von Stefan Rosinski, 22.9.10
Im August, habe ich mir sagen lassen, könne es in Berkeley, Kalifornien besonders heiß sein. Andererseits ist dort so ziemlich alles klimatisiert, und so wird sich Chris Anderson vielleicht auch nur am Strand gelangweilt haben. Statt mit einer Sendepause überraschte der notorische Thesendrechsler vom Wired Magazin nämlich die – auf der Website mit „14 Millionen“ bezifferten – Leser mit quasi apokalyptischen Thesen: The Web is dead – long live the Internet!
Ganz schön starker Tobak, zu dessen Bekräftigung gerade mal ein schön designtes, aber wenig aussagekräftiges Chart beigesellt wurde. Zu sehen ist – als bunte Wanderdünen – das proportionale Nutzungsverhalten im Internet zwischen 1990 und 2010. Der durch Videos verursachte Datenverkehr ist hiernach anteilig explodiert und soll heute über 50 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachen. Diese Expansion geht zu Lasten aller anderen Nutzformen, und auch das Web als einstmals stärkster Internetdienst macht gerade nur noch knapp ein Viertel des Datenvolumens aus. Tendenz fallend.
Weitere Belege zum Ableben des WWW liefert Anderson durch Recherchen bei sich selbst. Im Schnelldurchlauf scannt er seine Tagesagenda und siehe da: zum Einsatz kommen lauter – häufig käuflich erworbene – Apps, Apps und wieder Apps. Mit dem Morgenespresso gibt es die New York Times auf dem iPad, danach mit dem gleichen Handgerät Emailcheck, Facebook und Twitter. Und so geht es fort. Bis tief in die Nacht bleibt der Webbrowser arbeitslos, schon gar die PC-Konsole, mit denen sich doch eine nichtproprietäre Welt frei erschließen ließe. „The post-Web future“, so Anderson, „is already here“.
Bis hierher wäre es nicht so dramatisch, wenn sich aus diesen wenigen Sachverhalten nicht eine anständige kulturkritische These destillieren ließe – von der Anderson allerdings offenbar selbst nicht so recht weiß, was er von ihr halten soll: Während das Web „open, free and out of control“ war, bestehe die neue Welt aus „semi closed platforms“; „eingehegten Gärten“, die Zutritt nur gegen Obolus erlauben und in denen man sich nach den Regeln des Obergärtners zu bewegen habe. Aus der gemeinfreien Erforschung einer Neuen Welt sei Business geworden, as usual: „A technology is invented, it spreads, a thousand flowers bloom, and then someone finds a way to own it, locking out others. It happens every time.” Was man dafür bekommt, sind stabil arbeitende Dienste, die den Konsumenten exakt liefern, wonach sie verlangen – und siehe da: They love it!
Warum ist es dennoch interessant, sich mit solchen Ideologieresten aus der ehemaligen Hippie-Hochburg Berkeley („blühende Blumen“) zu beschäftigen? Eine Ideologie, der nicht nur der eigene Verlagskollege Ewan Hansen mit dem Titel „How the web wins“ sofort widerspricht, sondern die im Artikel von Chris Anderson ihre eigenen unwiderstehlichen Gegenargumente produziert.
Das liest sich als: Die letzten 15 Jahre waren wie ein schöner Traum, aber nun sind wir leider erwachsen geworden und in der Realität angekommen. Und das ist auch in Ordnung so, aber man hat ja mal träumen dürfen… Interessant ist dieser Befund als Symptom. Denn hier zeigt sich einmal mehr, dass „das Internet“ tatsächlich eine „neue Welt“ ist – allerdings so neu, dass die alten Kategorien von Freiheit und Ordnung, Kapitalismus und Emanzipation mit ihren Mustern kaum in der Lage sind, adäquate Beschreibungen zu liefern.
Nach der Lektüre des sich irgendwie programmatisch gebenden Artikels von Anderson könnte man das Buch der Weltgeschichte resigniert zuklappen und zum Business as usual zurückkehren. Übrigens könnte auch Wired sein Erscheinen einstellen, denn das selbstformulierte Mission Statement hätte sich erledigt: „Wired is the first word on how ideas and innovation are changing the world. Each month in the magazine and every day online, the editors deliver a glimpse into the future of business, culture, innovation and science”. Dumm gelaufen, wenn sich das mit der Zukunft abgehakt hat, weil den Chefredakteur in den Ferien die Vision vom ewigen Zyklus des Kapitalismus erwischte!
