#digitale Gesellschaft

Die Digitale Gesellschaft: Getrennt marschieren, vereint…

von , 7.5.11

Wenn ich das lange Gespräch richtig interpretiere, dann stellt sich die Situation in etwa so dar: Die Website netzpolitik.org, die seit fast zehn Jahren existiert, war bislang eine Mischung aus taz und Greenpeace. Sie bildete – zumindest in den letzten fünf Jahren – den Kristallisationskern aller im Netz und für das Netz Engagierten. Insofern ist eine Veränderung bei netzpolitik.org auch eine Aussage über die Veränderung des Netz-Milieus insgesamt.

Als Medium begleitet Netzpolitik.org zuverlässig die Ereignisse und Themen, die die Szene bewegen. Gleichzeitig agiert Netzpolitik.org in Brüssel, Berlin und anderswo als Lobby- und Kampagnenarm für die Interessen der Netznutzer. Letzteres nimmt immer mehr zu, denn die große Politik, die das Internet allmählich entdeckt, verlangt immer häufiger nach Expertisen und Stellungnahmen. Das bedeutet für die Macher von netzpolitik.org: mehr Reisen, mehr Gremiensitzungen, mehr Hintergrundgespräche, mehr Pressekontakte, mehr „policy papers“.

Bei dieser Arbeit erkannten die Netzaktivisten, dass sie gegenüber der Lobbyarbeit der anderen Seite (Bitkom, Verlage etc.) ausstattungsmäßig hoffnungslos unterlegen waren. Die andere Seite hatte Geld, eigene Büros und Spesenkonten, traf sich in guten Restaurants und übernachtete in schönen Hotels. Die andere Seite musste nicht mit Rucksack, Schlafsack und Bahncard 50 aus Berlin-Mitte anreisen. Man wollte endlich Waffengleichheit. Man wollte eine Professionalisierung. Aber wie?

 

Abschied vom heterogenen Chaos der Frühzeit

Zur Debatte standen drei Organisations-Modelle: 1. Ein Attac der digitalen Bürgerrechte, 2. ein Internet-ADAC, d.h. eine Service-Dienstleistung für Mitglieder, und 3. ein Bloggerverband als Interessenvertretung. Alle drei Modelle hatten jedoch einen entscheidenden Nachteil: Die Zusammensetzung der Beteiligten wäre nach Meinung der interviewten Netzaktivisten zu heterogen gewesen, zu unterschiedlich. Die Aktivisten, so die Befürchtung, hätten ihre ganze Kraft damit vergeudet, die unterschiedlichsten Leute unter einen Hut zu bringen (was ja die eigentliche Aufgabe von Politik ist).

Deshalb entschloss man sich, klein anzufangen. Mit Leuten, die geistig auf einer Wellenlänge liegen. Dadurch, so die Hoffnung, würde man wendig bleiben und schlagkräftig agieren können. Als Vorbilder wurden genannt: La Quadrature du Net (Frankreich), Bits of Freedom (Niederlande) und Open Rights (Großbritannien).

Das bedeutete: In Zukunft getrennt marschieren! Netzpolitik.org würde als (werbefinanzierte) taz weiterbestehen, die Digitale Gesellschaft übernähme die Rolle des (spendenfinanzierten) Greenpeace.

Der Drang zur Professionalisierung zeigt sich aber noch in einem weiteren Punkt. Die Digitale Gesellschaft will von der Umweltbewegung lernen – und ebenso vom kommerziellen Gegner! Nicht nur die Erfahrungen von Greenpeace, WWF, BUND und Nabu, sondern auch von Bitkom, Content-Allianz und GVU sollen der Digitalen Gesellschaft helfen, das eigene Messer zu schärfen. Man trennt die Verfahrenstechniken von der Moral, denn man will endlich vorwärts kommen. Man will sich auf „die Realitäten“ einlassen und meint, dafür eine „strenge und straffe“ Organisation zu brauchen, keine hierarchielos vor sich hinwabernde basisdemokratische Struktur, keinen Laberkreis, der alles ausdiskutieren möchte, keine bremsende Vielfalt, die schnelle Aktionen verhindert. Man will sich vielleicht auch verabschieden von der eigenen provinziellen Vergangenheit, in der man nur eine sympathische, aber wenig einflussreiche Nerd-Bewegung war.

Solche Absichtserklärungen fordern Kritik im Netz geradezu heraus: Kritik von ehrlich Entsetzten, aber auch von Neidern und Konkurrenten; Kritik von politischen Köpfen und von Nostalgikern.

 

Die Fraktionierung der Szene wird endlich sichtbar

Im Zeitverlauf halte ich die Gründung der Digitalen Gesellschaft für eine logische Entwicklung. Ich will zwar keine historischen Analogien bemühen, aber zumindest daran erinnern, dass sich auch die eigensinnigen Anarchoblättchen der 1970er Jahre im Laufe der Zeit in ökolinkslibertäre Alternativblätter verwandelten, dann in hedonistisch-liberale Stadtmagazine und am Ende in kulturelle Hochglanz-Anzeigenplantagen mit Kino-, Einkaufs- und Restaurantempfehlungen. Die Macher waren älter geworden, und die Professionalisierung verlangte ihren Tribut.

Ich begrüße also – anders als Robin Meyer-Lucht – die Gründung der Digitalen Gesellschaft, auch wenn ich mir als ersten Schritt eine offene Interessenvertretung für digitale Prosumenten (Nutzer & Urheber), und erst im zweiten Schritt eine feine Lobby für Gesetzesnovellierungen gewünscht hätte. Das Erstere ist natürlich schwer zu erreichen (siehe die Entwicklung der Piratenpartei).

Dass sich die Interessen der aktiven Netzbürger nach 20 Jahren Internet ausdifferenzieren und fraktionieren würden, ist nicht weiter überraschend: Nun entstehen neue Politiker, neue Firmen, Lobbyisten, Aktivisten, Außenseiter, Gegner und Abgehängte. Normalität entsteht, und sie wird – hoffentlich – eines Tages von den Nachwachsenden radikal in Frage gestellt werden.

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