von Robin Meyer-Lucht, 20.9.09
Augenscheinlich grandios gelangweilt vom Wahlkampf der sonst von der F.A.Z. protegierten Parteien, umarmt Frank Schirrmacher nun mit fast schon aufgesetzt wirkender Emphase die Piratenpartei und ihr Umfeld. Sein diskursiver Trick: Zum großen feuilletonistischen Ritterschlag der Bewegung konstruiert Schirrmacher hinter der Partei ein noch viel größeres und wichtigeres Phänomen: den Nerd, den Vertreter der digital-technischen Intelligenz. (Siehe hierzu auch den vor Wochen erschienen Text von Wolfgang Michal).
Der Nerd ist für Schirrmacher nicht nur der technische Intellektuelle, er stilisiert ihn gleich zu einem neuen Achetyp unseres Gesellschaftszusammenhangs:
“Wenn wir der modernen Welt ein Gesicht geben wollen, reden wir von Wall-Street-Haien und Managern, aber wir sollten anfangen, über Nerds zu reden.”
Nerds seien eigentlich “die größte Macht der modernen Gesellschaft”, überrumpelt Schirrmacher seinem Publikum. Die Anliegen der Nerds, ihr Streit für die Grundrechte im Internet, seien “wichtig und notwendig”:
“Die Fragen, die die digitale Intelligenz stellt, sind legitim und überfällig. Dazu zählt auch das Netzsperrengesetz.”
Man sieht einen fast schon tobenden Frank Schirrmacher vor sich, kurz davor die Geisteswissenschafts- und Gentechnik-Fraktionen aus seiner Redaktion zu werfen, damit endlich die neue digitale Intelligenz sein Feuilleton füllen kann:
“Sie, die die Systeme kennen, müssen, wie seinerzeit die Renegaten der Atomspaltung, in politische Sprache übersetzen, was technisch möglich ist, was es aus uns macht und wie wir uns dagegen wehren können.”
Indem Schirrmacher den Nerd bejubelt, kann er die Bewegung hinter der Piratenpartei für hochrelevant erklären, die Partei selbst aber vorerst aussparen (“über die ‘Piraten’ lässt sich Endgültiges noch nicht sagen”). Auffällig deutlich lobt er den Piraten-Vorsitzenden: Jens Seipenbusch sei “ein Intellektueller von Format”, der sich gerade vom Nerd “in ein politisches Tier” verwandle. (Carta-Interview mit Jens Seipenbusch aus der vergangenen Woche hier).
Die Schirrmacher-Intervention kommt dabei ohne erkennbares Spiel mit Historienmenetekeln aus (anders als sein Text zum Ackermann-Essen “Ich war dabei“). Dabei hätte das Thema Piratenpartei Anlass genug geboten: Totenkopfsymbol? Schwarz? Liegt doch wirklich nahe.
Ganz ohne strategisch halbverständliche Sätze bleibt aber auch dieser Schirrmacher-Text nicht. So schreibt er etwa: “Moderne Informationstechnologien sind dezentral, aber ihrem Wesen nach bürokratisch.” Schirrmacher spielt hier die Unschärfe des Wortes ‘bürokatisch’ doch wohl mit einiger Lust aus.
In der Essenz seines Textes fordert Schirrmacher von seinem Feuilleton nichts weniger als einen “Digital Turn”: Mit der Struktur des digitalen Netzes würden die existenziellen Fragen nach der Beschaffenheit des “Großhirns moderner Gesellschaften” und nach den Möglichkeiten von Freiheit neu gestellt. Man müsse daher mit den Nerds dringend ins Gespräch kommen.
Die Erkenntnis von der gesellschaftlichen Schlüsselfunktion digitaler Netzstrukturen — und die Bereitschaft darüber auch eigene Standpunkte infrage zu stellen — ist bei Frank Schirrmacher jedoch sehr langsam gereift. Bekanntlich erweckte er noch vor zwei Jahren den Eindruck, das Internet sei “an allem schuld”. Und auch in die Debatte um Internetsperren mischt er sich erst jetzt ein, zwei Monate nach Verabschiedung des Gesetzes.