#Afghanistan

Friedensnobelpreis für WikiLeaks!

von , 27.7.10

Lange Zeit hatten es die Whistleblower schwer. Sie galten als Nestbeschmutzer und Verräter, und wurden deshalb in ihrer unmittelbaren Umgebung geschnitten. Wer Interna oder Betriebsgeheimnisse der eigenen Firma „verriet“, weil diese gegen die Gesetze, die guten Sitten oder die öffentlich propagierten Firmenwerte verstoßen hatte, war zwar für Außenstehende ein Held (aus Gewissensgründen) – intern aber wurde er zum Outlaw, zum Ausgestoßenen, der beruflich nie wieder Tritt fassen würde. Es sei denn, die verratene Sache hatte eine Dimension, die nicht nur eine Firma und ihre Mitarbeiter, sondern alle etwas anging.

Als Daniel Ellsberg, ein hochrangiger Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums, im Sommer 1971 die so genannten Pentagon-Papiere an die Redaktionen der New York Times und der Washington Post schickte, versetzte er damit der amerikanischen Vietnam-Politik einen entscheidenden Schlag. Die streng geheimen Dokumente belegten auf mehr als 7000 Seiten, dass die amerikanische Öffentlichkeit über die Entwicklung und das Ausmaß der US-Kriegsführung in Vietnam systematisch von der eigenen Regierung hinters Licht geführt worden war.

Was Daniel Ellsberg vor fast 40 Jahren mit Hilfe etablierter, hochangesehener Medien gelang, erledigt heute ein kleiner mobiler Briefkasten mit Hilfe einiger Server und Laptops. Die Internetplattform WikiLeaks, hervorgegangen aus einem Computer-Hackerclub in Melbourne, Australien, aufgebaut von einer Handvoll idealistischer Leute der Generation Commodore-64, publiziert weltweit, was Regierungen, Konzerne, Parteien und kriminelle Organisationen am liebsten unter der Decke halten: brisante Dokumente über Korruptionsfälle, Waffengeschäfte, Politikerspenden, Polizeiübergriffe, Folterhandbücher, Kriegsverbrechen oder Finanzbetrügereien.

Der Vorteil für die neuen „Verräter“, die ihre Informationsangebote selbstständig auf die Internet-Plattform WikiLeaks hochladen können, liegt auf der Hand: Es gibt keine stationären Redaktionscomputer, die von der Polizei „bei Gefahr im Verzug“ beschlagnahmt werden können, es gibt keine Redakteure, die – wenn sie ihre Quellen nicht preisgeben – in Beugehaft genommen werden können, und es gibt keine Verleger, die auf Schadenersatz verklagt oder wegen Landesverrat vor Gericht gezerrt werden können – und dabei vielleicht einknicken.

Der Unsicherheitsfaktor Redaktion entfällt. Ein etabliertes Medium als Zwischenhändler wird nicht mehr gebraucht. Zwar überprüft auch WikiLeaks – wie eine ganz normale Redaktion – die hoch geladenen Dokumente vor Veröffentlichung auf Echtheit, beachtet Persönlichkeitsrechte, gewährleistet den Schutz von Unbeteiligten, stellt die Informationen in einen redaktionellen Zusammenhang, verfasst Überschriften und erklärende Vorspänne, reichert Informationen mit zusätzlichem Material an, doch die Überbringer der heiklen Dokumente spielen in dem ganzen Prozess keine Rolle. Die Gefahr, entdeckt und für das eigene Handeln zur Rechenschaft gezogen zu werden, entfällt.

Nicht ganz. Als WikiLeaks im April dieses Jahres seinen bislang größten Coup landete, wurde die Brisanz des Materials zwar weltweit beachtet (und WikiLeaks wurde mit Spenden geradezu überhäuft), doch plötzlich stand die Plattform unter einem schlimmen Verdacht. Die Veröffentlichung des Videofilms „Collateral Murder“, auf dem zu sehen ist, wie eine US-Helikopter-Besatzung im Jahr 2007 unbewaffnete Zivilisten, darunter Kinder und Journalisten, in Bagdad zusammenschießt und dabei zynische Witze reißt, brachte der „Enthüllungsplattform“ den „Supergau“. Derart harsch (und vielleicht auch etwas schadenfroh) urteilten erfahrene Journalisten, denen in der Whistleblower-Website eine echte Konkurrenz erwachsen war.

