#Bernhard Pörksen

Der entfesselte Skandal: Das Buch zum Kontrollverlust

von , 22.6.12

Vor knapp einem Jahr lud mich Bernhard Pörksen ein, an der Uni Tübingen einen Vortrag über den Kontrollverlust zu halten, was ich gerne annahm. Wir blieben seitdem über das Thema in Kontakt, denn Pörksen schrieb zu dieser Zeit zusammen mit seiner Mitarbeiterin Hanne Detel ein Buch über Skandale im Internetzeitalter. Während der Entstehungsphase gab es weiteren Austausch und Zusammenarbeit; so habe ich eine frühe Alphaversion des Buches lesen und kommentieren dürfen. Ich bin also befangen, was die Autoren und das Buch angeht, finde aber den Beitrag zu wichtig, als ich dass ich ihn unrezensiert lassen könnte.

In gewissem Sinne ist „Der entfesselte Skandal – Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ nun das Kontrollverlustbuch. Jedenfalls ist es das erste Buch, das die Kontrollverlustthese in Buchform in die Debatte wirft. In einem anderen Sinn ist es das aber auch wieder nicht, denn einerseits haben Pörksen und Detel ihren Kontrollverlustbegriff anders definiert, als ich es tat (dazu gleich mehr), andererseits ist das Thema, mit dem sich das Buch auseinandersetzt – der Skandal – nur ein Ausschnitt dessen, was ich alles unter dem Begriff Kontrollverlust subsumiere.

Aber genau diese Konzentration auf ein Kernthema tut dem Buch gut. Pörksen und Detel legen eine extrem lesbare Sammlung von einzelnen Fallstudien vor. Allesamt sind sie Beispiele des Kontrollverlusts auf die eine oder andere Weise, alle werden sehr detailliert beschrieben, sind sehr gut recherchiert, und erst am Schluss jeder Geschichte werden sie in den medientheoretischen Kontext gesetzt. Obwohl die Geschichten schon für sich sprechen, schaffen es die beiden Autoren durch die theoretische Anreicherung, den Blick auf das Phänomen des Kontrollverlusts auf neue Weise freizulegen.

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Fallstudien des Kontrollverlusts

Die Geschichten sind teilweise bekannt. Die Lewinsky-Affäre, die Wikileaks-Enthüllungen, die Entzauberung des Karl-Theodor zu Guttenberg, oder die plötzlich aufgetauchten Bilder aus Abu Ghraib sind jedem noch im Gedächtnis. Doch die beiden Autoren schaffen es auch hier, durch detaillierte Recherche und vor allem durch den medienwissenschaftlichen Blick auf diese Skandale, Neues zu erzählen. Nur wenige kennen die genaue Rolle des Drudge Reports während der Lewinsky-Affäre. Bis zu diesem Buch gehörte ich dazu. Die Aufarbeitung von Abu Ghraib ist so schockierend und der Umgang mit dem Medienecho so skandalös, dass sich mein Bild des Vorfalls noch mal deutlich gewandelt hat.

Aber auch – zumindest hierzulande – weniger bekannte Skandale werden ausgebreitet und seziert. Beispielsweise das schlimme Schicksal der chinesischen Austauschstudentin Wang Qianhuian an der amerikanischen Duke University, die sich bei einer “Free Tibet”-Demo um Verständigung zwischen den Fronten bemüht und durch die Dokumentation ihrer Bemühungen auf Bildern im Internet in ihrem Heimatland zur verhassten “Vaterlandsverräterin” wird. Oder die private Racheaktion eines Engländers an einem ebay-Betrüger, die immer größere Kreise zieht, bis sie dem Prangerbetreiber selbst außer Kontrolle gerät.

Es sind unterschiedliche Modi des Kontrollverlusts, die im Skandalgeschehen beobachtbar werden. Der Kontrollverlust über die Informationskanäle beispielsweise, der die Öffentlichkeit demokratisiert, aber auch die Demokratisierung der Opfer. Eine zentrale Erkenntnis des Buches: So wie jeder im Netz skandalisieren kann, kann auch jeder Opfer von Skandalen werden. Natürlich auch dabei: der Kontrollverlust über einmal ins Netz gestellte Informationen, die sich nicht wieder einfangen lassen. Aber auch alltägliche Kontrollverluste, wie das versehentliche Absenden einer Twitternachricht oder einer E-Mail, finden Eingang. Ein wesentliches Element spielt zudem die außer Kontrolle geratene Empörung vermeintlicher Massen: der Shitstorm, der sich im Netz in Windeseile zusammenbrauen kann und ebenso schnell wieder verschwindet.

