von Hans F. Bellstedt, 2.3.16
Geradezu fieberhaft suchen Kommunalpolitiker, Planer und Entwickler nach den letzten verfügbaren Flächen, um neue Wohngebäude zu errichten. In Berlin hat man nun einen ganz besonderen Ort zur Bebauung auserkoren – ein altes Tanköllager. Gelegen neben dem (von Vattenfall betriebenen) Kraftwerk Charlottenburg und somit direkt an der Spree, bietet das 28.000 Quadratmeter große Areal Platz für 1.100 neue Wohnungen – ein „Glücksgriff“, wie der Bezirksbaustadtrat Marc Schulte (SPD) es bei der kürzlichen Präsentation der Pläne formulierte.
Was das Projekt besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass dort keine uncharmanten Zweckbauten entstehen sollen. Vielmehr wird für die bauliche Gestaltung der Deutsche Werkbund verantwortlich zeichnen. Der 1907 gegründete Zusammenschluss von Architekten, Designern, Industriellen und Handwerkern fühlt sich dem Ziel nachhaltiger Qualität verpflichtet. Die „Durchsetzung und Verbreitung technischer Neuerungen, sozialer Wertorientierungen und ästhetischer Normen“ prägen laut Website das Handeln der Vereinigung. Und nach genau diesen Maßstäben soll am Spreeufer ein neues Stück Stadt entstehen – eine „Mustersiedlung“, bestehend aus 33 Häusern, die über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus Anregungen für das moderne Wohnen und Leben der Zukunft geben sollen.
Ästhetik? Geht gerade nicht.
Warum ist dieses Projekt so bemerkenswert? Weil gerade Berlin an vielen anderen Orten derzeit kaum die Muße hat, Aspekte wie bauliche Qualität, ökologische Nachhaltigkeit oder gar Ästhetik in den Vordergrund zu stellen. Schon vor dem Anschwellen der Flüchtlingskrise verzeichnete die Hauptstadt zuletzt jährlich rund 40.000 Zugezogene. Allein für diese war und ist es extrem schwierig, angemessenen Wohnraum zu finden. Hinzu kommen nun, allein in 2015, netto weit über 50.000 Flüchtlinge. Bis auf weiteres sind diese in Notunterkünften – Hangars am Flughafen Tempelhof, ungenutzte Verwaltungsgebäude und zahllose Turnhallen – untergebracht. Um diesen Zustand rasch zu überwinden, hat der Senat soeben mit den Berliner Bezirken eine Einigung über den Neubau von Gemeinschaftsunterkünften sowie Containerdörfern erzielt. Auf insgesamt 90 Grundstücken schaffen SPD und Union Platz für 34.000 Menschen. Wenngleich die Flüchtlingsthematik dadurch ein Stück weit entschärft werden dürfte, leistet das Programm mit Sicherheit keinen Beitrag zum Projekt „Unsere Stadt soll schöner werden“. Denn was entsteht, sind modulare Fertigbauten, ist „Platte 2.0“. Mit Ästhetik haben diese Bauten so viel zu tun wie der Flughafen BER mit professionellem Projektmanagement – Not kennt kein Gebot.
Dabei bleibt die Rückkehr zur Platte nicht auf Flüchtlingsunterkünfte beschränkt. So teilte Berlins Bausenator Andreas Geisel (SPD) vor wenigen Tagen mit, die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften wollten in den kommenden zehn Jahren (bis dahin wird Berlin vier Millionen Einwohner zählen) nicht weniger als 60.000 neue Wohnungen bauen. Kosten pro Jahr: rund eine Milliarde Euro. Auch hier setzt Berlin auf den, wie es heisst, „seriellen Wohnungsbau aus Beton“. Zwar dürfe dieser, so Geisel, nicht „langweilig und monoton“ sein. Aber an Standards für Bäder, Fenstergrößen, Treppenhäuser, Dachformen und Eingangsbereiche komme man nicht vorbei. Nur so könne man schnell bauen und die Mieten niedrig halten. Die Flächen, auf denen die Bauten errichtet werden sollen, liegen überwiegend am Rande der Stadt. Droht dort eine banlieue berlinoise? Die Grünen waren mit Kritik rasch bei der Hand: Den Senatsplanungen, so ihr baupolitischer Sprecher, fehlten der ökologische Anspruch und die notwendige Infrastruktur. Ob konstruktive Kritik oder oppositionelle Krittelei: Dass da keine behaglichen, organisch gewachsenen Kieze entstehen, liegt auf der Hand.