Und plötzlich war WikiLeaks nicht mehr die tolle kleine NGO, sondern eine reichlich suspekte, zur partiellen Verantwortungslosigkeit neigende Geheim-Organisation, die Spendengelder für teure Reisen verpulvert und außerhalb jeder demokratischen Kontrolle agiert. Die Reporter der großen Magazine und Zeitungen begannen zu recherchieren. Und im Netz kursierten bald Theorien und Andeutungen darüber, wer WikiLeaks insgeheim finanziere oder für bestimmte politische Zwecke benutze.

Dabei hatte es den „Supergau“ gar nicht gegeben. Der US-Soldat, der das Irak-Video an WikiLeaks gegeben haben soll, verriet sich selbst. In Chats und E-Mails hatte er sich angeblich mit der Tat gebrüstet und weitere Enthüllungen angekündigt, woraufhin ein Ex-Hacker den Mann ans US-Militär verraten habe. Bei WikiLeaks selbst hatte es keine undichte Stelle gegeben.

Trotzdem war diese Erfahrung für die junge Organisation ein Wendepunkt. Allein gegen alle – das konnte nicht funktionieren. Die Betreiber der Website sahen ein, dass sie sich öffnen und mit den etablierten Medien zusammenarbeiten mussten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, als wirrer Haufen ess- und schlafgestörter Computerjunkies abgestempelt zu werden. Denn das Image von WikiLeaks (und damit die öffentliche Sympathie oder Antipathie) hing nach wie vor zu einem Großteil von den traditionellen Medien ab.

Nach den ärgerlichen Erfahrungen mit dem Irak-Video startete WikiLeaks deshalb eine regelrechte Öffentlichkeits-Offensive. Julian Assange, der Gründer, und Daniel Schmitt, der Pressesprecher der Organisation, absolvierten eine ganze Serie von Exklusiv-Interviews. Daniel Schmitt redete mit dctp, Spiegel Online, dem Freitag; Julian Assange ließ sich von Nikki Barrowclough für den Sidney Morning Herald über sein unstetes Leben ausfragen, Raffi Khatchadourian durfte im New Yorker die Gruppendynamik und das Undercover-Leben des Inner Circle beobachten und die persönlichen Motive und Verhaltensauffälligkeiten des Gründers beschreiben, und Chris Anderson konnte den locker plaudernden Assange im Rahmen seiner TED-Gesprächsreihe einem begeisterten Publikum präsentieren.

Auch inhaltlich trug die neue Charme-Offensive Früchte. Assange, der bislang ein freches Gegenmodell zur staatstragend und harmlos gewordenen Presse aufbauen wollte (Motto: Wir werden den Journalismus neu definieren!) und auch nicht mit spöttischen Bemerkungen sparte („WikiLeaks hat mehr Dokumente veröffentlicht als die gesammelte Weltpresse“), gab sich gegenüber Anderson ungewohnt konziliant. WikiLeaks, sagte er, sei „ein Offshore-Hafen für die freie Presse“. Man setze auf Kooperation, nicht auf Konfrontation.

Gesagt, getan. Am Montag dieser Woche präsentierten der Spiegel, der Guardian und die New York Times gemeinsam und exklusiv die so genannten Afghanistan-Protokolle, Auszüge aus über 90.000 geheimen Berichten für das Pentagon. Stolz schreibt der Spiegel: „Der Londoner Guardian, die New York Times und der SPIEGEL haben das Material gründlich geprüft und mit unabhängigen Berichten verglichen. Alle drei Medien sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Dokumente authentisch sind und ein ungefiltertes Bild des Krieges bieten – aus Sicht der Soldaten, die ihn kämpfen.“

Geprüft (und ausgesiebt) hatte das Material natürlich schon WikiLeaks, aber die Organisation wollte den inzwischen eher nachrichtenarmen Blättern doch den kleinen Triumph gönnen, die Afghanistan-Dokumente mit ihren großen Zeitungsnamen verbinden zu dürfen. Es sollte noch einmal ein bisschen so aussehen wie 1971 bei den Pentagon-Papers.

Die Medienpartnerschaft mit den großen Drei war sicher der schlaueste Coup, den Wikileaks bisher landen konnte. Mit ihm ist die kleine NGO endgültig etabliert und kann nun sogar ein wenig die Bedingungen diktieren. Wie heißt es doch so unnachahmlich selbstbewusst auf der Startseite der pfiffigen Whistleblower: „Wikileaks… could become as important a journalistic tool as the Freedom of Information Act.“

Allein deshalb sollte WikiLeaks – nach US-Präsident Barack Obama – den Friedensnobelpreis bekommen. Als Peacemaker des Jahres! Und natürlich als Retter der freien Presse!

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Crosspost vom Magazin der Autoren

Update 2.2.2011: WikiLeaks ist nun tatsächlich für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen!

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