von Jan Krone, 28.12.10
1. Die Person, die mich im Jahr 2010 am meisten beeindruckt hat, ist eine Institution: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das mit seiner konsequenten Auslegung des Grundgesetzes so manche verlorene Seele im Spiel um politische Macht und Kontrolle des Bürgers wieder eingefangen hat. Nur offenbar noch nicht nachhaltig genug, da sich, besonders in der zweiten Jahreshälfte, wieder eine Reihe von Personen und Institutionen des mittelbaren öffentlichen Lebens in Deutschland (hauptsächlich Vertreter der Exekutive, aber auch der Judikative) dazu bemüßigt fühlten, scham- und ahnungslos Forderungen wie „hätte man den Zugriff auf alle Verbindungsdaten der Bürger, könnte man viel besser Verbrechen aufklären oder verhindern“ in den Raum zu stellen. Eine totalitäre Sichtweise, die den Geist der Aufklärung mit Füßen tritt. Analog könnte „man“ auch verlangen, die Pflichtkennzeichnung zur Haltbarkeit von Lebensmitteln abzuschaffen, weil es sich dann viel effizienter wirtschaften ließe.
2010 ist selbstverständlich und glücklicherweise auch das Jahr der journalistischen Gruppe Wikileaks, deren Leistung Peter Sennhauser auf netzwertig.com bereits im April auf den Punkt gebracht hat.
„Es gibt einen Grund dafür, warum Verleger, aber auch Journalisten die neue Konkurrenz der Blogger und anderer selbstautorisierter Publizisten im Internet nicht mögen: Sie erlauben sich Dinge, die in der Medienwelt aus politischen und kommerziellen Gründen tabu sind. Für manche dieser Tabus gibt es gute oder wenigstens juristische Gründe. Andere beruhen ganz einfach auf Bequemlichkeit, Kommerzdenken und der Verflechtung zwischen der ‚Vierten’ mit der realen Staatsgewalt.“
Negativ beeindruckt bin ich in diesem Sinne 2010 von politischen Administratoren und Unternehmen, besonders aus der „gesellschaftlich hoch entwickelten westlichen Welt“, die ihren Eigennutz/Machterhalt, ihre Lösungsszenarien, ihre zum Teil nur mittelbar demokratisch legitimierte Verantwortung (Staatsbedienstete im Fahrwasser der Macht von an Legislaturen gebundenen Volksvertretern) unreflektiert und angstbeißerisch kundtun.
Zusammengefasst ist der Medienwandel 2010 nicht der Wandel der Kommunikation zwischen Individuen, nicht der Wandel der Ökonomie, sondern der beginnende Wandel der Politik – und dies ist bitte im positiven Sinne zu verstehen – vom Paradigma des 20. Jahrhunderts in das des 21. Jahrhunderts. Junge Politikergenerationen der Zukunft können, anders als ihre Vorfahren, gedankenfreier, technik-affiner und gleichermaßen ohne Unsicherheit demütiger mit unverhandelbaren Grundrechtspositionen verfahren. Die Überlebensfähigkeit der Zivilisation wie die von Staaten und Staatengemeinschaften ist nicht an politische Schicksale Einzelner geknüpft. Das unterscheidet pluralistische Demokratien von autoritären und totalitären Staatsformen. Das aktuelle Beispiel Ungarn erschüttert multiperspektivisch.
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2. Das Thema, welches aus meiner subjektiven Perspektive das gesamte Jahr 2011 (und darüber hinaus) dominieren wird, sind die Veränderungen in netzpolitischen Ansätzen. Die Schlüsselrolle kann dabei den USA zufallen. Aber nur insoweit, als dass die politische Administration begreifen lernen muss, die Causa WikiLeaks als das zu sehen, was sie in Wirklichkeit ist: die Umsetzung des ur-us-amerikanischen Selbstverständnisses pluraler und freier Gesellschaften, deren Fortentwicklung nur über Transparenz und Diskussion erreicht werden kann. Der öffentlich und verdeckt transportierte Selbsthass, der sich in diesen Monaten über den Sprecher von WikiLeaks und all jene ergießt, die netzpolitisch auf Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit abstellen, ist ein Bärendienst an sich selbst. Vielleicht erkennen die USA die Chance, der Welt zu zeigen, dass man an den Freiheitsrechten, die man so gerne in der ganzen Welt einfordert, selbst am besten wachsen kann. Ungeheuer großes wie positives, heute nicht ausreichend gehobenes politisches Kapital.
Daneben bleibt es sicherlich spannend zu beobachten, ob und inwieweit sich nach einer Konsolidierung von netzökonomischen Strukturen auch eine Konsolidierung von Kommunikation einstellt. Das Stichwort lautet hier Entschleunigung. Es steht für eine sich weiter ausbildende Medienkompetenz der Nutzer. Die Entfaltung von Kommunikations- und Informationsräumen greift immer stärker in die Rückzugsräume der Individuen ein und bedrängt dort – zum Teil über das Burn-Out- oder das Too-Much-Friends-Syndrom quantifizierbar – das soziale und vegetative System unserer Existenz. Bestand das analoge Medienangebot aus überwiegend klar zuweisbaren Zeitfenstern im Tagesablauf, ist mit dem Medienwandel eine instabile Mediennutzung auf das kommunizierende Individuum eingebrochen. Meist unbemerkt oder gar gewollt und verstärkt. Ein Blick in die Vergangenheit bestätigt, dass das Neue schnell (aber zeitlich unbestimmt) wieder seinen Reiz verliert und das Individuum sich auf ein für das eigene Selbst angemessenes Zeithandeln rückbesinnt. Wenn jedoch individualkommunikative und massenmediale Anbindungen sich nicht mehr individuell steuern lassen und das Individuum letztlich nur noch Passagier der eigenen, vergangenen Unvernunft oder temporären Einlassung ist, kann Kommunikation zu einem Problem werden. Der Begriff des „Information Overkill“ ist längst eingeführt. „Communication Overkill“ ist in einem Entwicklungsstadium.
Weiter bleibt es natürlich spannend, den Medienwandel in Sachen Werbevermarktung zu verfolgen. Nein, nicht Mobile Advertising oder die mittels RFID-Technologie sprechende Plakatwand. Es geht um den Clash der Reichweiten-Branche mit dem Echtzeit-Conversion-Paradigma des Internets. Google hat es in die Breite getragen, Metro und Otto haben es bereits exekutiert, die Massenmedien scheuen noch und verteidigen die wacklige Festung der empirischen Markt- und Mediaforschung.