neue durchs Land zieht. Dass dieses Spektakel medienwirksamer Sparrings möglich ist, gehört ebenfalls zum amerikanischen Selbstverständnis: Eine Demokratie muss und kann das aushalten.

Für die Intellektuellen stellt diese Kulanz US-amerikanischer Prägung freilich eine Herausforderung dar: wie sich abgrenzen? Manch einer macht aus der Not eine Tugend und legt sich ein neues Profil zu. Die eigene Rolle ist nun die des Moderators im Diskurs. Es ist eine offensiv ausgelegte Rolle. Die Intellektuellen nehmen selbst lebhaft an diesem Diskurs teil, inspirieren ihn, lenken ihn, formen ihn im Hinblick auf Relevanzen, und das ohne falsche Bescheidenheit. Das interessegeleitete Argumentieren, das Propagieren ‘persönlicher’ Relevanzen, gehört dazu. Die damit verbundenen Risiken werden durchaus wahrgenommen, und sie werden in Kauf genommen.

Dem amerikanischen Wildwest-Intellektualismus – wo die Cowboys gelegentlich auch übers Ziel hinausschießen – steht die verzagte Einstellung der deutschen Intellektuellen gegenüber. Zu oft sind sie die lamentierenden Barkeeper im Hintergrund, immer irgendwie im Bild, doch nie richtig zu sehen. Dieser Tage fühlen sich unsere Denker an der Siedlergrenze nicht sonderlich wohl; in ihre Rolle als Geistes-Pioniere müssen sie erst wieder hineinwachsen. Die „liebste Beschäftigung von Intellektuellen“, von der Deutschlands Vorzeigeintellektueller Jürgen Habermas zugibt, ihr selbst bisweilen nachzugehen, besteht denn auch in der „rituelle[n] Klage vom Niedergang ‚des’ Intellektuellen.“[3]

 

Die Mediendemokratie nutzen

Diese Klage ist auch in den USA zu hören, aber sie hat eine andere Klangfarbe. Da beklagen sich intellektuelle Granden wie Chomsky oder der verstorbene Howard Zinn darüber, von den Medien benachteiligt zu werden. Jean Bethke Elshtain und Francis Fukuyama klagen über dasselbe Phänomen vom anderen Ende des politischen Spektrums aus, außerdem über die liberale ‘Schieflage’ der Universitäten, die es den Konservativen schwer mache, Fuß zu fassen. Es beklagt sich Nancy Soderberg, immerhin selbst ehemaliges Mitglied der Clinton-Regierung, nicht genug Gehör zu finden in der Politik. Es beklagt sich Benjamin Barber über das Diktat der Medien, welches Meinungsbildung und Meinungsäußerung vollkommen bestimme, und dem sich unterwerfen müsse, wer wahrgenommen werden wolle.

Alle Klagen sind wahrscheinlich berechtigt. Sie führen jedoch nicht zu Resignation. Im Gegenteil: Die öffentliche Debatte ist eine Herausforderung, der man sich stellt. Teil der Herausforderung ist, dass der Saloon ständig umgebaut wird und keiner weiß, ob der Tresen noch so aussieht wie beim letzten Mal.

Es hilft nicht, dass unsere Intellektuellen die moderne Mediendemokratie noch immer nicht richtig zu nutzen wissen, zu sehr überwiegt die Angst vor dem Ausverkauf. Dabei weitet sich der öffentliche Raum gerade dramatisch aus; es kann schneller und mit mehr Menschen kommuniziert werden als je zuvor. Und während das Internet zum Gesicht – wenn auch nicht Hirn – der basisdemokratischen Gesellschaft wird, macht unseren Denkern das zu schaffen, was Habermas die „Entformalisierung der Öffentlichkeit“ und die „Entdifferenzierung entsprechender Rollen“ nennt.

Das Rad dreht sich weiter; am Ende werden die Intellektuellen einfach nicht vermisst, weil medienerprobte Politiker, Journalisten und Akademiker ihre Rolle längst besser ausfüllen: Die „Beiträge von Intellektuellen verlieren die Kraft, einen Fokus zu bilden.“ Soweit muss es nicht kommen. In den USA nutzen public intellectuals die neuen Plattformen geschickt für sich, das gilt für die Arrivierten (der erzkonservative Katholik Michael Novak, Jahrgang 1933, hat eine eigene Homepage) und für die nachrückende Generation sowieso (Mark Greif, Carla Blumenkranz und andere Thirtysomethings gründeten schon vor Jahren das Intellektuellenmagazin n+1).