Berlin hat gewiss nicht das sonnige Klima Kaliforniens, aber dafür ohne Übertreibung eine ziemlich unzimperliche politische Geschichte, die einige Narben hinterlassen hat. Da wird man achtsam gegenüber Behauptungen, dass es einen „natürlichen Weg der Industrialisierung“ geben soll, der da lautet: Erfindung, Propagierung, Anwendung, Kontrolle – und sich heuer in Gestalt des vor allem von Apple erfundenen, propagierten, angewendeten und kontrollierten „model of mobile computing“, dem Smartphone darstellt. Ist Apple der Ideologe, sind es die millionenfachen Nutzer – oder ist es die These? (An dieser Stelle solidarische Grüße an Jeff Jarvis!)
Cui bono? Wem nutzt es, fragt der Klassenkämpfer. Die einfache Antwort von Anderson: den Netzgiganten und digitalen Monopolisten, den neuen Kapitalisten – Eigentümer als Verbrecher an der freiheitsliebenden Menschheit.
So weit, so gut, würde er nicht selbst noch eine zweite Antwort hinterher schieben. Denn klar sei, dass es der Nutzer ist, der den Riesen riesig mache, nämlich durch seine Nachfrage. Zwar lieben wir Freiheit und Wahlmöglichkeiten; aber mindestens genauso lieben wir Dinge, die funktionieren, verlässlich und konsistent sind. Und wenn wir dafür zu zahlen hätten, so Anderson irgendwie erstaunt, dann scheine das zunehmend okay zu sein.
Wer bereit ist zu zahlen (und natürlich auch fähig), der mutiert in der Sprache Andersons flink vom „User“ zum „Consumer“. Und das ist schlecht. Schlecht ist der Kapitalismus, schlecht Metcalfe’s law (das den Wert eines Netzes mit der Zahl seiner Nutzer wachsen sieht und daher winner-takes-all-Märkte schaffe). Schlecht ist sogar – das überbietet selbst den sonst verantwortlichen Kapitalismus – die „menschliche Natur“. Denn sie folge dem einfachsten Pfad, indem sie sich für Angebote entscheide, die einfach besser arbeiten würden, „or better fit in the life“.
Die Absurdität dieser Argumentation zeigt sich von selbst. Der Haken an der Sache ist, dass sich „der Kapitalismus“ als weltweites Anwendungsverfahren solange diagnostizieren lässt, wie sich seine Symptome zweifelsfrei beobachten lassen, und das sind nach Karl Marx vor allem Ausbeutung und Klassenkampf („Profit“ ist kein spezifisches Merkmal des Kapitalismus!). Doch im Fall von Web 2.0., Apps und Internet haben wir es mit dem massenhaften Gebrauch einer Maschine zu tun, die gleichermaßen zur Produktion wie Konsumtion einlädt. Und die – wie der Soziologe Bruno Latour bemerkt hat – in verschärfter Weise ein Problem aufwirft, das alle Maschinen kennzeichnet: dass sie nie nur Mittel sind. Sie mischen sich auf unkontrollierbare Weise ein.
Neue Maschinen und Erfindungen erzeugen neue Verknüpfungen, die ihrerseits nicht sozialen Strukturen folgen, sondern diese hervorbringen können. Ein einfaches Beispiel ist die Erfindung der Dampfmaschine. Das so genannte Soziale, die Gesellschaft, der Kapitalismus fließen durch die winzigen Nervenstränge eines Organismus (der im übrigen aus sehr viel mehr als aus seinen Nerven besteht), um ihn nach Möglichkeit zu lenken. Doch in dem Moment, wo ich diesem Organismus weitere Teile hinzufüge – und das geschieht mit der Moderne in nie gesehener Weise – kommt es zu Synapsenverschaltungen, die Teile oder auch das Ganze umformatieren können. Ein ideologischer Upload, der auf das System dummerweise destabilisierend zurückwirkt.
Das Internet ist eine Plattform, die in bisher nie gesehener Art und Weise „Akteure“ (= Verfahren, Methoden, Techniken, Heuristiken) versammelt, um der Frage nachzugehen, woraus die gemeinsame Welt besteht. Damit ist nicht die ewige Welt mythologischer Kosmologien gemeint, so wenig wie die „unbestreitbaren Tatsachen“ eines naturwissenschaftlichen Positivismus. Gemeint ist die gemeinsame Welt derjenigen, die sie jeweils aktuell teilen.
