#Arbeitskräfte

Die Wirtschaftsredaktion betet zum Gott Wachstum

von , 18.8.16

Um 1960 hat sich ‚Wirtschaftswachstum’ als öffentlicher Leitbegriff etabliert“. Seither steht auch die journalistische Meinung hinter ihm – ohne Wenn, mit dünn gesätem Aber. Eine Studie über die drei Leitmedien Die ZEIT, Der Spiegel und Frankfurter Allgemeine Zeitung kommt zu aufschlussreichen Befunden.

Die erste Spiegel-Ausgabe erschien im Januar 1947. Bis 1963, also 16 Jahre lang, kam das Nachrichtenmagazin ohne das Wort Wirtschaftswachstum aus. In den Jahren von 1950 bis 1960 hat sich das Bruttosozialprodukt im deutschen Wirtschaftswunderland verdreifacht. Mehr Wachstum war später nie, mehr über Wachstum geschrieben wurde nachher immer; es scheint, je weniger Wachstum, umso öfter. Ferdinand Knauß, Redakteur der WirtschaftsWoche, hat mit Hilfe des Computers genau nachgezählt: In den 1960er Jahren wird das Wort Wirtschaftswachstum „in insgesamt 31 Spiegel-Artikeln verwendet, in den 1970ern in 235, in den 1980ern in 277 und in den 1990ern in 301 Artikeln.“ FAZ und Zeit haben mehr zu bieten, aber in den 1950er Jahren auch nicht viel. Im diesem gesamten Jahrzehnt finden sich 15 FAZ-Artikel und 43 Zeit-Beiträge mit dem Wort Wirtschaftswachstum. In den Jahren 2000 bis 2009 dagegen ist von Wirtschaftswachstum die Rede in 10.219 FAZ-Artikeln und in 1.523 ZEIT-Texten.

Das antike Athen hat Artemis verehrt als Göttin der Jagd, der Natur, des Mondes und des Wachstums. Der moderne Wirtschaftsredakteur braucht keinen Gott zwischen sich und dem Wachstum, er betet das Wachstum direkt an. Das ist die Botschaft der Studie.

Knauß belässt es nicht beim Zählen von Fliegenbeinen. Hochinteressant ist seine Diagnose, dass deutsche Journalisten den Begriff des Bruttosozialprodukts (BSP) als Messlatte des Wachstums „nicht vernehmbar reflektiert“ haben; heute wiederholt sich das unter anderem mit dem Begriff Industrie 4.0. „Das erste deutsche Bruttosozialprodukt hatten der amerikanische Ökononom John Galbraith und seine Mitarbeiter […] nach Kriegsende unter abenteuerlichen Umständen recherchiert“, schreibt Knauß. Das spätere Statistische Bundesamt habe dann ab 1948 den Auftrag erhalten, mit Hilfe der amerikanischen Berechnungsmethoden regelmäßig das BSP der Westzonen zu ermitteln. „Die Presse nimmt dieses neue Sozialprodukt sofort an“, der Begriff werde jedoch nur selten erklärt oder gar kritisch befragt. „Das Sozialprodukt, das zur beherrschenden Zahl jeder Wirtschaftsberichterstattung wurde, war selbst kein Thema der Berichterstattung.“

Zauberwort Innovation

Die Studie erinnert daran, wie der „Medienliebling Karl Schiller“ (SPD) in der Großen Koalition (1966-1969) unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ personifizierte, wie begeistert Zeit und Spiegel davon waren. Die FAZ hingegen kritisierte den „Wachstumsfetischismus“, weil es ihr zuviel Keynsianismus war. Knauß schildert, wie sich „die Krise der Großstadt“ und „die Grenzen des Wachstums“ in den drei Medien niederschlugen. „Der Begriff ‚Umweltschutz’ war vor 1969 in der FAZ, im Spiegel und in der Zeit nicht vorgekommen.“

Was rettet uns vor der Umweltzerstörung? Das Zauberwort, das Umweltschutz und Wachstum versöhnen soll, heißt Innovation. Das Erzählmuster „Rettung durch Innovation“ gehört „schon in den früher 1970er Jahren zum Standardrepertoire der zeitgenössischen Kritiker des Club of Rome“. Im Sommer 2012 schreibt ein Spiegel-Redakteur anlässlich der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio: „Die Steinzeit ist nicht aus Mangel an Steinen zu Ende gegangen […] Daran sollten wir denken, wenn uns nächste Woche die melodramatischen Appelle aus Rio des Janeiro erreichen, die Horrorstorys vom Ende des Ölzeitalters, die Legende von den Grenzen des Wachstums, die apokalyptischen Schilderungen der drohenden Klimakatastrophe“. Seit 2013 sind es die „disruptiven Innovationen“, die Wachstum und Ökologie miteinander versöhnen sollen, auf dass die Wirtschaftsredaktionen weiterhin Fortschritt durch Wachstum predigen können getreu dem rheinischen Motto: Et hätt noch emmer joot jejange. Knauß: „Das Innovationsnarrativ ist das Mittel der Wahl, um diesen Optimismus gegen alles ‚Unken’ und ‚Stänkern’ glaubwürdig zu rechtfertigen.“

Knauß hält fest, dass die immer umfangreichere wachstumskritische Literatur und der sogenannte Postwachstumsdiskurs auch in den drei untersuchten Leitmedien Widerhall finden. „Dieses Umdenken findet allerdings weiterhin vor allem in den Feuilletons und Wissenschaftsressorts statt und nur selten in den Politik- und Wirtschaftsressorts.“ Nur in der Zeit „nehmen auch Wirtschaftsredakteure aktiv an diesem Umdenken teil“. Genau an diesem Punkt zeigen sich auch die Grenzen allzu simpel gestrickter Statistik. 773 ZEIT-Artikel mit dem Suchwort Wirtschaftswachstum (inklusive Kombinationen wie „Wachstum der Wirtschaft“ oder „die Wirtschaft wächst“) findet der Computer zwischen 1990 und 1999. Von 2000 bis 2009 sind es, wie gesagt, 1.523, also doppelt so viel. Dass sich der Output der Wochenzeitung durch ZEIT Online (seit März 1996) vervielfacht hat, darauf weist ein Sternchen „inklusive Online“ noch hin. Aber dass das Wort „Wirtschaftswachstum“ eben auch in Artikeln benutzt wird, die sich kritisch damit auseinandersetzen, so simple Gedanken machen dem Fliegenbeinzählen Probleme. Freilich beweist ein Begriff seinen Stellenwert als Leitbegriff auch dadurch, dass sich die öffentliche Debatte an ihm abarbeitet.

Preisfrage: Was ändert sich am Verhalten der Wirtschaftssubjekte, der Eigentümer von Kapital, des Managements, der Arbeitskräfte, der Kunden, wenn in den Medien für oder gegen Wachstum, für oder gegen Umweltschutz, für oder gegen Innovation geschrieben wird?

 

Dieser Text erscheint auch auf oxiblog.de.

 

 


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