 

Zwischen Einmischung und Alarmismus

Unterm Strich profitiert Amerika, das Land der nicht mehr länger unbegrenzten Möglichkeiten, noch immer von seinem weit gefassten Intellektuellen- und Öffentlichkeitsverständnis. Es bietet mehr Raum, und es bringt mehr Protagonisten hervor, die diesen Raum füllen. Zahlreichen Autoren gelingt der Spagat zwischen Harvard und Barnes & Noble, ja, sie haben offenkundig Spaß an dieser Art von Gymnastik: das Komplexe verständlich darzustellen, ohne es zu verflachen.

Noam Chomsky, Francis Fukuyama und Cornel West sind feste Größen an den besten Universitäten des Landes und in den Bestseller-Listen. Anne-Marie Slaughter lehrt in Princeton und schreibt für Reader’s Digest. Der allzu früh verstorbene Christopher Hitchens provozierte seine Studenten an der New Yorker New School und seine Leser in Vanity Fair. Der Fairness halber sei erwähnt, dass die amerikanischen Intellektuellen ihren deutschen Kollegen gegenüber einen systembedingten Vorteil besitzen: Die Drehtür der amerikanischen Politik erlaubt den vergleichsweise einfachen Übergang von der Theorie zur Praxis; diese revolving door wird viel öfter als in Deutschland durchschritten: Bei jedem Regierungswechsel in den USA erneuert sich der größte Teil des administrativen Personals, während in Deutschland nahezu der gesamte bürokratische Apparat derselbe bleibt. Viele amerikanische Denker wissen aus eigener Erfahrung, wovon sie sprechen, und begegnen so den Politikern auf Augenhöhe.

Natürlich, in der Praxis machen sich Denker angreifbar. Habermas erwähnt, dass den Intellektuellen in Deutschland oft der Vorwurf des „Alarmismus“ gemacht würde. Das ist richtig, allerdings empfiehlt ihnen der Sozialphilosoph lediglich, sich von dieser Kritik nicht „einschüchtern“ zu lassen. Bemerkenswert ist jedoch, dass eben jene Kritik auf der anderen Seite des Atlantiks selten zu hören ist. Dies soll die dortige mediale Sensationalisierung nicht verharmlosen. Es zeigt aber erneut das grundlegend andere Verständnis von Kontroverse, das in den USA für einen anderen Intellektuellen-Typ verantwortlich ist, ja diesen erst möglich macht: Erstens haben die amerikanischen Intellektuellen weniger Vorbehalte gegenüber verschiedenen Denkkategorien und Argumentationsebenen. Die Gefahr, dass dabei am Ende der Lauteste am meisten Gehör findet, darf nicht übersehen werden. Für die Spezies der meinungsstarken Krawallmacher existiert in den USA sogar ein eigener Begriff: pundits. Sich gegen diese lärmenden Populisten durchzusetzen, ist heute eine der wesentlichen Herausforderungen für Intellektuelle nicht nur in den USA. Deutschland hingegen, mit seiner selbstverordneten Debattenetikette, vergibt sich von vorneherein zu viele Chancen auf gedankliches Neuland.

Zweitens stehen Intellektuelle in den USA der Tradition nach nicht so sehr in Opposition zum Staat wie in Deutschland. Schon die Gründerväter identifizierten sich mit der ‘Idee Amerika’. Dieses Motiv stiftet Gemeinsinn, und es wird bis in unsere Zeit immer wieder aufgegriffen und variiert: Anne-Marie Slaughter, zeitweise Leiterin des Planungsstabs in Hillary Clintons Außenministerium, veröffentlichte 2007 ein Buch mit dem Titel The Idea That Is America.[4]

Und drittens erwächst aus der Vorstellung, dass das fortlaufende Ringen um die eigene Identität erst das Wesen der Nation ausmacht, eine andere Sicht auf den Streit der Meinungen: Er ist positiver konnotiert als in Deutschland. Es gibt ein Grundvertrauen in das konstruktive Potenzial – auch harter – permanenter Auseinandersetzung. Diskutiert wird, was relevant ist.

Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen – das ist es, was die Intellektuellen auszeichnet. So formulierte es Jürgen Habermas vor einem halben Jahrzehnt. An Relevanzen mangelt es auch heute sicherlich nicht. Es liegt an den Intellektuellen, selbst ebenfalls relevant zu bleiben.

 


[1]    Thea Dorn, „Deutschland, keine Denker: Warum der Gesellschaft die öffentlichen Intellektuellen abhandengekommen sind – obwohl wir sie gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten dringend brauchten.“ Der Spiegel, 42/2008.

[2]    Richard David Precht, „Sie wollen nur spielen: Warum uns neue öffentliche Denker fehlen.“ Der Spiegel, 45/2008.

[3]    Jürgen Habermas, „Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen: Was den Intellektuellen auszeichnet.“ Preisrede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das Politische Buch 2005. Universität Wien, 9.März 2006.

[4]    Anne-Marie Slaughter, The Idea That Is America: Keeping Faith with Our Values in a Dangerous World (New York: Basic Books, 2007).

 

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