Die „Gesellschaft“, sagt die progressive Soziologie, besteht aus Bewegungen, die durch das ständige Zirkulieren von Dokumenten, Geschichten, Berichten, Gütern und Leidenschaften gewoben wird. Sie ist in gewisser Weise ein gigantisches „Schreibprojekt“, mit der die Wirklichkeit betextet wird. Es gibt darin keinen Ort, der nicht-lokal ist – und keinen, der nur-lokal wäre. Etwas zu erklären, heißt hier Verknüpfungen aufzuzeigen, also ein Netzwerk aufzuzeichnen. Das ist – gerade im Fall des Internet – eine sehr viel größere Aufgabe, als es einfach mit „böser Kapitalismus“ zu etikettieren. Und schon gar nicht gibt es da irgendwo einen Ausguck namens „kapitalismuskritische Theorie“, von dem aus man das Ganze als abgetan, erledigt oder „tot“ überblicken könnte.
In seinem großartigen Buch „Wissenschaft und die moderne Welt“ stellt sich der englische Philosoph A.N. Whitehead die Frage, warum eigentlich der Erkenntnisfortschritt in der langen Zeit von den antiken Denkern bis zur Spätrenaissance so geringfügig war, verglichen mit dem, was sich dann bis heute explosionsartig ereignete. Und er kommt zu einer verblüffenden Antwort: an die Stelle der „rationalistischen Orgie“ des Mittelalters trat die Bereitschaft zur kontemplativen Betrachtung widerspenstiger und eigenwilliger Tatsachen. Dieser Gesinnungswandel war so radikal, dass er die alten Grundlagen des Denkens unverständlich werden ließ. Zentrale Begriffe wie Zeit, Raum, Materie, Elektrizität, Organismus, Gestalt, Struktur, Funktion mussten neu interpretiert werden. Und das veränderte die Welt. Nicht das Denken löste dies aus, sondern der Wechsel in der Haltung der Welt gegenüber.
Das, schreibt Whitehead, sei damals eine sehr vernünftige Reaktion gewesen; aber es war kein Protest im Namen der Vernunft. Die Frage, ob die Welt vernünftig oder unvernünftig, gut oder böse sei, überließ man fortan den Theologen. Erkenntnisfortschritt aber liegt nicht in deren Antworten, sondern in so marginalen Problemen wie, ob sich durch geduldiges Experimentieren die Halbleitergröße über das zunächst für physikalisch Machbare hinaus nicht doch schrumpfen ließe.
Vor kurzem ist in Nano Letters berichtet worden, man habe einen Durchbruch bei digitalen Switches erreicht, der es ermöglichen würde, Informationen auf Halbleitern zu speichern, ohne dass diese Energie verbrauchen würden. Es eröffne sich die Perspektive, hunderte von Kinofilmen auf einem einzigen Chip abrufbar zu machen. Meine Phantasie reicht kaum aus, mir vorzustellen, was dies für das Design unserer Hardware bedeutet – ganz zu schweigen davon, wie diese Geräte und das, was sie funktional ermöglichen, unseren Alltag verändern werden.
Ist der Kapitalismus gut oder schlecht? Ist er ein Zyklus, ein Naturgesetz, wie Anderson schreibt, oder arbeitet hier ein Format immer wieder an seiner eigenen Neuformatierung? Eine Zeit, schreibt Whitehead, ist nur dann verständlich, wenn man ihre Voraussetzungen und Folgen berücksichtigt. Das bedeutet, dass wir unsere eigene nie verstehen werden; auch Chris Anderson kann das nicht. Denn ihre Folgen sind für uns unabsehbar. Es sei denn, man beruft sich auf diesen alten Trick aus der Mottenkiste des 20. Jahrhunderts.
Aber eigentlich will das heute niemand wissen, denn jetzt geht es um ganz konkrete Fragen – so konkret wie: Kann ich die vielfältigen Services der Apps nutzen und gleichzeitig durchsetzen, dass meine Daten geschützt werden? Habe ich nach wie vor ungehindert Zugriff auf theoretisch alle Informationen des Netzes? Fragen, die von Fall zu Fall anzugehen sind, und von deren Antworten wir nicht wissen, wohin sie letztlich führen. Vielleicht ja in die kapitalistische Unfreiheit. Aber vielleicht auch nicht.