Das Buch machst sich nebenher die Mühe, in kleinen Erklärkästen immer mal wieder netzbekannte Phänomene zu beschreiben, sofern sie eine Rolle in den Fällen spielen. Begriffe wie “Streisand-Effekt” oder “Shitstorm” werden dadurch auch einem nicht so netzaffinen Publikum zugänglich gemacht. Hier jedoch hätte man auch tiefer gehen können. Das Netz hat ja nicht nur die Phänomene selbst hervorgebracht und bereits eine Typologie und Terminologie für sie gefunden, sondern eigene kulturelle Muster ausgebildet, mit diesen Phänomenen umzugehen. Das Wissen im Netz um den eigenen Kontrollverlust ist im Zweifel bereits weiter fortgeschritten als die hiesige Medienwissenschaft überhaupt zu leisten im Stande wäre. Man hätte sich von diesem Wissen gerne noch großzügiger bedienen können.

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Theorien des Kontrollverlusts

Der Bogen, der all die Geschichten zusammenhält – der Kontrollverlust – wird in einem extra Kapitel behandelt. Natürlich hat der Kontrollverlust verschiedene Ursachen. Eine zentrale Ursache aber, so arbeiten die Autoren heraus, sei die der “Kontextverletzung”. Diese kann viele Formen annehmen. Wenn Informationen an Orte gelangen, für die sie nicht bestimmt sind, wenn längst vergessene Informationen in einer anderen Zeit auftauchen, wenn die Öffentlichkeit von einer kleinen Gruppe plötzlich zum Weltpublikum wird oder eine Information von Kulturraum zu Kulturraum unterschiedlich stark skandalisierbar ist; überall dort passieren Verletzungen des Kontextes. Vor den vielen möglichen Kontextverletzungen, denen das Internet durch seine ubiquitäre Verbreitung, seine Geschwindigkeit und die Permanenz seiner Speicherung den Boden bereitet, sei eben niemand mehr sicher.

Dem ist zweifellos stattzugeben. Und doch lohnt es sich, noch etwas tiefer zu graben. Was genau wird hier verletzt und wodurch? Es ist ja nicht so, als sie der Kontext etwas Gegebenes, eine feststehende Einrichtung, Institution oder ein Gesetz, auf das man sich berufen könnte. Nein, die Stabilität des Kontexts ist nichts anderes als eine reine, individuelle Erwartungshaltung eines sprechenden Subjekts. Natürlich ist diese Erwartungshaltung nicht aus der Luft gegriffen, sondern basiert auf Erfahrungen. Und hier ist der eigentliche Knackpunkt, quasi die Ursache der Ursache des Kontrollverlusts anzusiedeln:

Erstens: Die Disruptivität des medialen Wandels entwertet die bisherigen Erfahrungen, die wir mit Kommunikation gemacht haben. Das, was wir “Kontext” nennen, strahlt eine falsche Sicherheit aus. Aus der Welt der Wände, Entfernungen und zentralen Massenmedien haben wir mediale Mechanismen verinnerlicht, die in der heutigen Welt schlicht nicht mehr gelten. Dies ist aber ein zu lösendes Problem: die Erfahrungen werden sich anpassen, die bisherigen Erwartungshaltungen durch neue abgelöst. Es ist dieser Lernprozess, den wir immer wieder mit dem Begriff “Medienkompetenz” zu adressieren versuchen, den aber die Älteren von uns mindestens eben so nötig haben wie die Jüngsten.