Zwischen Getto und Gentrifizierung
Das Dilemma, in dem jede wachsende Stadt steckt – zigtausende Wohnungen schaffen zu müssen, ohne ästhetische Ansprüche vollends über Bord zu werfen – treibt Stadtplaner, Politiker und Architekten gleichermaßen um. Die Konflikte, in die sie geraten, sind nicht von der einfachen Sorte: Dort, wo auf Qualität (oder gar Luxus, was nicht immer dasselbe ist) Wert gelegt wird und dies zu höheren Preisen führt, heißt es schnell: Ihr verjagt den einfachen Mieter, gentrifiziert das Quartier, schafft Platz für schicke SUVs und deren Besitzer. Dort hingegen, wo in kurzer Zeit Wohnraum für zigtausende geschaffen wird, ja: geschaffen werden muss, da wird vor Verunstaltung des Stadtbildes wie vor drohender Gettoisierung gewarnt – ein auswegloser Spagat?
Peter Schmal und Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum haben sich dem Thema kürzlich in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.2.2016) auf angenehm pragmatische, fast unpolitische Weise genähert. Ihre Ausgangsthese lautet, dass jede größere Stadt sich heute als „Arrival City“, als Ankunftsstadt zu begreifen habe. Ankunftsstädte sollten sich darauf einstellen, dass die Flüchtlinge von heute die „Deutschen von morgen“ seien. Dementsprechend müsse ihre Integration gefördert werden. Dabei gehe es nicht um die „schönsten Konzepte, sondern um reale Projekte. „Wir wollen“, so Peter Schmal, „die Realität abbilden“. Das beginne mit Leichtbauhallen „mit hoher Aufenthaltsqualität“ und setze sich fort in Holzmodulbauten mit unterschiedlichen Raumkonzepten, „von kleinen Zellen bis zu großzügigen Lösungen für Wohn- und Familiengemeinschaften“. Zentrales Ziel solcher Ankunftsorte müsse es sein, ihren Bewohnern die Aussicht auf Bildung, auf Arbeit, auf sozialen Aufstieg zu eröffnen – also gerade keine Gettobildung, sondern Durchgangsstation mit der Chance auf Veränderung.
Die Metropole als soziales Experiment
Heißt dies, dass das soziale Experiment, welches jede Metropole – so auch Berlin – durchläuft, am Ende gelingen kann? Vieles hängt von den verwaltungstechnischen Voraussetzungen ab: Wenn es stimmt, dass (wie Schmal und Elser sagen) in vielen Fällen nicht der Bau, sondern das Planungsrecht das Nadelöhr ist, dann ist damit eine zentrale politische Aufgabe beschrieben. Und wenn es stimmt, dass überzogene Auflagen, etwa bei der energetischen Gebäudesanierung, Investoren davon abschrecken, neu zu bauen, dann ist es nicht verwerflich, an dieser Stelle eine Atempause, ein Moratorium vorzuschlagen. Denn was nützt das energieeffizienteste Haus, wenn der Mieter hinterher die Miete nicht mehr bezahlen kann: „Warmmietenneutralität“ ist eine berechtigte soziale Idee.
Vielleicht geht es aber auch darum, Wohnen neu zu denken. Wenn es denn unbedingt eine Wohnung im Stadtkern sein soll, dann ist die Vorstellung, dass jeder Mensch Anspruch auf 60 oder mehr Quadratmeter hat, auch angesichts der dramatisch steigenden Zahl von Einpersonenhaushalten möglicherweise nicht mehr zeitgemäß. In New York eröffnet demnächst das erste Wohnhaus mit sogenannten Mikro-Apartments. Keines der Einzelobjekte verfügt über mehr als 33 Quadratmeter, einige sind gar nur 24 Quadratmeter „groß“. Damit niemand vereinsamt, zählen Gemeinschaftsräume, ein Fitnessstudio sowie eine Bibliothek zu dem Komplex. Eine ähnliche Anlage entsteht gerade am Hamburger Hauptbahnhof, wo 341 Kleinstwohnungen à 21 Quadratmeter gebaut werden. Studenten, Wochenendpendler oder temporäre Projektmitarbeiter sollen dort ihre Koffer auspacken können. Alle deutschen Großstädte, und allen voran Berlin, werden schon bald ähnliche Angebote parat halten. Zugleich zeigt das „neue Stück Stadt“, das der Werkbund auf dem erwähnten Tanklager errichten will, dass Qualität und Ästhetik nach wie vor ihren Rang haben. „Musterstadt“ neben modularer Platte – die Debatte um die Zukunft des Wohnens hat gerade erst begonnen.
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