Zweitens und entscheidender: Es fragt sich an dieser Stelle natürlich, welche neuen spezifischen Erfahrungen, und damit welche Erwartungshaltungen, die alten ablösen werden. Gibt es wirklich neue Erfahrungen mit Gesetzmäßigkeiten, auf die wir uns stützen könnten? Ich gebe gerne zu, dass ich in all der Zeit, in der ich auf verschiedene Arten im Internet publiziere, keine von diesen neuen Sicherheiten gefunden habe.
Ein Beispiel: Klar kann man sagen, dass jemand mit vielen Followern mit einem Tweet tendenziell mehr Leute erreicht, aber niemals ist gesichert, dass ein Tweet von jemandem mit wenigen Followern nicht jederzeit ein Millionenpublikum erreichen kann. Wirksame Mechanismen der Eingrenzung – zeitlich oder örtlich oder in Bezug auf das Publikum – sind nicht in Sicht. Das, was Pörksen und Detel “Kontext” nennen, hat in der digitalen Welt keine Stabilität mehr.

Drittens: „Kontext“ hat eine völlig neue Entsprechung. Dass es einem Subjekt nicht gegeben ist, sich auf einen gegebenen Kontext verlassen zu können, bedeutet nicht, dass die Interaktionen zwischen Informationen nicht weiterhin wirksam sind. Im Gegenteil! Was das Guttenplag-Wiki mit der Doktorarbeit von zu Guttenberg und Wikileaks mit den Botschafts-Depeschen gemacht hat, ist die Hervorbringung neuer Kontexte. Die plagiierten Textstellen der Doktorarbeit wurden verknüpft mit ihren Originalen, die Botschafts-Depeschen mit dem Wissen der Journalisten bedeutender Presseerzeugnisse, und allesamt wurden in den neuen Kontext einer – zumindest potentiell – weltweiten Öffentlichkeit gesetzt, wo sie ihrerseits immer neue Anschlussstellen für immer neue Kontexte generierten und bis heute generieren.

Das Erklärung “Kontextverletzung” wird dem Phänomen Kontrollverlust nicht gerecht. Das Internet generiert neue Kontexte in einer ungekannten Fülle: zwischen Menschen und Informationen, Informationen und Emotionen, und vor allem auch zwischen Informationen untereinander. Informationen zu verbinden, die vorher unverbunden waren, ist eine der Kernkompetenzen des Computers, und er tut es heute so schnell und so mächtig, dass unsere Vorstellungskraft schon nicht mehr ausreicht, die herstellbaren Kontexte zu antizipieren.

Es sind zwei Seiten einer Medaille. Die Nutzer des Internets bekommen durch die analytische Rechenpower ihrer Prozessoren und die Vernetzung untereinander die Macht, jederzeit für alles neue Kontexte zu generieren. Doch ihr Machtgewinn ist der Verlust des Individuums über die Kontrolle der Kontexte. Jeder kann Kontexte herstellen, niemand wird sie jemals wieder kontrollieren. Das ist die tiefere Bedeutung des Kontrollverlusts.

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Fazit:

Natürlich reicht dem Leser jedoch die Erklärung “Kontextverletzung” aus, um die Zusammenhänge der Fallstudien richtig einzuordnen. Eine tiefe theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kontrollverlusts kann dabei sowieso nicht das Ziel des Buches sein. Deswegen ist dieses Buch vor allem ein Gewinn. Es ist ein wunderbares Buch über den Kontrollverlust, jedoch nicht das Buch des Kontrollverlusts.

Das Buch hält sich bei aller Detailtreue und analytischen Schärfe angenehm mit einer abschließenden Wertung zurück. Es zeigt die positiven Beispiele der neuen, unkontrollierbaren Öffentlichkeit wie Guttenplag und Wikileaks ebenso wie die negativen. Das Buch versucht eben nicht, wie so viele andere, den Untergang des Abendlandes auszurufen, sondern stellt erst einmal nur fest, erzählt, beschreibt und analysiert. Und tatsächlich reicht das vollkommen. Der nackte Befund und die Beschreibung der veränderten Medienmechanismen in Zeiten des Kontrollverlusts sind aufwühlend, manchmal verstörend, und zu jeder Zeit spannend zu lesen. Ich kann das Buch nur jedem empfehlen. Es ist sowohl unterhaltsam als auch lehrreich. Es hat mich bereits in meiner Arbeit sehr inspiriert und ist mein Nachschlagwerk für Standardsituationen des Kontrollverlustes geworden.

 

Bernhard Pörksen, Hanne Detel, Der entfesselte Skandal · Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, Herbert von Halem Verlag, Köln 2012, € 19,80;

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